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Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit?

Jüdische Wohlfahrt in der Weimarer Republik zwischen privaten Initiativen und öffentlichem Engagement am Beispiel der Berliner Gemeinde

von Simona Lavaud (Autor:in)
©2015 Dissertation 297 Seiten

Zusammenfassung

Wohltätigkeit, Wohlfahrt und Fürsorge sind Begriffe, die im Judentum eine bedeutende und zentrale Rolle spiel(t)en, da sie das umschreiben, was sich als konstitutiv für die jüdische Gemeinschaft erwies: eine traditionell gewachsene Unterstützungspflicht von Menschen für Menschen – in jeder Lebenssituation – von der Geburt bis zum Tod. Diese Spannweite jüdischer Wohltätigkeit ist der Untersuchungsgegenstand dieses Buches. Es wird gezeigt, wie sich das wohltätige Arbeiten in den jüdischen Gemeinden, speziell in der Berliner Gemeinde, in den 1920er und beginnenden 1930er Jahren entwickelte, als, basierend auf der Weimarer Reichsverfassung und diversen Wohlfahrtsgesetzen, Begriffe wie Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit für die deutschen Juden eine neue Signifikanz bekamen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Zusammenfassung
  • Abstract
  • Résumé
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung: Warum und zu welchem Ende promoviert man über die Geschichte der jüdischen Wohlfahrt?
  • 1. Warum das Thema jüdische Wohlfahrt?
  • 2. Welche Inhalte sollen vermittelt werden?
  • 3. Welche Rolle spielten Vereine innerhalb der Wohlfahrt?
  • 4. Warum Berlin als Beispielgemeinde?
  • 5. Warum die Weimarer Republik als Untersuchungszeitraum?
  • 6. Welche Literatur und Quellen wurden herangezogen?
  • II. Hauptteil
  • 1. Von der Tradition zur Moderne: Das traditionelle jüdische Wohlfahrts- und Vereinswesen und dessen Entwicklung bis in die Weimarer Republik
  • 1.1 Eine Idee von Wohlfahrt: Was bedeutet der Begriff der Wohlfahrt im Judentum?
  • 1.1.1 Die Wandlung des Begriffes
  • 1.1.2 Die Begriffe Zedaka und Gemilut Chesed
  • 1.2 Wie sich aus den religiösen Wurzeln des Wohltuns eine Tradition der jüdischen Wohlfahrt bilden konnte
  • 1.2.1 Soziale Gesetzgebung durch die Bibel
  • 1.2.2 Modernisierung der jüdischen Wohlfahrt
  • 1.3 Das Entstehen von Vereinen in den jüdischen Gemeinden und deren Wirken bis in die Weimarer Republik
  • 1.3.1 Geschichtliche Entwicklung der jüdischen Vereinslandschaft
  • 1.3.2 Die Entwicklung der Vereinsstrukturen von der Neuzeit und bis in die Weimarer Republik
  • 2. Die Weimarer Republik: ein Nährboden für die Wohltätigkeit? Äußere Rahmenbedingungen
  • 2.1 Assimilation und Gleichstellung versus Antisemitismus und Ausgrenzung – Polarisierung des jüdischen Lebens in der Weimarer Republik
  • 2.2 Die Wohlfahrtspflege in den Goldenen Zwanzigern – zwischen Inflation und Aufschwung
  • 2.2.1 Die großen Krisen in der Wohlfahrt der zwanziger Jahre
  • 2.2.2 Die jüdische Wohlfahrt und deren Florieren
  • 2.2.3 Die Wohlfahrtsempfänger
  • 2.3 Die Wohlfahrtsgesetzgebung und die Partizipation der jüdischen Gemeinden
  • 2.4. Die Berliner Gemeinde als „wohltätiges Beispiel“
  • 2.4.1 Die Grundstruktur der Gemeinde und ihre Wohlfahrtsvereine
  • 2.4.2 Wohlfahrt innerhalb der Berliner Gemeinde
  • 2.4.3 Das jüdische Wohlfahrtsamt in Berlin
  • 2.5 Das Grundgerüst: Modernisierung des Fürsorgesystems
  • 2.5.1 Die Notwendigkeit zur Schaffung einer einheitlichen Organisation
  • 2.5.2 Professionalisierung der Arbeit
  • 2.5.3 Zentralisierungsbestrebungen und Schaffung der Zentralwohlfahrtsstelle
  • 3. Von der Geburt bis zum Tod – Jüdische Wohlfahrt in allen Lebensbereichen
  • 3.1 „Stirbt das deutsche Judentum aus?“ – Bevölkerungspolitische Fragen
  • 3.1.1 Geburtenrückgang und Bevölkerungsentwicklung innerhalb der jüdischen Gemeinden
  • 3.1.2 Die Familie und Ehe als Garanten für ein jüdisches Leben
  • 3.1.3 Lösungsmöglichkeiten: Ehe- und Sexualberatung
  • 3.1.4 Der Umgang mit der „Vergreisung“ – Hilfen für alte Menschen
  • 3.2 „In den Nachkommen liegt die Zukunft“ – Die Kinder- und Jugendfürsorge
  • 3.2.1 Von der Notwendigkeit der Kinder- und Jugendfürsorge im 20. Jahrhundert
  • 3.2.2 Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz als Rahmen
  • 3.2.3 Die Fürsorge und Erziehung in jüdischen Familien
  • 3.2.4 Halboffene Formen der Kinderbetreuung
  • 3.2.5 Geschlossene Fürsorge – Heime, ein sinnvolles Erziehungsmittel?
  • 3.2.6 Gesunderhaltung des Nachwuchses durch Ernährung, Freizeit und Erholung
  • 3.2.7 Der Umgang mit gefährdeten Kindern und Jugendlichen
  • 3.2.8 Jugendwohlfahrt und Jugendbewegung
  • 3.3 „Gesellschaftliche Heilung durch individuelles Vorbeugen“ – Die jüdische Gesundheitsfürsorge
  • 3.3.1 Allgemeine Kranken- und Gesundheitsfürsorge
  • 3.3.2 Institutionalisierte Krankenpflege
  • 3.3.3 Die Tuberkulosefürsorge
  • 3.3.4 Leben auf engstem Raum – Die Wohnungsfürsorge
  • 3.3.5 Der Kampf gegen Geschlechtskrankheiten
  • 3.3.6 Schwangeren- und Säuglingsfürsorge: Vor- und Nachsorge bei Geburten
  • 3.3.7 Am Rande der Gesellschaft: Behinderte, Taubstumme und Blinde
  • 3.3.8 Fürsorge bis in den Tod: das jüdische Begräbniswesen
  • 3.4 „Maloche statt Mildtätigkeit“ – Die Arbeitsfürsorge
  • 3.4.1 Die spezifisch jüdische Berufsstruktur und die Maßnahmen zur Umschichtung
  • 3.4.2 Die Anfänge der institutionalisierten Arbeiterfürsorge
  • 3.4.3 Der Arbeitsnachweis – Vermittlung von Arbeit als Vorbeugung gegen Armut
  • 3.4.4 Die Weltwirtschaftskrise und deren Auswirkungen auf die Berliner Arbeitsfürsorge
  • 3.4.5 Beschäftigung von Jugendlichen
  • 3.4.6 Die jüdische Frau im Berufsleben
  • 3.5 „Die weibliche Wohltat“ – Die Fürsorge für und von Mädchen und Frauen
  • 3.5.1 Wohlfahrt von Frauen und für Frauen – Jüdische Vereine als weiblicher Wirkungskreis
  • 3.5.2 Fürsorge für Mütter und (un-) eheliche Kinder
  • 3.5.3 Der Jüdische Frauenbund
  • 3.5.4 Der Kampf gegen den Mädchenhandel und die Prostitution
  • 3.6 „Bringt alle Schäflein zu mir“ – Die jüdische Gefährdetenfürsorge
  • 3.6.1 Die Fürsorge für „Psychopathen“ und Nervenkranke
  • 3.6.2 Die jüdische Gefangenenfürsorge
  • 3.7 „Hilfe für die ostjüdischen Glaubensbrüder“ – Die Ostjudenfürsorge
  • 3.7.1 Herkunft und Begriff des Ostjuden
  • 3.7.2 Geschichte und Entstehen der Ostjudenfürsorge
  • 3.7.3 Das Verhältnis der deutschen Juden zu den Ostjuden
  • 3.7.4 Das Arbeiterfürsorgeamt
  • 3.7.5 Private Fürsorge mit überregionaler und interterritorialer Wirkungskraft
  • 3.7.6 Direkte Hilfe statt falschem Mitleid – Vereine für und von Ostjuden
  • 3.8 „Heimlos – heimatlos – hilflos“ – Die Wanderfürsorge
  • III. Schlussbetrachtungen: Rückblick und Ausblick
  • IV. Quellen- und Literaturverzeichnis
  • 1. Quellen
  • a.) Gedruckte Quellen
  • b.) Ungedruckte Quellen
  • Central Archive for the History of Jewish people (CAFHJP)
  • Centrum Judaicum (CJA)
  • Leo Baeck Institut
  • 2. Literatur
  • V. Personen- und Sachregister
  • VI. Dank

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I. Einleitung: Warum und zu welchem Ende promoviert man über die Geschichte der jüdischen Wohlfahrt?1

1. Warum das Thema jüdische Wohlfahrt?

„Aber jeder Jude muß die Wohlfahrtspflege seiner eigenen Gemeinschaft der übrigen voranstellen, damit das Ziele ihrer Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit erreicht wird.“2

Die Worte Fritz Lamms, des stellvertretenden Vorsitzenden des Berliner Jugend- und Wohlfahrtsamtes, aus dem Jahr 1922, können als programmatisch für den Kurs der jüdischen Wohlfahrt zur Zeit der Weimarer Republik gesehen werden. Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit – das waren die Schlagworte, die das Denken und Wirken bestimmen sollten, hatte die jüdisch-konfessionelle Wohlfahrt doch erstmals die Möglichkeit erhalten, ihre traditionell gefestigte Wohltätigkeit gesetzlich fundiert auszuüben.

Wohltätigkeit spielt und spielte im Judentum eine zentrale und bedeutsame Rolle, was sich an zahllosen Beispielen beginnend mit den biblischen (Gesetzes-) Texten bis zur heutigen, im Jahr 1951 wieder gegründeten, Institution der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland erkennen lässt. Die jüdische Wohlfahrtspflege ging von jeher davon aus, dass der Mensch kein Einzelwesen, sondern Glied einer Gemeinschaft war und ist, das mit einer Verpflichtung ausgestattet, mit seinen Kräften und Ressourcen dazu beizutragen hatte, das Leben der Schwachen und Notleidenden zu erleichtern. Eine Kontinuität bestand über Jahrhunderte. Im Zusammenhang mit dem Emanzipationsprozess entwickelte sich verstärkt eine organisierte jüdische Wohlfahrtspflege, die der bedrohten jüdischen Minorität im Laufe der Geschichte wieder und wieder stützend beistehen sollte.

Überblickt man die Tätigkeit aller jüdischen Wohltätigkeitseinrichtungen offizieller sowie privater Art, so umfasste sie das ganze Menschenleben von der Geburt bis zum Tod, ja, sie ging sogar noch darüber hinaus, indem sie die ← 15 | 16 → Trauernden und Hinterbliebenen versorgte. Jeder Jude war eingebettet in ein System der Wohltätigkeit. Für Rolf Landwehr nahm die jüdische Wohlfahrt „gesamtgesellschaftlich gesehen […] die Funktion [ein], die Mitglieder einer Gemeinde zu integrieren und diese abzusichern gegenüber den Macht- und Herrschaftsverhältnissen einer diese Gemeinschaft tendenziell in Frage stellenden und bedrohenden Gesellschaft“3. Damit reagierte die jüdische Wohlfahrt sowohl auf innere als auch auf äußere Impulse. Im Zusammenhang mit dem Wandel der deutschen Sozialpolitik, dem Anwachsen jüdischer Not, dem quantitativen Anstieg jüdischer Armer passte sie sich an die Erfordernisse an, ohne dabei ihre Eigenheiten aufzugeben. Der Begriff Wohlfahrt löste veraltete Begriffe wie den der „Armenfürsorge“ ab und zeigte eine neue Dimension der Wohltätigkeit: die Verantwortung des Staates, für seine Bürger aufzukommen und diese zu unterstützen. Wohltätigkeit konnte nun mit Souveränität gleichgesetzt werden. Hier setzt die jüdische Wohlfahrt der Weimarer Republik an, in der die Juden an den gesamtgesellschaftlichen Fragen Anteil – und zwar nun nicht mehr in ihrer Rolle als Juden, sondern als Staatsbürger – nahmen. Es ist oft argumentiert worden, dass mit der Emanzipation und Assimilation der Juden in Deutschland eine Anpassung hervorgegangen wäre, durch die das eigenständige jüdische Leben mehr und mehr verschwunden sei. Im Bereich der Wohlfahrt lässt sich diese Tendenz nicht ablesen – vielmehr war in der Weimarer Republik, als jene Assimilation einen Höhepunkt erreichte, zugleich ein so gut ausgebautes jüdisches Wohlfahrtswesen vorhanden wie selten zuvor.

2. Welche Inhalte sollen vermittelt werden?

Um die jüdische Wohlfahrt, ihren Wandel und ihr Wirken besser nachvollziehen zu können, müssen zunächst die historischen und religiösen Grundlagen erläutert werden, aus denen heraus sich bis in die Weimarer Republik zwei Träger der Wohlfahrt herausbilden konnten: die private Wohltätigkeit, die auf dem Gedanken der Nächstenliebe mit ihren religiösen Bezügen beruhte und vor allem von Vereinen getragen wurden, sowie die öffentliche Wohlfahrtspflege, die kommunale Träger hatte. Die Aufgabe der privaten Wohltätigkeit war es vor allem, soziale Maßnahmen, die den Juden als gleichberechtigte Staatsbürger zuteilwerden mussten, in verschiedene Richtungen zu ergänzen. Die jüdische Wohlfahrtspflege trat überall dort ein, wo Juden in die Gesamtgemeinschaft integriert werden ← 16 | 17 → mussten, wo der Staat den jüdischen Menschen das Recht auf Unterstützung vorenthielt. Zudem war die jüdische Fürsorge wichtig, um der Gemeinschaft der tendenziell antijüdisch eingestellten Gesellschaft gegenübertreten zu können. Ergänzt wurde die öffentliche Wohlfahrt zum einen durch die Bereitstellung materieller Mittel, zum anderen aber insbesondere durch die Befriedigung der religiösen und jüdisch-kulturellen Bedürfnisse in Form von der Einrichtung jüdischer Anstalten und der Einstellung jüdischer Menschen für diese Arbeit. Das Grundlegende an der Wohltätigkeitsarbeit sollte aber das Zugehörigkeitsgefühl innerhalb der Gemeinschaft sein. Die Gesellschaft und nicht mehr nur das Individuum wurde für die sozialen Probleme verantwortlich gemacht, so dass ein Umdenken in der Wohlfahrtspflege eintrat. Die traditionelle Wohlfahrt entwickelte sich zu einer modernen Sozialpolitik. In der Weimarer Republik erließ der Staat eine Sozialgesetzgebung, die allen Bedürftigen das Recht auf öffentliche Hilfe einräumte. Damit stand auch den jüdischen Notleidenden öffentliche Hilfe zu. Die „Reichsverordnung für die Fürsorgepflicht“ aus dem Jahr 1924 stufte zudem die freien Wohlfahrtsträger als subsidiär ein, so dass sich die jüdischen Hilfsorganisationen auf spezifisch jüdische Belange konzentrieren konnten. Die jüdische Fürsorge entwickelte sich durch den Weimarer Wohlfahrtsstaat sowie die Professionalisierung der Wohlfahrtspflege weiter. In dieser Arbeit soll untersucht werden, wie sich das traditionelle Unterstützungssystem der jüdischen Gemeinde, das bis in die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts reichte, an die Erfordernissen der Moderne anpasste und wie es den Trend zur Bürokratisierung, Professionalisierung und Zentralisierung überstand.

So haben sich bei der Bearbeitung des Materials mehr und mehr zwei Vorhaben herauskristallisiert, die hier parallel abgebildet werden: Erstens werden das Bestehen und der Nutzen der jüdischen Wohlfahrt neben der öffentlichen staatlichen Wohlfahrt gezeigt. In vielen Passagen haben die Ausführungen zu diesem Teil der Untersuchung einen darstellenden Charakter. Zweitens offenbart sich die private jüdische Wohltätigkeit noch „privater“ durch einen Einblick in die in ihr tätigen Vereine und die Frage danach, welchen Stellenwert diese Institutionen im täglichen jüdischen Leben einnahmen.

Jedes der in der Gliederung unter 3. angegebenen Kapitel „Von der Geburt bis zum Tod – Jüdische Wohlfahrt in allen Lebensbereichen“ soll einen Fürsorgebereich im Allgemeinen beschreiben und zugleich, und wo dieses möglich war, auf die Vereine und die private Wohltätigkeit im Speziellen eingehen. Einer der Teile kann nicht ohne die anderen in dem Projekt behandelt werden, da sie wechselseitig Grundlagen bilden und sich Impulse geben. Von einer ausschließlichen Betrachtung der Vereine ist abgesehen worden, da diese nur einen Ausschnitt eines Lebensbereiches darstellen und andere unbeachtet lassen würde. ← 17 | 18 →

Die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung soll aufgezeigt werden, deren Struktur von einem fortwährenden Wechsel durch Geburt, Wanderung oder Tod geprägt war. Nach dem Ersten Weltkrieg erfuhr der Mensch innerhalb der Gesellschaft eine neue Wertung, da es nun viel mehr um dessen „Bestand“ ging, so dass neben der religiösen und sozialen Komponente das Erhaltungsmotiv eine stärker werdende Rolle spielte. Im Bereich der Bevölkerungsentwicklung mussten die jüdischen Gemeinden umdenken, da die Zahl ihrer Mitglieder stetig zurückging. Felix Theilhaber veröffentlichte auf Grund dessen im Jahr 1911 die erste Auflage seiner Studie „Der Untergang der deutschen Juden“, die seiner Hoffnung nach dazu führte, „die deutsche Judenheit, die sich bisher als religiöse Gemeinschaft lediglich dazu berufen fühlte, die Erfüllung der Ritualien zu überwachen, [zu veranlassen], eine großzügige Volkspolitik zu betreiben, um das zu retten, was zu erhalten ist (oder wenigstens zu versuchen, ob es zu retten ist).“4 Zur Rettung einer Religionsgemeinschaft konnte nur die Sicherstellung des Nachwuchses führen, weil die Mitgliederzahlen der Gemeinden durch hinzukommende Abwanderungen und Austritte sonst bedroht waren.

Fürsorgerische und pflegerische Bemühungen richteten sich im 20. Jahrhundert nach der Erziehung und Gesunderhaltung des jüdischen „Volkskörpers“, der Förderung und Ertüchtigung der Jugend, vom Kleinkind bis zum Schulentlassenen und darüber hinaus. Jüdische Tradition sollte durch die Jugendfürsorge vermittelt werden, um Kinder und Jugendliche für die Gemeinschaft zu gewinnen, die ihnen jüdische Identität lieferte. Die Jugendwohlfahrt galt den Waisen, den gefährdeten unehelichen Kindern, den Kindern, die durch die Außenwelt seelisch und körperlich geschädigt wurden, sowie den Jugendlichen, die keinen Halt im Leben finden konnten. Die Gesundheitsfürsorge führte vor allem einen Kampf gegen die Säuglingssterblichkeit, die Tuberkulose, die Geschlechtskrankheiten und den Alkoholismus.

Wodurch sich die Juden früh von der übrigen deutschen Bevölkerung unterschieden, war ihr Hang zur Verstädterung, der steigende Umfang des Mittel- und Hochschulbesuches, die Konzentration auf nicht-manuelle Beschäftigungen, wie Handel oder freie Berufe, sowie ein starker Rückgang der Fruchtbarkeit, aber auch der Sterblichkeit, woraus eine Überalterung der jüdischen Bevölkerung ← 18 | 19 → resultierte, die neben den genannten Faktoren auch als Folge der gewollten Geburtenbeschränkung zu sehen ist.

Durch die Einwanderung der Ostjuden ab 1880 und nochmals verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg sahen die deutschen Juden die Notwendigkeit, einer großen Anzahl von mittellosen, fürsorgebedürftigen Menschen zu helfen. Um 1925 machten die Ostjuden, die vor Pogromen in Russland oder dem Elend in anderen östlichen Ländern flohen, mindestens 25% der Berliner Juden aus.5 Aus dieser Dringlichkeit heraus entstanden Organisationen wie beispielsweise das „Arbeiterfürsorgeamt der jüdischen Organisationen Deutschlands“, das sich zunächst mit der Arbeitsvermittlung und den Nöten der Ostjuden befasst, um sich ausgehend von dieser Basis schließlich noch umfangreicheren Aufgaben zu widmen. Der aus dem Ausland kommende Jude hatte andere Bedürfnisse hinsichtlich der Fürsorge als der „alteingesessene, assimilierte deutsche Jude“. Doch nicht nur für die Ostjuden, sondern auch für die von Inflation und Weltwirtschaftkrise Betroffenen nahm von 1922 bis 1929 der Ausbau der jüdischen Arbeitsnachweise und der Berufsberatung einen herausragenden Platz in der jüdischen Sozialpolitik ein. Der produktive Charakter der Arbeitsfürsorge sollte mehr in den Vordergrund treten und von der rein materiellen Hilfe abgegrenzt werden.

Die Prämisse dieser Studie soll sein, die sozialhistorischen Hintergründe des jüdischen und nichtjüdischen Wohlfahrtsmilieus auszuarbeiten. Dargestellt werden sollen die individuelle Fürsorge, als eine schnelle Hilfsmaßnahme, die Sozialpolitik, sowie die produktive Hilfe, die umfassende Maßnahmen zum Wohl des ganzen Volkes vorsah. Bei der Wohlfahrt ist zu differenzieren zwischen den Trägern (Familien, Stiftungen, Vereine, Gemeinden etc.), der Art der Hilfeleistung (materielle, personelle, strukturelle) sowie den Empfängern, die hier oft unverschuldet in Not gerieten.

Das Erziehungswesen und die geschlossene Fürsorge mit Krankenhäusern und Armenanstalten werden ausgespart, weil sie ein in sich geschlossenes System bildeten, das nur im Ansatz mit dem alltäglichen Leben und Sorgen der Bevölkerung zu tun hatte. Geschlossene und halboffene Institutionen zeigten darüber hinaus ein viel stärkeres Maß an Assimilation. Der Trend zur Urbanisierung brachte die Gründung geschlossener Einrichtungen mit sich, um dauerhafte Dienstleistungen, nicht nur Geld oder Naturalien, anzubieten. Da Anstalten, Waisenhäuser, Erholungs- und Altersheime oft von freien Trägern ← 19 | 20 → geführt wurden und meist unabhängige Organisationen waren, kann nicht immer eine strikte Trennung zwischen offener und geschlossener Fürsorge erfolgen. Zudem waren die halboffene und geschlossene Fürsorge in manchen Sparten unabdingbar, wie zum Beispiel bei der Erziehung von gefährdeten Kindern und Jugendlichen. Auch Sanatorien gehörten zu den geschlossenen Einrichtungen und ohne sie ist die Erholungsfürsorge, die meist durch Vereine organisiert wurde, unvorstellbar. Schwieriger als eine Abgrenzung zwischen der offenen und geschlossenen Fürsorge ist es, die wirtschaftliche Dimension der Wohlfahrtspflege greifbar zu machen, da von vielen jüdischen Wohltätigkeitsinstitutionen die Kapitale gänzlich unbekannt und die Ausgaben vieler Wohlfahrtseinrichtungen nicht festzustellen sind. Statistische Daten und Erhebungen sind für dieses Gebiet nicht vorzufinden.

Bislang wurde weder das jüdische Wohlfahrtswesen noch dessen Vereins- und Organisationswesen der Weimarer Republik in seiner gesamten Breite analysiert. Eine kohärente Bearbeitung beider Bereiche ist noch viel weniger in das Blickfeld der Forscher genommen worden. Dabei darf die jüdische Geschichte nicht isoliert, sondern muss im Rahmen der damaligen deutschen Geschichte gesehen werden, da sonst das Judentum gesondert betrachtet werden würde, was in keiner Weise dem assimilierten modernen Judentum entspricht. Gesellschaftliche und soziale Wandlungsprozesse müssen ebenfalls mitberücksichtigt werden, damit Entwicklungen innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinden nachvollzogen werden können. Es ist interessant zu beobachten, wie sich in diesem Rahmen die traditionell eng an die Gemeinde gebundenen Institutionen innerhalb der modernen jüdischen Wohlfahrtspflege entwickelten.

Während Juden immer wieder „zum Objekt des modernen Blicks wurden, haben sie sich andererseits auch innerhalb der Grenzen dieses Blickfeldes bewegt und inszeniert“6. Sie sind und waren Akteure der Geschichte, die ihre Lebensräume selbst mitgestalteten und gleichzeitig ihre kulturelle und religiöse Eigenheit äußerten. Indem diese Doktorarbeit sich mit verschiedenen Einrichtungen und Organisationen auseinandersetzt, die zudem in die jüdischen Gemeinden eingebunden sind, kann nachvollzogen werden, wie und wo die jüdischen Deutschen ihrem Judentum kollektiven Ausdruck verleihen und eine Innensicht auf religiösem, kulturellem, edukativem, karitativem oder geselligem Gebiet möglich ist. Sozialgeschichtliche Fragestellungen, die das Leben der jüdischen ← 20 | 21 → Gemeinschaft und der Individuen fokussieren, stehen in allen Ausführungen im Mittelpunkt des Interesses.

3. Welche Rolle spielten Vereine innerhalb der Wohlfahrt?

Einen Ausgangspunkt, sich mit Vereinen innerhalb der jüdischen Wohlfahrt zu beschäftigen, stellte die Beschreibung Bernhard Breslauers in der „Zeitschrift für jüdische Demographie und Statistik“ von 1909 dar, wonach in 1014 jüdischen Gemeinden nicht weniger als 3010 Wohlfahrtsorganisationen und Wohltätigkeitsvereine bestanden.7 Allein für Berlin nennt Breslauer Zahlen von 82 Wohltätigkeitsvereinen und 33 ihnen hinzuzurechnenden Stiftungen in der liberalen Großgemeinde8, zu denen weitere Einrichtungen in der Synagogengemeinde Adass-Jisroel hinzuzufügen waren. Eine exakte Zahl der jüdischen Vereine zu nennen, ist aus vielerlei Gründen nicht möglich. Es lässt sich nicht in jedem Fall genau feststellen, ob nach vereinsrechtlichen Bedingungen tatsächlich ein Verein existierte oder sich eine Gruppe einfach als Verein bezeichnete. Bei manchen Vereinen gibt es nur sehr ungenaue Angaben darüber, wann sie exakt gegründet oder auch aufgelöst wurden. Von manchen Vereinen existieren Statuten, andere werden nur namentlich genannt, von wiederum anderen gibt es ganze Veröffentlichungen. Alle Vereine, die eine Grauzone beinhalteten, das heißt von denen man nur eventuell annehmen konnte, dass sie jüdisch waren, wurden hier zu dieser Arbeit nicht herangezogen.

Vereine entwickelten sich verstärkt und parallel zu der Ausbildung der bürgerlich-jüdischen Gesellschaft in Deutschland, da sie eine Gradwanderung zwischen der jüdischen Emanzipation, einem Ausgleich zwischen ihr und dem Staat mit seinen Wohlfahrtsaufgaben vollzogen. Ein voranbringendes Moment stellte für die Vereine die Wanderungsbewegung der Ostjuden und deren Versorgung dar. Des Weiteren beeinflussten die fortschreitenden Entwicklungen in der jüdischen und deutschen Wohlfahrtspflege die Vereine nachhaltig. In dieser Arbeit soll der These nachgegangen werden, dass die traditionellen Strukturen des jüdischen Wohlfahrtswesens, zu dem insbesondere das Vereinswesen zählte, bis ← 21 | 22 → in die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts Bestand hatten und einen Grundpfeiler des Unterstützungssystems bildeten.

In ihrer immens großen Zahl und Mannigfaltigkeit geben die Vereine einen wesentlichen Einblick in das innerjüdische Leben in den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie zeigen das pulsierende Leben in den jüdischen Gemeinden, indem sie alle Lebensbereiche abdecken: von den traditionellen Vereinen, die Wohltätigkeit als religiöse Pflicht ausüben, über berufsspezifische Organisationen bis hin zu den politischen Vereinigungen. Gleichzeitig vertreten sie alle Spektren politischer, religiöser und sozialer Auffassungen. Jüdische Vereine waren vor allem in den Sparten notwendig, wo speziell jüdische Bedürfnisse befriedigt werden mussten, so zum Beispiel in Institutionen, wo koscher gegessen und der Sabbat eingehalten wurde. Der jüdischen Tradition wurde hier Rechnung getragen. Trotz dieses Stellenwertes wurden diese Vereinsstrukturen noch nicht ausreichend untersucht, obwohl sie auf die gesellschaftlichen und sozialen Wandelungsprozesse, so auch der Weimarer Republik, reagierten und sie sich den Erfordernissen der modernen und problembeladenen Gesellschaft anpassten. Gerd Stecklina formuliert dieses folgendermaßen: „Bei der Beschreibung jüdischer Sozialarbeit in Deutschland wird den traditionellen innerjüdischen sozialen Unterstützungsstrukturen und -leistungen und deren Integration in moderne Strukturen des Wohlfahrtsstaates zur Zeit der Weimarer Republik nur wenig Beachtung entgegengebracht.“9

Für die Untersuchung musste ich selbst einige Kriterien erstellen, anhand derer ich die Vereine einbezogen habe. Die ausgewählten Vereine

 nennen in der Satzung Wohltätigkeit als Hauptzweck,

 waren in Berlin ansässig und dort nachweisbar (zum Beispiel durch den „Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege“ aus dem Jahr 1932/3310 oder Adressbücher11), ← 22 | 23 →

 übten die Wohltätigkeit hauptsächlich in Deutschland aus, das heißt, die Hilfsarbeit für Palästina fällt damit heraus, ebenso Vereine, die sich um Ostjuden im eigenen Land kümmern, jedoch nicht in Deutschland,

 halfen in erster Linie jüdischen Glaubensgenossen, konnten darüber hinaus aber für andere Konfessionen offen sein,

 waren ideell oder mit Natural- oder Geldspenden im Bereich der jüdischen Wohlfahrt tätig,

Details

Seiten
297
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653050745
ISBN (ePUB)
9783653974744
ISBN (MOBI)
9783653974737
ISBN (Hardcover)
9783631658475
DOI
10.3726/978-3-653-05074-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Fürsorge Jüdische Vereine Wohlfahrtsgesetzgebung jüdische Religion jüdische Tradition Jüdische Gemeinde Berlin
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 297 S., 11 Tab.

Biographische Angaben

Simona Lavaud (Autor:in)

Simona Lavaud studierte Geschichte, Germanistik und Pädagogik an der Universität Kassel. Sie war Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel und Stipendiatin des Leo Baeck Fellowship-Programms. Zurzeit arbeitet sie als Studienrätin an einer gymnasialen Oberstufe.

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