Die Anwendbarkeit des Konzernprivilegs im Rahmen von Art. 102 AEUV
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- § 1 Einleitung
- A. Problemstellung
- B. Ziel der Untersuchung
- § 2 Grundlagen des Konzernprivilegs – Unternehmensbegriff, wirtschaftliche Einheit und grundrechtliche Anknüpfung
- A. Der Unternehmensbegriff des europäischen Kartellrechts
- I. Autonomer Begriff des Unionsrechts
- II. Funktionaler Unternehmensbegriff
- 1. Relativer Unternehmensbegriff
- 2. Wirtschaftliche Tätigkeit
- a) Gewinnerzielungsabsicht und Entgeltlichkeit
- b) Dauer
- 3. Marktbezug
- a) Grundsätzliches
- b) Tätigkeiten der öffentlichen Hand
- aa) Grundsätzliche Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln
- bb) Hoheitliches Handeln vs. nichthoheitliches Handeln
- (1) Öffentliche Unternehmen nach der Transparenzrichtlinie
- (2) Rechtsprechung des EuGH
- (3) Literaturmeinungen
- cc) Die Öffentliche Hand als Abnehmer
- (1) Die FENIN-Doktrin
- (2) Kritik
- 4. Zwischenfazit
- III. Wirtschaftlich tätige Einheit
- 1. Erfordernis der rechtlichen Selbständigkeit
- a) Rechtsprechung und Kommissionspraxis
- b) Literatur
- c) Stellungnahme
- 2. Erfordernis der wirtschaftlichen Selbständigkeit
- a) Rechtsprechung und Kommissionspraxis
- b) Literatur
- c) Stellungnahme
- 3. Zwischenfazit
- IV. Unternehmensvereinigungen
- 1. Begriff
- 2. Eigene wirtschaftliche Tätigkeit der Unternehmensvereinigung
- V. Zusammenfassung zum Unternehmensbegriff
- B. Die wirtschaftliche Einheit als Voraussetzung des Konzernprivilegs
- I. Unterschiedliche Maßstäbe für die wirtschaftliche Einheit je nach Anwendungsbereich
- II. Voraussetzungen
- 1. Möglichkeit der Kontrolle
- a) (Nahezu) 100%iger Anteilsbesitz
- b) Geringere Beteiligungen
- aa) Die Praxis der Unionsorgane
- bb) Literaturmeinungen
- (1) Kontrolle nach Art. 3 Abs. 2 FKVO
- (2) Kontrolle nach Art. 5 Abs. 4 FKVO analog
- (3) Kontrolle nach mitgliedstaatlichem Gesellschaftsrecht
- cc) Stellungnahme
- c) Zwischenfazit
- 2. Anwendung auf einzelne Verbundtatbestände
- a) Alleinige positive Kontrolle
- b) Alleinige negative Kontrolle
- c) Minderheitsbeteiligung oder „faktische Kontrolle“
- d) Gemeinschaftsunternehmen
- aa) Wirtschaftliche Einheit zwischen dem GU und allen seinen Muttergesellschaften
- (1) Gemeinsame Leitungsbefugnis
- (2) Geltung auch für Vollfunktions-GU
- bb) Wirtschaftliche Einheit zwischen dem GU und nur einer Muttergesellschaft
- (1) Meinungsstand
- (2) Stellungnahme
- cc) Wirtschaftliche Einheit zwischen den Muttergesellschaften
- dd) Wirtschaftliche Einheit zwischen mehreren GU
- e) Gleichordnungskonzern
- aa) Praxis der Wettbewerbsbehörden
- bb) Literatur
- cc) Stellungnahme
- f) Sonderfall: Kontrolle durch Nicht-Unternehmen
- aa) Rechtsprechung
- bb) Literatur
- cc) Stellungnahme
- g) Zwischenfazit
- 3. Notwendigkeit der tatsächlichen Kontrollausübung?
- a) Haftungsfälle
- b) Konzernprivileg
- aa) Rechtsprechung
- bb) Literatur
- cc) Stellungnahme
- c) Sonderfall: GU und Gleichordnungskonzerne
- III. Zusammenfassung zur wirtschaftlichen Einheit
- C. Die wirtschaftlichen Freiheitsrechte als Ausgangspunkt für das Konzernprivileg
- I. Das Recht auf unternehmerische Freiheit
- 1. Inhalt des Rechts auf unternehmerische Freiheit
- 2. Keine subjektive Garantie der Wettbewerbsfreiheit
- 3. Geltung für juristische Personen des öffentlichen Rechts
- II. Das Recht auf Eigentum
- 1. Grundrechtsträger
- 2. Inhalt des Rechts auf Eigentum
- III. Bedeutung für das Konzernprivileg
- IV. Zwischenfazit
- § 3 Herleitung des Konzernprivilegs
- A. Herleitung aus dem Unternehmensbegriff
- I. Rechtsprechung und Kommissionspraxis
- II. Literaturmeinungen
- III. Stellungnahme
- IV. Zwischenfazit
- B. Herleitung aus dem Tatbestand des Art. 101 AEUV
- I. Herleitung aus dem Tatbestandsmerkmal der Absprache
- 1. Literaturmeinung und Kommissionspraxis
- 2. Stellungnahme
- II. Herleitung aus dem Tatbestandsmerkmal der Wettbewerbsbeschränkung
- 1. Literaturmeinung
- 2. Stellungnahme
- C. Herleitung aus dem Schutzgut des unverfälschten Wettbewerbs
- D. Zusammenfassung zur Herleitung des Konzernprivilegs
- § 4 Das Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV als Anwendungsbereich des Konzernprivilegs
- A. Einordnung des Konzernprivilegs in den Kontext des Art. 102 AEUV
- B. Struktur des Missbrauchstatbestands im europäischen Kartellrecht
- I. Marktbeherrschende Stellung
- 1. Sachlich relevanter Markt
- 2. Räumlich relevanter Markt
- 3. Marktbeherrschung
- a) Einzelmarktbeherrschung
- aa) Marktstruktur
- bb) Unternehmensstruktur
- cc) Marktverhalten
- dd) Zwischenfazit
- b) Marktbeherrschung durch mehrere Unternehmen
- aa) Kartelle
- bb) Konzerne und wirtschaftliche Einheit
- cc) Oligopolistische Reaktionsverbundenheit
- dd) Zwischenfazit
- 4. Beherrschung des Binnenmarkts oder eines wesentlichen Teils desselben
- II. Missbrauch
- 1. Systematik
- 2. Kausalitätserfordernis
- a) Kausalität zwischen marktbeherrschender Stellung und missbräuchlichem Verhalten
- b) Kausalität zwischen missbräuchlichem Verhalten und Wettbewerbsbeeinträchtigung
- c) Zwischenfazit
- 3. Fallgruppen missbräuchlichen Verhaltens
- a) Ausbeutungsmissbrauch
- aa) Preismissbrauch
- bb) Konditionenmissbrauch
- b) Marktstrukturmissbrauch
- c) Behinderungsmissbrauch
- aa) Wettbewerbswidrige Marktverschließung
- bb) Preisbezogener Behinderungsmissbrauch
- III. Wirkung und Zweck der Missbrauchshandlung
- 1. Rechtsprechung
- 2. Literaturmeinungen
- 3. Stellungnahme
- 4. Zwischenfazit
- IV. Rechtfertigung
- 1. Objektive Umstände
- 2. Effizienzgewinne
- 3. Zwischenfazit
- C. Mögliche Anwendungsfälle des Konzernprivilegs im Rahmen des Art. 102 AEUV
- I. Durch die Muttergesellschaft veranlasstes missbräuchliches Verhalten
- 1. Situation
- 2. Bisherige Praxis der Unionsorgane
- II. Schädliche Verhaltensweisen im Konzernbinnenbereich
- 1. Situation
- 2. Bisherige Praxis der Unionsgerichte
- III. Ungleichbehandlung von konzernzugehörigen und externen Unternehmen
- 1. Relevante Tatbestandsalternativen
- a) Diskriminierung von Handelspartnern
- aa) Handelspartner
- bb) Anwendung unterschiedlicher Bedingungen auf gleichwertige Leistungen
- cc) Benachteiligung im Wettbewerb
- (1) Meinungsstand
- (2) Stellungnahme
- b) Geschäftsverweigerung
- aa) Voraussetzungen
- (1) Objektive Notwendigkeit
- (2) Wahrscheinlichkeit der Ausschaltung des Wettbewerbs
- (3) Wahrscheinlichkeit eines Verbraucherschadens
- bb) Fallgruppen
- (1) Abbruch von Geschäftsbeziehungen
- (2) Verweigerung der Geschäftsaufnahme
- (3) Die essential facilities-Doktrin
- (a) Bestehen zweier Märkte
- (b) Wesentliche Einrichtung
- (c) Verweigerung des Zugangs
- (d) Rechtfertigung
- (4) Lizenzverweigerungen
- (a) Zusatzkriterium: Verhinderung eines neuen Produkts
- (b) Sonderfall: Standardessentielle Patente
- 2. Bisherige Praxis der Unionsorgane
- IV. Zwischenfazit
- § 5 Die Anwendung des Konzernprivilegs im Rahmen des deutschen Missbrauchstatbestands
- A. Struktur des Missbrauchstatbestands im deutschen Kartellrecht
- I. Einleitung
- 1. Änderung der Normenstruktur durch die 8. GWB-Novelle
- 2. Verhältnis zu Art. 102 AEUV
- II. Marktbeherrschende Stellung
- III. Missbrauch
- B. Anwendungsfälle des Konzernprivilegs im Rahmen des § 19 GWB
- I. Diskriminierung und Behinderung nach § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB
- 1. Diskriminierung
- a) Grundsätzliches
- b) Anknüpfung des Konzernprivilegs
- aa) Gleichartiges Unternehmen
- (1) Bisherige weite Auslegung
- (2) Auslegung nach der Neufassung durch die 8. GWB-Novelle
- bb) Sachlich gerechtfertigter Grund
- (1) Grundsatz
- (2) Anwendung auf das Konzernprivileg
- c) Zwischenfazit
- 2. Unbillige Behinderung
- a) Begriff der Behinderung
- b) Unbilligkeit – Anknüpfung des Konzernprivilegs
- 3. Zwischenfazit
- II. Zugangsverhinderung nach § 19 Abs. 2 Nr. 4 GWB
- 1. Tatbestandsvoraussetzungen
- a) Normadressat und Marktbeherrschung
- b) Zugangsnotwendigkeit zu einem Netz oder einer Infrastruktureinrichtung
- 2. Sachliche Rechtfertigung – mögliche Anknüpfung des Konzernprivilegs?
- C. Zusammenfassung zur Anwendung des Konzernprivilegs im Rahmen des deutschen Missbrauchstatbestands
- § 6 Umsetzung: Das Konzernprivileg im Rahmen des Art. 102 AEUV
- A. Voraussetzungen
- I. Wirtschaftliche Einheit
- II. Förderung der eigenen Konzerninteressen
- B. Tatbestandlicher Anwendungsbereich des Konzernprivilegs in Art. 102 AEUV
- I. Durch die Muttergesellschaft veranlasstes missbräuchliches Verhalten
- 1. Rechtliche Einordnung
- 2. Zwischenfazit
- II. Schädliche Verhaltensweisen im Konzernbinnenbereich
- 1. 100%ige Tochtergesellschaften
- 2. Gemeinschaftsunternehmen
- 3. Zwischenfazit
- III. Ungleichbehandlung von konzernzugehörigen und externen Unternehmen
- 1. Diskriminierung von Handelspartnern
- a) Kritische Literaturstimmen
- b) Stellungnahme
- c) Zwischenfazit
- 2. Geschäftsverweigerung
- a) Verweigerung der Geschäftsaufnahme
- b) Abbruch von Geschäftsbeziehungen
- c) Essential facilities
- d) Lizenzverweigerung
- e) Zwischenfazit
- IV. Zusammenfassung zum tatbestandlichen Anwendungsbereich des Konzernprivilegs in Art. 102 AEUV
- C. Anknüpfungspunkte für das Konzernprivileg
- I. Anknüpfung beim Unternehmensbegriff
- 1. Ungleichbehandlung von konzernzugehörigen und externen Unternehmen
- 2. Schädliche Verhaltensweisen im Konzernbinnenbereich
- 3. Zwischenfazit
- II. Anknüpfung beim Tatbestandsmerkmal der Wettbewerbsbeschränkung
- 1. Schädliche Verhaltensweisen im Konzernbinnenbereich
- 2. Ungleichbehandlung von konzernzugehörigen und externen Unternehmen
- 3. Zwischenfazit
- III. Anknüpfung beim Schutzgut des unverfälschten Wettbewerbs
- IV. Zusammenfassung zur Anknüpfung des Konzernprivilegs und Stellungnahme
- D. Grenzen des Konzernprivilegs
- I. Spezielle Ausnahmefälle
- 1. Unternehmerische Tätigkeiten der öffentlichen Hand
- a) Deutsches Recht
- aa) Schilderprägerfälle
- bb) Zwischenfazit
- b) Europäisches Recht
- aa) Die Rechtssache GT Link
- bb) Die Kommissionsentscheidung La Poste
- c) Zusammenfassung zu den unternehmerischen Tätigkeiten der öffentlichen Hand
- 2. Sektorspezifisches Regulierungsrecht
- a) Deutsches Recht
- aa) Regulierungsrechtliche Regelungen
- bb) Die Entscheidung Stadtwerke Dachau
- cc) Zwischenfazit
- b) Europäisches Recht
- aa) Regulierungsrechtliche Vorschriften
- bb) Die Kommissionsentscheidung Deutsche Telekom
- c) Zusammenfassung zum sektorspezifischen Regulierungsrecht
- 3. Wertungen anderer Rechtsbereiche
- a) Einfachgesetzliche Normen
- aa) Die Entscheidung Importarzneimittel
- bb) Die Entscheidung Bahnhofsbuchhandel
- b) Unionsrecht
- c) Zwischenfazit
- II. Allgemeinverbindlicher Maßstab
- 1. Deutsches Recht
- a) Rechtsprechung
- aa) Die Entscheidung Kraftwagen-Leasing
- bb) Die Entscheidung Stuttgarter Wochenblatt
- cc) Die Entscheidung Toyota II
- dd) Die Entscheidung Aktionsbeträge
- b) Literatur
- c) Zusammenfassung zur deutschen Praxis
- 2. Übertragung auf das europäische Recht
- a) Kriterium der Drittwirkung
- aa) Rechtsprechung und Literaturmeinungen
- bb) Stellungnahme
- b) Verwirklichung eines eigenständigen Missbrauchstatbestands
- aa) Vorschlag
- bb) Stellungnahme
- (1) Kosten-Preis-Schere
- (2) Marktmachtüberwälzung durch Geschäftsverweigerung
- 3. Sonderfall: Schädliche Verhaltensweisen im Konzernbinnenbereich
- III. Problem: Geltung auch für unternehmensbezogenen Begriff des Konzernprivilegs?
- IV. Zusammenfassung zu den Grenzen des Konzernprivilegs
- E. Prüfungsschema
- I. Herleitung aus dem Unternehmensbegriff
- 1. Marktbeherrschende Stellung
- 2. Missbrauch
- a) Handelspartner: Konzernprivileg
- b) Keine Ausnahme von der Anwendung des Konzernprivilegs
- 3. Ergebnis
- II. Herleitung aus dem Tatbestandsmerkmal der Wettbewerbsbeschränkung
- 1. Marktbeherrschende Stellung
- 2. Missbrauch
- a) Handelspartner
- b) Anwendung unterschiedlicher Bedingungen auf gleichwertige Leistungen
- c) Benachteiligung im Wettbewerb: Konzernprivileg
- d) Ausnahme von der Anwendung des Konzernprivilegs
- 3. Ergebnis
- III. Herleitung aus dem Schutzgut des unverfälschten Wettbewerbs
- 1. Marktbeherrschung
- 2. Missbrauch
- a) Handelspartner
- b) Anwendung unterschiedlicher Bedingungen auf gleichwertige Leistungen
- c) Missbräuchlichkeit: Konzernprivileg
- d) Ausnahme von der Anwendung des Konzernprivilegs
- e) Ergebnis
- § 7 Befund und Fazit
- A. Befund
- B. Fazit
- Literaturverzeichnis
← 20 | 21 →§ 1 Einleitung
Das europäische Wettbewerbsrecht kennt zwei zentrale Verbotstatbestände: das Kartellverbot in Art. 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union („AEUV“) und das in Art. 102 AEUV verankerte Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung. Während es beim Kartellverbot darum geht, wettbewerbswidrige Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen zwischen mehreren Marktteilnehmern zu unterbinden, zielt Art. 102 AEUV auf einseitige Maßnahmen besonders marktstarker Unternehmen ab, die dazu geeignet sind, den freien Handel zu beeinträchtigen.
Beide Normen folgen dem übereinstimmenden Regelungsziel der Aufrechterhaltung eines wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Markts der Europäischen Union. Die Normadressaten beider Regelungen sind Unternehmen, ohne dass der Unternehmensbegriff jedoch im europäischen Kartellrecht legal definiert wäre. Der heute als nahezu allgemein anerkannt geltende funktionale Unternehmensbegriff hat sich aus der Entscheidungspraxis der Europäischen Kommission und der Rechtsprechung der Unionsgerichte entwickelt. Er gilt für alle Bereiche des europäischen Kartellrechts, also sowohl für Kartell- und Missbrauchsverbot als auch für die Fusionskontrolle nach der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 („FKVO“).
Ein sich in diesem Zusammenhang zwangsläufig stellendes Problem ist der Umgang mit Unternehmensverbünden, die sich aus mehreren Einzelgesellschaften zusammensetzen. In einer Welt stetig fortschreitender Globalisierung nimmt die Entstehung großer Konzerne zu. Während die individuelle Ausgestaltung der gesellschaftsrechtlichen Verbundenheit unterschiedlichste Ausprägungen haben kann, stellt sich die generelle Frage, wie dieser Verbundenheit im Rahmen kartellrechtlicher Vorschriften Rechnung zu tragen ist.
Zur Erfassung derartiger Konzernsachverhalte haben die Europäische Kommission (auch „Kommission“) und die europäischen Gerichte den Begriff der „wirtschaftlichen Einheit“ entwickelt, wonach verbundene Gesellschaften unter bestimmten Voraussetzungen als ein einziges Unternehmen betrachtet werden. Das dahinter stehende Prinzip ist die angemessene Berücksichtigung der mit den unternehmerischen Verflechtungen einhergehenden Ressourcen- und möglichen Marktmachtaddition. Die Folgen dieser Betrachtung sind vielfältig und schlagen sich in allen Anwendungsbereichen des europäischen Kartellrechts nieder: Im Kontext der Fusionskontrolle werden Umsätze und Marktanteile von ← 21 | 22 →derart verbundenen Unternehmen wechselseitig zugerechnet; ähnlich kann in die Marktmachtbetrachtung bei Art. 102 AEUV die gesamte wirtschaftliche Einheit einbezogen werden; im Rahmen von Art. 101 AEUV führt die Annahme einer wirtschaftlichen Einheit dazu, dass etwa die Konzernmuttergesellschaft für Kartellverstöße ihrer Tochtergesellschaften bußgeldrechtlich haften muss.
Die Annahme einer wirtschaftlichen Einheit hat jedoch auch Auswirkungen auf das Binnenverhältnis zwischen den miteinander verbundenen Unternehmen. Neben möglichen Regressansprüchen wegen Kartellverstößen einzelner Konzerngesellschaften ist das wichtigste Element der wirtschaftlichen Verflechtung das sogenannte „Konzernprivileg“. Dieser bislang fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem Kartellverbot diskutierte Begriff besagt, dass grundsätzlich kartellrechtswidriges Verhalten, wie etwa Preisabsprachen oder Gebietsaufteilungen, keinen Verstoß darstellen, sofern sie zwischen konzernverbundenen Unternehmen stattfinden. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die innere Ausgestaltung von Konzernbeziehungen Teil der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit ist und jedenfalls keinen unmittelbaren Bezug zum freien Markt hat.
Die Herleitung des Konzernprivilegs ist umstritten. Nahezu allen bislang vertreten Theorien ist jedoch gemein, dass sie an Tatbestandsmerkmale des Art. 101 AEUV anknüpfen und das Prinzip des Konzernprivilegs damit a priori ausschließlich beim Kartellverbot ansiedeln. Damit geht einher, dass auch die europäischen Entscheidungsorgane in Fällen, in denen sie über einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV zu entscheiden haben, das Konzernprivileg regelmäßig mit keinem Wort erwähnen. Nur sehr vereinzelt wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass vor dem Hintergrund eines einheitlichen Unternehmensbegriffs und dem bei Art. 102 AEUV ebenso relevanten Begriff der wirtschaftlichen Einheit das Konzernprivileg auch im Rahmen des Missbrauchsverbots zur Anwendung kommen kann. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dieser Frage hat bislang jedoch nicht stattgefunden.
Dabei kann das Konzernprivileg auch im Kontext des Missbrauchstatbestands durchaus Relevanz entfalten. Das teilweise vorgebrachte Argument, das Konzernprivileg komme deshalb bei Art. 102 AEUV nicht zum Tragen, weil es sich dort um einseitige Maßnahmen handelt, geht fehl. Mit dem Verbot der Diskriminierung von Handelspartnern in Art. 102 Abs. 2 c) AEUV beinhaltet das Missbrauchsverbot einen Tatbestand, in dem mindestens drei Parteien involviert sind. Im Rahmen dieses Tatbestands kann eine Bevorzugung oder Ungleichbehandlung konzernangehöriger Gesellschaften im Vergleich zu externen Handelspartnern die Frage nach einer möglichen Binnenprivilegierung aufwerfen. Die Relevanz dieses Problems zeigt sich auch daran, dass etwa im ← 22 | 23 →deutschen Kartellrecht die Prüfung und Anwendung des Konzernprivilegs beim Missbrauchstatbestand (§§ 19, 20 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen „GWB“) seit Jahrzehnten höchstrichterlich anerkannt ist.
Die vollständige Vernachlässigung des Konzernprivilegs bei Art. 102 AEUV stellt einen nicht nachvollziehbaren Systembruch dar, wenn, wie es die Europäische Kommission und die Gerichte propagieren, das europäische Kartellrecht einem einheitlichen Zweck folgt und den Artt.101 und 102 AEUV derselbe Unternehmensbegriff zugrunde liegt.
Die folgende Arbeit hat zum Ziel, die Bedeutung des Konzernprivilegs im Rahmen des europäischen Missbrauchstatbestands zu beleuchten. Dabei soll insbesondere untersucht werden, ob für die bisherige Nichtanwendung des Konzernprivilegs durch die Europäische Kommission und die europäischen Gerichte eine sachliche Rechtfertigung besteht oder ob das Prinzip wie beim Kartellverbot auch für Art. 102 AEUV Geltung entfalten muss.
Im ersten Teil der Arbeit (§ 2) werden zunächst die Grundlagen des Konzernprivilegs dargestellt. Ausgehend von dem allgemein gültigen funktionalen Unternehmensbegriff des europäischen Wettbewerbsrechts, widmet sich die Arbeit den noch immer umstrittenen Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Einheit, die als Bedingung für das Konzernprivileg unabdingbar ist. Es soll zudem auf die in der europäischen Grundrechtecharta verankerten wirtschaftlichen Grundfreiheiten eingegangen werden, die als verfassungsrechtliche Herleitung für die Idee einer Konzernbinnenprivilegierung betrachtet werden können.
In § 3 widmet sich die Arbeit der Herleitung des Konzernprivilegs. Die Tauglichkeit der bislang vertreten Theorien, die sämtlich an Tatbestandsmerkmalen des Kartellverbots anknüpfen, wird hinterfragt und ein eigener Vorschlag zur Begründung des Konzernprivilegs entwickelt. Im Folgenden (§ 4) wird untersucht, ob das Missbrauchsverbot nach Art. 102 AEUV grundsätzlich einen Anwendungsbereich für das Prinzip des Konzernprivilegs bietet. Zu diesem Zweck wird die Struktur der Norm kurz dargestellt und mögliche Anwendungsfälle des Konzernprivilegs identifiziert.
Bevor die tatsächliche Umsetzbarkeit anhand konkreter Missbrauchstatbestände untersucht wird, geht § 5 auf die deutsche Rechtsprechung ein, die das Konzernprivileg in ständiger Praxis auf das Missbrauchsverbot nach §§ 19, 20 GWB anwendet.
In § 6 erfolgt schließlich die eigentliche Anwendung des Konzernprivilegs auf das Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV. Der tatbestandliche Rahmen ← 23 | 24 →wird konkretisiert und die Umsetzbarkeit auf der Grundlage der verschiedenen Anknüpfungspunkte zur Herleitung des Konzernprivilegs untersucht. Anschließend werden die Grenzen der Privilegierung aufgezeigt, um so zu einem angemessenen Rahmen für die Geltung des Konzernprivilegs im europäischen Kartellrecht zu kommen. Im Dienste der praktischen Umsetzung werden die Ergebnisse in das Prüfungsschema des Art. 102 AEUV eingefügt und unter § 7 in einem Fazit zusammengefasst.
← 24 | 25 →§ 2 Grundlagen des Konzernprivilegs – Unternehmensbegriff, wirtschaftliche Einheit und grundrechtliche Anknüpfung
Das Konzernprivileg besagt, dass innerhalb eines zu einer wirtschaftlichen Einheit verbundenen Konzerns die Anwendbarkeit kartellrechtlicher Verbotsvorschriften ausgeschlossen ist. Daher fallen Absprachen zwischen konzernzugehörigen Unternehmen, etwa über Preise oder Absatzgebiete, nicht unter Art. 101 Abs. 1 AEUV. In Bezug auf das Kartellverbot ist dies ein inzwischen allgemein anerkanntes Prinzip des europäischen Wettbewerbsrechts.1 Im Rahmen des Verbots des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV hingegen findet das Konzernprivileg in der europäischen Rechtspraxis bislang nahezu keine Berücksichtigung.2
Zum Verständnis des Konzernprivilegs müssen zunächst die rechtlichen Grundlagen kurz dargestellt werden. Dies umfasst sowohl die grundrechtliche Herleitung für die Privilegierung von Konzernunternehmen als auch die wesentlichen Begriffe des „Unternehmens“ und der „wirtschaftlichen Einheit“ im europäischen Kartellrecht.
Beide Begriffe sind in ihren Details höchst umstritten. Dies betrifft insbesondere die zahlreichen Aspekte zum Inhalt des Unternehmensbegriffs, etwa in Bezug auf Arbeitnehmer, soziale Tätigkeiten, Aufgaben der öffentlichen Hand oder freie Berufe. Im Hinblick auf den Schwerpunkt der Arbeit wird sich die folgende Darstellung auf einen kurzen allgemeinen Teil zum Unternehmensbegriff und die für die hiesige Bearbeitung relevante Frage der Unternehmenseigenschaft von öffentlich-rechtlichen und sozialen Tätigkeiten beschränken.
A. Der Unternehmensbegriff des europäischen Kartellrechts
I. Autonomer Begriff des Unionsrechts
Das Kartellrecht richtet sich an Unternehmen und Unternehmensvereinigungen. Eine Legaldefinition des Begriffs „Unternehmen“ findet sich allerdings weder in den europäischen Verträgen, Richtlinien und Verordnungen, noch im deutschen ← 25 | 26 →GWB.3 In anderen Bereichen der Rechtsordnung, wie etwa in § 14 BGB existiert zwar eine Definition, diese ist jedoch nach ganz herrschender Meinung schon für das deutsche Recht nicht allgemeinverbindlich.4 Vielmehr wird der Unternehmensbegriff als Zweckbegriff verstanden, dessen Bedeutung nur im Zusammenhang mit dem jeweiligen spezifischen Gesetzeszweck zu bestimmen ist.5
Auf der Ebene des europäischen Kartellrechts können nationalrechtliche Ansätze ohnehin keine Geltung beanspruchen, da der Unternehmensbegriff des EU-Kartellrechts als „autonomer Begriff des Unionsrechts“ verstanden wird, dessen einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten eine unabhängige Bestimmung erfordert.6 Diese hat sich ausschließlich an Ziel und Zweck des europäischen Kartellrechts zu orientieren.
II. Funktionaler Unternehmensbegriff
Das Ziel des EU-Kartellrechts ist es, den Binnenmarkt der Europäischen Union vor Wettbewerbsbeschränkungen und Wettbewerbsverfälschungen jeglicher Art zu schützen und einen freien, redlichen und wirksamen Wettbewerb zu gewährleisten.7 Diesem umfassenden Gesetzeszweck entsprechend ist der kartellrechtliche Unternehmensbegriff kein institutioneller, sondern ein funktionaler.8 Bei der Beurteilung einer Einheit kommt es nicht auf deren Organisationsform und ← 26 | 27 →gesellschaftsrechtliche Einordnung, sondern auf ihre Funktion innerhalb der Wettbewerbsordnung an.9
Seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs10 in der Sache Höfner und Elser wird ein „Unternehmen“ als „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“ definiert.11 Das Europäische Gericht12 und die Europäische Kommission13 haben sich dieser Begriffsbestimmung angeschlossen.14 Der Begriff beansprucht einheitliche Gültigkeit für alle Bereiche des europäischen Kartellrechts, mithin für das Kartellverbot nach Art. 101 AEUV, für das Missbrauchsverbot nach Art. 102 AEUV, für die Fusionskontrolle nach der FKVO und auch für den Anwendungsbereich des Art. 106 AEUV, der öffentliche Unternehmen betrifft.15
1. Relativer Unternehmensbegriff
Die funktionale Betrachtung führt zu einem tätigkeitsbezogenen, in Abgrenzung zu einem strukturbezogenen, Unternehmensbegriff. Es kommt nicht auf die Marktposition an sich, sondern auf die spezifische Verhaltensweise des zu beurteilenden Marktteilnehmers an. Diese muss, als Anwendungsvoraussetzung der europäischen Kartellrechtsvorschriften dazu geeignet sein, den Wettbewerb ← 27 | 28 →zu beeinträchtigen.16 Aufgrund der verhaltensbezogenen Definition ist der Unternehmensbegriff relativ. Nach Generalanwalt Jacobs im Urteil Albany ist der Unternehmensbegriff stets „konkret im Hinblick auf die zur Prüfung anstehende besondere Tätigkeit zu ermitteln“.17
Details
- Seiten
- 361
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (PDF)
- 9783653065046
- ISBN (MOBI)
- 9783653961638
- ISBN (ePUB)
- 9783653961645
- ISBN (Paperback)
- 9783631672945
- DOI
- 10.3726/978-3-653-06504-6
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (Februar)
- Schlagworte
- Missbrauchsverbot Marktbeherrschende Stellung Europäisches Kartellrecht wirtschaftliche Einheit
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 361 S.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG