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Religion – Macht – Freiheit

Deutsches Neuland: Eine Zwischenbilanz

von Thomas Brose (Band-Herausgeber:in)
©2014 Sammelband 257 Seiten
Reihe: Berliner Bibliothek, Band 1

Zusammenfassung

Zwar schreitet die Säkularisierung in Europa voran, aber der Prozess einer Re-Spiritualisierung gewinnt an Fahrt. Fragen, die unsere Gesellschaft unabhängig von konfessionellen Bindungen bewegen, lauten: Worauf können wir uns verlassen? Was sind Werte, die wirklich zählen? Braucht Europa das Christentum? Aber auch: Welche Gefahren birgt Religion in sich? Können moderne Menschen mit guten Gründen glauben?

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Einleitung
  • 1. Der Beginn des 21. Jahrhunderts: Zeit der Respiritualisierung
  • 2. Irritation – Sprache – Erkenntnis
  • 3. „Ein Bewusstsein, von dem was fehlt“
  • I. Zur Grundlegung
  • Vom Zusammenleben der Religionen in Deutschland
  • 1. Alte und neue Religionen in Deutschland
  • 2. Von Kirchen zu „Religionen“: Berührungen, Probleme, Konflikte
  • 3. Lösungen: „Schonender Ausgleich“ – Abrahamitische Offenheit
  • Historische Zäsuren. Zur konfessionellen Grundstruktur Deutschlands
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • Wie können die Religionen friedlich und frei beisammen leben?
  • 1. Zwei Konzepte
  • 2. Briefwechsel mit einem Kardinal
  • 3. Ethos der Gesetzlichkeit
  • 4. Was tun?
  • Christenclub – Titanentochter – Abendland? Eine europäische Spurensuche
  • 1. Europas Herkunft
  • 2. Europas Identität
  • 3. Europas Signaturen
  • Inflationskontrolle. Die christliche Unterscheidung zwischen hoher und niedriger Transzendenz
  • 1. Christentum als Kultur?
  • 1.1 Das Fortbestehen christlicher Versatzstücke spricht für eine gesellschaftliche Nachfrage
  • 1.2 Das Christentum – Ein Anbieter unter anderen
  • 2. Begriffsklärung – zweierlei Heiden: „gentiles“ und „pagani“
  • 3. Rückblende ins 2. Jahrhundert – Religiöse Pluralisierung und ihre christliche Antwort: Organisation
  • 4. Die Grundgestalt von Religion: zweierlei Transzendenz
  • 5. Übertragung: Die veränderte Situation heute
  • 6. These: Stärkung der niederen Transzendenzen
  • Weltbilder – Bildwelten. Das Medium Fernsehen und die Macht des Zeigens
  • 1. „Zeig’s mir!“ – Der ästhetische Imperativ der Medien
  • 2. Fern-Sehen: Sinnsuche – Sehsüchte
  • 3. Ansehen: Zugehörigkeit und Prominenz
  • 4. „Wir sehen uns!“ – Der mediale Imperativ der Hermeneutik von Macht und Medien
  • Führt Modernisierung zur Säkularisierung?
  • 1. Der Begriff „Säkularisierung“
  • 2. Der Begriff „Modernisierung“
  • 3. Die soziale Wirklichkeit des Glaubens und die soziologische Kritik der Säkularisierungsthese
  • 3.1 Europäische Ausnahmen von der Säkularisierungsregel
  • 3.2 Die große Ausnahme USA
  • 3.3 Die nicht-europäische Perspektive
  • 3.4 Die ältere europäische Religionsgeschichte in der Perspektive der Säkularisierungstheorie
  • „Einer trage des anderen Last“: Ein DEFA-Film über Glaube, Macht und Wirklichkeit
  • 1. Mit starken Bildern: Stalinporträt und Christuskopf
  • 2. Ein Plädoyer für weltanschauliche Toleranz: Vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Diskriminierung
  • 3. Ein Film als Erinnerungsort: Glaube – Macht – Wirklichkeit
  • II. Heutige Herausforderungen
  • Das Ende der Utopien – Die Wiederkehr der Religionen? Überlegungen aus ostdeutscher Perspektive
  • 1. Das Ende der Utopien
  • 2. Wiederkehr der Religion
  • 3. Walter Benjamins „Engel der Geschichte“
  • 4. Was bleibt, ist die Hoffnung
  • Von der Kraft und Schwäche der Utopien
  • 1. Fünf Thesen zum Wesen von Utopien
  • These I: Utopien sterben, wenn sie zur Ideologie verderben
  • These 2: Utopien, die den Menschen nicht ganzheitlich begreifen, sind zum Scheitern verurteilt
  • These 5: Utopien, die weder den Menschen noch die Gesellschaft ganzheitlich betrachten, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt
  • 2. Über die Kraft und Schwäche der Utopien
  • Religion und „öffentliche Vernunft“. Jürgen Habermas über Religion in der postsäkularen Gesellschaft
  • 1. Der öffentliche Vernunftgebrauch säkularer und religiöser Bürger
  • 2. „Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung.“
  • 3. Ein Bündnis im Namen der Freiheit
  • Wie heute von Gott sprechen in nichtchristlichem Umfeld?
  • 1. Beobachtungen zum Thema aus der Perspektive des religions- und kirchenfernen Ostens
  • 2. Christlicher Glaube und unsere Rede von Gott heute
  • 2.1 Gott größer denken
  • 2.2 Religiös auskunftswillig und auskunftsfähig werden
  • 2.3 Eine neue kulturelle „Sprach- und Zeichenkompetenz“ des Christlichen gewinnen
  • 2.4 Den „Nächsten“ an meiner Seite als Anruf Gottes entdecken
  • Die leise Sehnsucht nach einem „Dahinter“. Zur Wiederkehr des Religiösen auf dem Markt der Unterhaltungsfilme
  • 1. Signale einer Renaissance des Religiösen
  • 2. Der Religionskeks: Der Markt populärer Unterhaltungsfilme als Signalsystem
  • 3. Leise, aber beständig: Die Konjunktur des Religiösen in Unterhaltungsprodukten
  • 4. Der unterhaltsame Gott. Das religiöse „Dahinter“ im populären Film
  • 4.1 “There is a greater mystery out there”: Star Wars
  • 4.2 „Ein von Grund auf religiöses und katholisches Werk“: The Lord of the Rings
  • 4.3 „Religion ist von Natur aus geheimnisvoll“: The Da Vinci Code/Sakrileg
  • 4.3.1 Das „göttlich Weibliche“
  • 4.3.2 Der Da Vinci Code als Chance
  • 5. Zu Hause im Mystery: Religion als vertrauensvolle Kontingenzeröffnung
  • Illiberal war Deutschland oft genug
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • 4.
  • 5.
  • Religion returns. Faith in Secular Europe
  • 1. Religion is a general human fact
  • 2. Religion – Violence – Non-Violence
  • 3. Deliverance from a God of violence
  • Overview of Literature
  • Mauern werden fallen
  • III. Neuland
  • Ansprache Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag
  • Mehr Diener als Haupt. Gedanken zum Rücktritt Papst Benedikts XVI
  • 1. Das Papsttum: In fremder Wahrnehmung
  • 2. Die seit 1870 stetig gewachsene Autorität des Papsttums und der Rücktritt Benedikts XVI.
  • 3. Tiefgreifender Wandel seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil
  • 4. Der Papst als geistlicher Brückenbauer
  • Frei und Fromm. Benedikt XVI. und sein Rücktritt – Aus der Sicht seines Lektors
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • Von der Silberquelle zum Weißen Haus Ein Sonntagsspaziergang
  • 1. Kulissen
  • 2. Silver Spring
  • 3. 16th Street
  • 4. Coda
  • Ein Land unbegrenzter Möglichkeiten? Sieben Jahre in Amerika
  • 1. Die „Neue Welt“
  • 2. Die im Schatten sieht man nicht?
  • 3. Essen bei Mrs. Dorothy’s
  • 4. Im Herzen der Macht
  • 5. Das Trauma des Terrorismus
  • 6. Sonntag um zehn …
  • 7. Veteranen unterrichten
  • 8. „Das Land der Freien und die Heimat der Mutigen“?
  • Rumänisches Tagebuch. Zeit zu leben – Zeit zu glauben
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • 4.
  • 5.
  • 6.
  • Konrad Feiereis (1931–2012) Glauben, Denken und Handeln
  • 1. Philosoph und Katholischer Intellektueller mit umfassendem Bildungsauftrag
  • 2. Dem Lebensthema auf der Spur: Von Gott reden in säkularer Gesellschaft
  • 3. Kirche in Gesellschaft: Zur Relevanz des Glaubens
  • 4. Katholischsein im Osten: Wertvoll für das Ganze
  • Möglichkeiten und Grenzen des Dialogs zwischen Christen und Marxisten. Aus der Sicht eines katholischen Theologen [2001].
  • 1. Über die Notwendigkeit des Dialogs
  • 2. Zu den Voraussetzungen eines Dialogs
  • 3. Über die Hindernisse des Dialogs
  • 4. Über die kritische Distanz zu einem Dialog seitens der Berliner Bischofskonferenz
  • 5. Der Dialogversuch der Paulus-Gesellschaft
  • 6. Der vom Päpstlichen Rat initiierte Dialog
  • 7. Dialogbereitschaft einzelner Philosophen
  • 8. Dialog an der Basis
  • 9. Ausblick
  • Autorenverzeichnis

Vorwort

„ES WIRD ETWAS GESCHEHEN.“ – aktivierend und herausfordernd lautet der Titel einer Erzählung von Heinrich Böll. Diese Geschichte hat mich Anfang 1989 bei Vorträgen und Seminaren mit Studentinnen und Studenten in der DDR begleitet. Sie war für den Vortragenden wie ein kleiner Motor, um auf Touren zu kommen, Ängste abzustreifen und präziser zu sprechen.

Dass die Welt gerade dabei war, sich zu drehen, zu wenden und zu revolutionieren, beschäftigte uns – Glaubende wie Nichtglaubende in Ostdeutschland – bei nächtlichen Wortgefechten und täglichen Diskussionen: Wäre ich damals nach meiner Prognose für die Zukunft gefragt worden, hätte die Antwort gelautet: Alles müsste sich hier ändern – aber wie und zu welchem Preis?

„ES IST ETWAS GESCHEHEN!“ – heißt es schließlich bei Böll: Ungläubiges Staunen stand am Anfang. Mit dem Ende der Einmauerung am 9. November 1989 wurde der Eiserne Vorhang endgültig durchlöchert. Deutsche aus Ost und West, Europäer und Amerikaner erlebten eine weltgeschichtliche Zäsur, mit deren Folgen wir heute – ein Vierteljahrhundert nach dem MAUERFALL – längst nicht zu Ende gekommen sind.

Anders als die Eule der Minerva, die nach Hegels melancholischer Metapher erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt, beansprucht Katholische Theologie mehr zu leisten als nachträgliches Konstatieren. Minervas Eule, Sinnbild philosophischer Reflexion am „Ende des Tages“, besitzt für den Meisterdenker des 19. Jahrhunderts nämlich keinerlei prognostische Relevanz. Und darin ist ihm Francis Fukuyama in seiner naiv-überhöhenden Rede vom „Ende der Geschichte“ zu Ausgang des 20. Jahrhunderts gefolgt. Ganz anders argumentiert das Zweite Vatikanische Konzil. Die Pastoralkonstitution GAUDIUM ET SPES wendet sich erstmals nicht nur an Gläubige, sondern „an alle Menschen schlechthin“. Es sei „in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen“, die das Volk Gottes gemeinsam mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, „zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind (GS 11,1)“.

Der Titel „RELIGION – MACHT – FREIHEIT“ ist Programm. Die unter dieser Trias versammelten Aufsätze thematisieren implizite Voraussetzungen, erhellen Hintergründe und berichten – im Medium der Kunst – von persönlichen Erfahrungen; sie stellen sich heutigen Herausforderungen auf interdisziplinäre Weise. Zu Wort kommen dabei Vertreter der Kirchen, Wissenschaftler, Politiker und Künstler. ← 11 | 12 →

Kann man einem Menschen beim Denken zuschauen? Bei Konrad Feiereis konnte man es. Er dachte als Erfurter Philosophie-Professor und katholischer Intellektueller in seinen Vorlesungen und Seminaren vor seinen Zuhörern nach; er zeigte ihnen dabei, was es bedeutet, über die Wiedergabe von angelesenem Stoff hinauszugehen und einen eigenen Ansatz zu finden: Diesem Impuls verdankt sich das hier vorgelegte Buch.

Für Ermutigung und Unterstützung auf dem Weg zum fertigen Sammelband habe ich vor allem Beat Henzirohs, Jens Thiel, Christian Popp, Jürgen Israel und Wolfgang Dickhut Dank zu sagen.

Erfurt, am Fest Albertus Magnus,
15. November 2013
Thomas Brose

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Einleitung

1.  Der Beginn des 21. Jahrhunderts: Zeit der Respiritualisierung

„Ich war mir selbst zur großen Frage geworden, und ich nahm meine Seele ins Verhör, warum sie traurig sei und mich so sehr verstörte“. Diese Selbstdiagnose stammt keineswegs von dem besorgten Patienten einer psychologischen Beratungsstelle, sondern einem profilierten Glücks- und Gottsucher vergangener Umbruchzeiten: von Aurelius Augustinus, geboren im Jahr 354. Wer dessen Bekenntnisse1 studiert, kann darin – so die These – trotz der historischen Distanz eine existenzielle Nähe zu gegenwärtigen Suchbewegungen erkennen: Ein junger Mann mit spätantikem Hintergrund und unruhigem Herzen sieht sich in Krisenzeiten gezwungen, die Suche nach dem eigenen Selbst in den Mittelpunkt seines Lebensentwurfs zu stellen – und darum passen seine Aussagen manchmal geradezu atemberaubend zu den Analysen, die ein zeitgenössischer Autor wie Alain Ehrenberg in der Studie Das erschöpfte Selbst2 vorgelegt hat: Mehr denn je sind „wir“ dazu verdammt, Ich zu sagen, lautet seine Kernaussage.

Aber wo finden sich Ressourcen, unser erschöpftes Ego auf dem Markt menschlicher Möglichkeiten zu behaupten? Das ultimative Streben nach individuellem Glück, so der französische Soziologe, führt auf Dauer zu Überforderung und Erschöpfung; man fühlt sich ausgebrannt und entwurzelt. Entlastung des überforderten Ich tut daher Not.

Angesichts dieses Befundes erscheint die Suche nach spiritueller Heimat – damals wie heute – eine unabweisbare Aufgabe zu sein. Zwar schreitet die Säkularisierung in Europa noch immer voran, aber der gegenläufige Prozess einer Respiritualisierung gewinnt gegenwärtig an Fahrt.

Mit ihrer Sensibilität für Liturgie und religiöse Inszenierungen – wie sie bereits Romano Guardinis Vom Geist der Liturgie3 für ein stark säkularisiertes Umfeld in Erinnerung gerufen hat – besitzt gerade die Katholische Kirche gute ← 13 | 14 → Karten, eine Botschaft zu verkünden, die mit zeitgenössischen Bildsprachen konkurrieren kann; sie muss sich dazu auf ihre traditionelle Stärken besinnen: Glaube nicht bloß als nüchternen Bericht weiterzusagen, sondern bildhaft-anschaulich zu dramatisieren. Und dies scheint, wie Christoph Türcke in seinem Buch Die erregte Gesellschaft analysiert, genau das zu sein, was derzeit Not tut. Der Leipziger Philosoph konstatiert nämlich als Zeichen einer erregten Zeit den neuen Imperativ, sich anderen sinnlich wahrnehmbar zu machen. Denn „das Nicht-Wahrgenommenwerden heißt Draußen-Sein, und Draußen-Sein ist wie tot sein bei lebendigem Leibe.“4

Permanent schicken sich nicht bloß junge Leute Botschaften, filmen und fotografieren die Welt, um sich der eigenen Existenz stets auf neue Weise zu versichern. Angesichts dieser Dominanz der „Sensation“ empfehle sich für die Christen, so Türckes Analyse, eine Rückbesinnung auf ihr eigentliches Sein, auf die ursprüngliche „Sensation des Heiligen“.

Lange galt die Verwendung religiöser Symbole – wie Bertolt Brecht in dem Gedicht Peinlicher Vorfall mit Hinweis auf das Requisit eines „mottenzerfressenen Pfaffenhuts“ verdeutlicht – als Zeichen besonderer Zumutung. Leere Formalismen für Unmündige. Schon gar nichts für die Jugend. Im 21. Jahrhundert mit seiner zugespitzten politischen Realität werden Rituale auch seitens aufgeklärter Zeitgenossen wie Jürgen Habermas jedoch neu als wesentliche Form menschlicher Kommunikation begriffen und aufgewertet.

Fragen, die unsere Gesellschaft heute unabhängig von konfessionellen Bindungen bewegen, lauten: Worauf können wir uns verlassen? Was sind Werte, die wirklich zählen? Braucht Europa das Christentum? Aber auch: Welche Gefahren birgt die Religion in sich? Können moderne Menschen mit guten Gründen glauben?

Es bleibt festzuhalten: Wir leben – wie Bischof Joachim Wanke zeigt – in einer Welt, in der Spiritualität, Ritual und Religion auf neue Weise als Lebensmacht zu begreifen sind. Dass sich dabei wiedererwachte Religiosität jedoch alles andere als unproblematisch erweist – sogar als Waffe im Kampf gegen „Ungläubige“ und fremde Identitäten missbraucht wird – das steht Papst Benedikt XVI. klar vor Augen. Seine in diesem Band dokumentierte Rede im Deutschen Bundestag ist historisch zu nennen. Vielleicht kommt dem Papst heute die Rolle des „Pontifex maximus“, des „obersten Brückenbauers“, in der Weise zu, die „westliche Zivilisation“ mit globalen Glaubenserfahrungen zu konfrontieren und einen großen interreligiösen Dialog zu initiieren. ← 14 | 15 →

2.  Irritation – Sprache – Erkenntnis

„Wir haben hier neulich Döblins Geburtstag gefeiert“, notiert Thomas Mann über den 14. August 1943 in einem Brief. Emigranten mit klangvollen Namen geben sich an diesem Tag in Santa Monica die Ehre. Die künstlerische Prominenz im Exil ist erschienen, um Alfred Döblin zu seinem 65. Geburtstag zu ehren. Nach der Begrüßungsrede von Heinrich Mann tragen Fritz Kortner und Peter Lorre Texte des Autors von Berlin Alexanderplatz (1929) vor. Danach betritt der Geehrte selbst die Bühne. „Die Dankesworte des Jubilars waren bemerkenswert.“, fährt der Briefschreiber fort. „Der Relativismus sei der Ruin, sagte er. Heute gelte es, ‚das Absolute‘ anzuerkennen. Nachher im Gespräch mit mir, ging er weiter und erklärte: ‚Die Gêne, von Gott zu spechen, die wird einem ausgetrieben!‘ – So steht es. Ich habe mich noch mit meiner protestantisch-humanistischen Tradition zu drücken gesucht und gesagt, Katholiken und Juden hätten es leichter. Aber so steht es.“5

Anders als Thomas Mann, der ab Mai 1943 mit seiner Arbeit am 1947 publizierten Doktor Faustus6 beginnt, zeigt sich ein weiterer Beobachter dieser denkwürdigen Begebenheit keineswegs bereit, nachsichtig mit dem von ihm bewunderten Schriftsteller zu verfahren: Bertolt Brecht. „[U]nd am schluß“, heißt es dazu in seinem Arbeitsjournal, „hielt döblin eine rede gegen moralischen relativismus und für feste maße religiöser Art, womit er die irreligiösen gefühle der meisten feiernden verletzte.“7 Was war geschehen? Der Verfasser des bedeutendsten Großstadtromans der Weimarer Republik hatte ein Tabu verletzt: Er gab zu verstehen, dass er gläubig geworden sei.

Dass Thomas Mann dagegen Döblins Bekenntnis nicht in Bausch und Bogen verurteilt, hängt mit einer eigenen Option zusammen, die er angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung trifft: In einer Rede an „Amerikaner deutscher Herkunft“ begründet er sie: „Einen Menschen meiner Art, einen unpolitischen Menschen im Grunde, hätte aus Deutschland nichts, kein Regierungswechsel, keine politische Veränderung, keine Revolution vertreiben können, […], nur das, was sich Nationalsozialismus nennt, einzig nur Hitler und seine Bande. Denn das ist keine Politik und kein Staat und keine Gesellschaftsform, das ist die Bosheit der Hölle, und der Krieg dagegen ist die heilige Notwehr der Menschheit gegen das schlechthin ← 15 | 16 → Teuflische.“8

Dem deutschen Intellektuellen erscheint die Rede vom Triumph der Hölle keineswegs als Preisgabe der Aufklärung oder Kapitulation vor dunklen Mächten, sondern – über gutbürgerlich-moralische Kategorien hinaus – als Ressource, um den infernalischen Vernichtungswillen des Dritten Reiches literarisch-existentiell zu fassen.

Aufgrund seiner Einschätzung des „teuflischen“ Nationalsozialismus mit der unfassbaren Shoa war Thomas Mann seiner Zeit voraus. Im Doktor Faustus erfährt Döblins plötzliche Konfession bei ihm eine unerwartete Spiegelung: Sie schlägt sich im Bekenntnis des „Tonsetzers“ Adrian Leberkühn nieder – wird selbst zum Mittel, die Korrumpierbarkeit menschlicher Existenz zur Sprache zu bringen.

Manns Rekurs auf die Sprache der Religion eröffnet damit, so lässt sich im Blick auf eine Formulierung von Charles Taylor sagen, eine Quelle des Selbst9. Um die Interaktion des Religiösen mit dem Politischen ranken sich – wie Jürgen Habermas 2001 in seiner Friedenspreisrede zu Glauben und Wissen10 zeigt – spätestens seit 9/11 neue Forschungsfragen. Sie regen dazu an, das Verhältnis von Säkularisierung und Moderne in den Blick zu nehmen und gründlich zu erörtern.

Völlig anders, nämlich in der Tradition der Religionskritik des 19. und 20. Jahrhunderts und vorausweisend auf den „wissenschaftlich Atheismus“ der DDR-Zeit, positioniert sich Bertolt Brecht zum Thema „Glauben und Wissen“. Nach der unerwarteten Szene mit seinem Schriftsteller-Kollegen vollzieht er eine polemische Abrechnung mit Döblin, seinem literarischen Vorbild – und greift dabei selbst auf christliche Sprachspiele zurück.

„Brecht wusste genau um die Wirkung christlicher Rhetorik, die er nicht nur für seine politische Botschaft nutzbar zu machen wusste, sondern der er auch, zumindest in Teilen, den Glanz seines lyrischen Werkes schuldet.“11, kommentiert die Schriftstellerin Felicitas Hoppe diesen Umstand hellsichtig.

Als Reaktion auf die Geburtstagsfeier verfasst BB das Gedicht Peinlicher Vorfall:

Peinlicher Vorfall.
Als einer meiner höchsten Götter seinen 10.000 Geburtstag
beging
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Kam ich mit meinen Freunden und meinen Schülern, ihn zu
feiern
Und sie tanzeten und sangen vor ihm und sagten Geschriebenes
auf.
Die Stimmung war gerührt. Das Fest nahte seinem Ende.
Da betrat der gefeierte Gott die Plattform, die den Künstlern
gehört
Und erklärte mit lauter Stimme
Vor meinen schweißgebadeten Freunden und Schülern
Daß er soeben eine Erleuchtung erlitten habe und nunmehr
Religiös geworden sei und mit unziemlicher Hast
Setzte er sich herausfordernd einen mottenzerfressenen
Pfaffenhut auf
Ging unzüchtig auf die Knie nieder und stimmte
Schamlos ein freches Kirchenlied an, so die irreligiösen Gefühle
Seiner Zuhörer verletzend, unter denen
Jugendliche waren.
Seit drei Tagen
habe ich nicht gewagt, meinen Freunden und Schülern
unter die Augen zu treten, so
Schäme ich mich
.12

Gekonnt parodiert Brecht die Sprachwelt der Lutherbibel. Nicht zufällig charakterisiert er manche seiner Lieder und Gedichte selbst als „Psalm“, „Choral“ oder „Gebet“. Beim vorliegenden Text fühlt sich der Leser unwillkürlich an das Alte Testament erinnert. Gewitzt stellt der Schriftsteller die bisherigen Glaubens-Verhältnisse auf den Kopf. Er bedient sich einer Strategie der Umkehrung, um mit Hilfe biblischer Sprechmuster seine Geringschätzung von Judentum und Christentum, von Religion überhaupt, zum Ausdruck zu bringen: Für die eigene Irreligiosität reklamiert der Dichter dabei selbstverständliche Anerkennung. Sie erscheint hier als das Normale und Vernünftige. Für den Religionskritiker steht fest: Döblins Konfession verletzt die Gefühle der Ungläubigen. Vor allem die Anspielung auf anwesende Jugendliche – also schutzlose junge Leute – erweist sich als gekonnter Einfall. Denn: Galt es in früheren Zeiten, Jugendliche vor gottlosen Schriften zu schützen, so sei heute darauf zu achten, sie von religiösen Einflüssen fernzuhalten.

Details

Seiten
257
Erscheinungsjahr
2014
ISBN (PDF)
9783653043600
ISBN (ePUB)
9783653950250
ISBN (MOBI)
9783653950243
ISBN (Hardcover)
9783631579213
DOI
10.3726/978-3-653-04360-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Säkularisierung Konfessionen Staatssicherheit Glaube und Denken Islam Medien
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 257 S., 4 s/w Abb.

Biographische Angaben

Thomas Brose (Band-Herausgeber:in)

Thomas Brose, Theologie- und Philosophiestudium in Erfurt, Berlin und Oxford. Lehraufträge für Religionsphilosophie und Ethik in Berlin, Potsdam und Dresden. Wissenschaftlicher Projektleiter am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie in Erfurt; Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste.

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Titel: Religion – Macht – Freiheit