Trasjanka und Suržyk – gemischte weißrussisch-russische und ukrainisch-russische Rede
Sprachlicher Inzest in Weißrussland und der Ukraine?
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhalt
- „Trasjanka“ und „Suržyk“ – zum Mischen von Sprachen in Weißrussland und der Ukraine: Einführung in die Thematik und Ausblick auf den Band
- Conflicting epistemologies in the study of mixed languages
- ‘Trasjanka’ and ‘Ceskoslovencina’ (Czechoslovak) as discursive emic categories: history and current usage
- 1. Introduction
- 2. Data and methodology
- 3. Metadiscursive and metasocietal (metacultural) categorizations
- 4. Simple name vs. category
- 4.1. MCA categories
- 4.2. Category-bound language categories
- 4.3. Category-bound social categories
- 4.4. Category-bound personal identities
- 4.5. Category-generated evaluations
- 4.6. Category-bound activities
- 5. The history of the two categories
- 6. Expert etic view on non-expert emic “Trasjanka” and “Czechoslovak”
- 7. Conclusion
- Appendix: Data extracts in the original languages
- Die weißrussische Trasjanka und der ukrainische Suržyk: Quasi-ethnische, russifizierte Substandards in der Geschichte der sprachlichen Situation
- 1. Trasjanka und Suržyk: Zankapfel in Linguistik und Gesellschaft Weißrusslands und der Ukraine
- 2. Präzisierung des Umfangs der Begriffe „Trasjanka“ und „Suržyk“
- 3. Entstehung von Suržyk und Trasjanka: schleichende Russifizierung der ethnischen Rede
- 4. Die Trasjanka und der Suržyk in der sprachlichen Situation Weißruss-lands und der Ukraine: quasi-ethnische Volkssprachen
- 5. Über die verschiedenen Vektoren in der Geschichte der Beziehungen der weißrussischen Idiome zur russischen Sprache
- 6. Über die Grenze zwischen weißrussischer normativer und Substandard-Rede unter den Bedingungen einer alles durchdringenden Interferenz der russischen Sprache
- 6.1. Bauprinzipien des Kontinuums von Varianten weißrussischer und russi-scher Rede in Weißrussland: Verbindung von soziolinguistischen Merkmalen und Interferenzgradunterschieden
- 6.2. Die weißrussische literatursprachliche Rede, mündlich und schriftlich, von Personen mit weißrussischer Literatursprache als Mutter- und Basissprache
- 6.3. Weißrussische Rede, in den Hauptzügen normativ, mündlich und schrift-lich, von Menschen mit russischer Literatursprache als Mutter- und Basis-sprache
- 6.4. Weißrussische Rede von Personen mit dialektaler weißrussischer Sprache als Mutter- und Basissprache
- 6.5. Russische literatursprachliche Rede von Personen mit russischer Literatursprache als Mutter- und Basissprache
- 6.6. Im Wesentlichen normative russische Rede von Personen mit weißrussi-scher Muttersprache (Literatursprache oder Dialekt) und dominierender russischer Sprache
- 6.7. Russische Rede von Personen mit russischer Prostorečie-Sprache (in Weißrussland) als Mutter- und Basissprache
- 6.8. Russische Rede von Personen mit weißrussischer dialektaler Sprache als Mutter- und Basissprache
- 6.9. Unterschiede zwischen normativer und Substandard-Rede, die nicht mit weißrussisch-russischer Interferenz verbunden sind
- 6.10. Trasjanka als Kontinuum weißrussischer Substandard-Ideolekte von Personen, die unvollständige Achtklassenbildung haben und ein Idiom verwenden
- 7. Areale Unterschiede zwischen den Trasjanka-Ideolekten hinsichtlich des Interferenzgrades (Versuch einer quantitativen Bewertung)
- 7.1. Quantitatives Verhältnis weißrussischer und russischer Differenz-Wörter in der Rede der vier Informanten
- 8. Hierarchie der Faktoren, die die Resistenz weißrussischer und ukraini-scher Ideolekte in Hinsicht auf russifizierende Interferenz beeinflussen
- 9. Fazit
- Anhang
- Vier Trasjanka-Texte mit Tabellen der weißrussisch-russischen Unterschiede (s. Kap. 7)
- I.Text und Tabelle der Unterschiede in der Rede des ersten Informanten
- II.Text und Tabelle der Unterschiede in der Rede des zweiten Informanten
- III.Text und Tabelle der Unterschiede in der Rede des dritten Informanten
- IV.Text und Tabelle der Unterschiede in der Rede des vierten Informanten
- Die weißrussisch-russische Mischsprache (Trasjanka) als Forschungsproblem
- 1. Mischsprachen in Mittel- und Osteuropa
- 2. Mischsprachen als Forschungsobjekt
- 3. Mischsprachen in Weißrussland
- 3.1. Außersprachliche Faktoren
- 3.2. Psycholinguistische Faktoren
- 3.3. Linguistische Faktoren
- 3.3.1. Sprachliches Kontinuum
- 3.3.2. Interferenzen
- 3.3.3. Bilinguismus
- 3.3.4. Bilinguismus und Diglossie
- 4. Konvergenz versus Divergenz der Entwicklung der Varianten der weißrussischen und russischen Sprache
- 5. Zur Forschungsgeschichte der Trasjanka
- 6. Datenerhebung und Dateninterpretation
- 7. Statistik
- 8. Terminus, Definition und Charakteristik der Trasjanka
- 9. Typen / Varianten der Trasjanka
- 9.1. Trasjanka I (weißrussische Basis)
- 9.2. Trasjanka II (russische Basis)
- 9.3. Trasjanka III (weißrussisch-russische Mischbasis)
- 10. Ethnolekte
- 10.1. Ethnolekt I (russische Basis)
- 10.2. Ethnolekt II (weißrussische Basis)
- 11. Sozial-kommunikative Funktionen und geographische Schichtung
- 12. Existenzformen: mündlich versus schriftlich
- 13. Bewertung
- 14. Kodemischung
- 15. Pidgin – Kreol
- 16. Interlinguale und regionale Varianz der Sprachelemente
- 17. Sprachvarietäten (Idiolekt – Soziolekt – Prostorečie)
- 18. Norm (Usus)
- 19. Perspektiven
- Zur öffentlichen Diskussion der weißrussischen Sprachkultur, zum Aufkommen des Terminus „Trasjanka“ und zur modernen Trasjankaforschung
- 1. Einführung
- 2. Die Trasjanka als Diskurs
- 2.1. Vorgeschichte der Ausarbeitung des Themas „Trasjanka“ in der Zeitung “Litaratura i mastactva” in den Jahren 1986 bis 1988
- 2.2. Trasjanka im parawissenschaftlichen Diskurs
- 3. Die Anfänge des Studiums der „Trasjanka“ in Weißrussland (1990er Jahre)
- 3.1. Der Terminus und das Phänomen „Trasjanka“ im wissenschaftlichen Diskurs
- 3.2. Die Besonderheiten der Etablierung des Terminus „Trasjanka“ im wissenschaftlichen Diskurs in den 1990er Jahren
- 4. Schwierigkeiten bei der Fixierung der Trasjanka als Forschungsgegenstand
- 4.1. Die Mehrdimensionalität des Phänomens Trasjanka und die Notwendigkeit seiner differenzierten Betrachtung
- 4.2. Sprache vs. Rede
- 4.3. Die Identifizierung der Trasjanka und das Wahrnehmungs-Problem
- 5. Fazit
- Social and structural factors in the emergence of mixed Belarusian-Russian varieties in rural Western Belarus
- 1. Introduction
- 2. Approaches to the study of cognate language contact and convergence
- 3. Language mixture as a functional-structural continuum: from codeswitching to fused lects
- 4. Language mixture as socio-stylistic continuum: code-shifting and con-tinuum grammars
- 5. The socio-stylistic continuum in Malaja Berastavica
- 5. Conclusions
- Soziolinguistische, soziokulturelle und psychologische Grundlagen gemischten Sprechens
- 1. Einleitung
- 2. Trasjanka: Sprache oder Sprechen?
- 3. Ländliche und städtische Trasjanka
- 4. Einige Schlussfolgerungen
- Trasjanka und Halbdialekt: Zur Abgrenzung von Phänomenen der parole und der langue
- On the systemicity of Belarusian-Russian Mixed Speech: the redistribution of Belarusian and Russian variants of functional words
- 1. Theoretical considerations
- 1.1. Conceptual background
- 1.2. Dimensions of variation in linguistic space
- 2. Analysis
- 2.1. Scope
- 2.2. Database and initial overview
- 2.3. Individual analyses
- 2.3.1. Belarusian and Russian variants with a purely phonetic-phonological differentiation
- 2.3.2. Belarusian and Russian variants with a differentiation in morphonematic representation
- 3. Summary and conclusions
- Morphological hybrids: Belarusian-Russian word forms in Belarusian Trasjanka
- 1. Introduction
- 2. The corpus
- 3. Regarding the method
- 4. General observations regarding the “origin” of the morphemes or morphs
- 5. Types of hybrids
- Type (a)
- Russian noun endings
- Russian adjective and pronoun endings
- Type (b)
- Belarusian noun endings
- Belarusian verb endings
- Belarusian adjective and pronoun endings
- 6. Final remarks
- Die Einstellung zu den gemischten sprachlichen Kodes in Weißrussland (am Material eines matched guise-Tests)
- 1. Einführung
- 2. Vorbereitung des Experiments
- 3. Respondenten
- 4. Untersuchungsgang
- 5. Frühere Untersuchungsergebnisse
- 6. Allgemeine Ergebnisse des Experiments
- 7. Einstellung zu den gemischten sprachlichen Kodes
- 7.1. Einstellung zur gemischten weißrussisch-russischen Rede (Typ 1)
- 7.2. Einstellung zur gemischten russisch-weißrussischen Rede (Typ 2)
- 7.3. Einstellung zu erworbener weißrussischer Rede (Typ 3)
- 8. Abschließende Bemerkungen zum Experiment
- Trasjanka-Elemente als Marker für soziale Stratifikation in der Stadt Minsk
- Ukrainisch-russischer Suržyk: Status, Bewertungen, Tendenzen, Prognosen
- An alternative interpretation of Suržyk: Dialectal and diachronic aspects
- 1. Introduction
- 2. Terminological specifications
- 3. Why an alternative interpretation?
- 4. Synchronic perspective
- 5. Dialect interaction in the making of Suržyk
- 6. A diachronic approach
- 7. Archaisms in dialects and Suržyk
- A) Example of Suržyk speech
- B) Collection of Polissian dialects
- C) 18th / 19th Century texts
- Linguistic commentary
- 8. Conclusion
- Der Suržyk im System nah verwandter Zweisprachigkeit: soziolinguistischer und linguistischer Aspekt
- 1. Zur Einführung
- 2. Soziolinguistische Charakteristik des Suržyk
- 3. Sprachliche Charakteristik des Suržyk
- 3.1. Phonetik
- Konsonanten
- Vokale
- 3.2. Lexik
- 3.3. Grammatik
- Suržyk im System umgangssprachlicher Formen des Ukrainischen
- Suržyk: Besonderheiten des Mischens der ukrainischen und der russischen Sprache im Bezirk Kiev
- Fazit
- Ein Blutschandekind der Postmoderne
- Zum erstaunlichen Schicksal des Suržyk
- Zu den Spezifika des Suržyk als Ethnokonzept
- Fazit
- Literatur
„Trasjanka“ und „Suržyk“ – zum Mischen von Sprachen in Weißrussland und der Ukraine: Einführung in die Thematik und Ausblick auf den Band
Weißrussland und die Ukraine gelten gemeinhin als zweisprachige Staaten: weißrussisch-russisch bzw. ukrainisch-russisch. Damit wird keineswegs in Abrede gestellt, dass in beiden Ländern noch weitere, dritte, vierte etc. Sprachen anzutreffen sind, wovon hier nur das Polnische genannt werden soll, das im Westen beider Länder eine Rolle spielt. Allerdings können diese anderen Sprachen hier vernachlässigt werden. Bei der weißrussisch-russischen und ukrainisch-russischen Zweisprachigkeit der Länder geht es um die jeweils quantitativ und / oder rechtlich am stärksten exponierten Sprachen dieser Länder mit einer quasi flächendeckenden und nicht nur auf bestimmte Areale beschränkten Bedeutung im Lande. Mithin geht es um das Nebeneinander der Sprachen der Titularnationen bzw. -ethnien mit der Sprache, die schon zum Ende der Zarenzeit und dann noch viel mehr in der Sowjetunion (abgesehen von einem sprachenpolitisch liberalen Jahrzehnt der frühen Räterepublik) politisch und gesellschaftlich dominierte.
Millionen von Menschen in Weißrussland und der Ukraine sprechen – zumindest in gewissen Situationen – nicht Weißrussisch bzw. Ukrainisch oder eben Russisch „in Reinform“. Vielmehr praktizieren sie eine gemischte weißrussisch-russische bzw. ukrainisch-russische Rede. Diese deutlich gemischten Formen der Rede aus genetisch eng verwandten und strukturell sehr ähnlichen ostslavischen Sprachen werden in Weißrussland „Trasjanka“ und in der Ukraine „Suržyk“ genannt. Der bekannte ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchovyč hat das Phänomen in seiner Heimat vor Jahren als „Blutschandekind des Bilingualismus“ angesprochen, also eine Metapher des Inzests kreiert. Darauf hebt der Untertitel des vorliegenden Bandes ab. In ihm wie auch in der Metapher des ukrainischen Autors klingt die negative Konnotation der beiden Formen gemischter Rede an. Ihnen ist der vorliegende Band gewidmet. Doch zunächst soll ihr Hintergrund umrissen werden.
Ohne eine profunde Beherrschung der russischen Sprache war eine „normale“, erst recht eine akademische berufliche Karriere in der Weißrussischen und Ukrainischen Sowjetrepublik nicht möglich. Dies hat über die Jahrzehnte in der Sprachenlandschaft beider Länder tiefe Spuren hinterlassen. Zumindest in Weißrussland hat sich daran bis heute nichts geändert, wohingegen das Ukrainische in der selbständigen Ukraine durchaus eine beträchtliche formalrechtliche und institutionelle Stärkung erfahren hat. Ob faktisch damit seine ← 1 | 2 → Etablierung in der Breite der Gesellschaft einhergeht, muss als noch offene Frage angesehen werden (vgl. HENTSCHEL & KITTEL 2014).
In der Sowjetunion galt bekanntlich die offizielle Doktrin eines harmonischen Nebeneinanders der Allunionssprache und, außerhalb der Russischen Sowjetrepublik, „zweiten Muttersprache“ Russisch mit den jeweiligen „autochthonen Muttersprachen“. Propagiert wurde auch die Vorbildrolle der Entwicklung des Russischen, insbesondere für die beiden anderen ostslavischen Sprachen, also das Weißrussische und das Ukrainische. Das war natürlich zunächst nicht nur oberflächlich eine wesentlich liberalere Einstellung der sowjetischen Staatsmacht im Vergleich zur Zarenherrschaft, unter der zwischen den 1860-er Jahren und 1905 die Verwendung des Weißrussischen und Ukrainischen im öffentlichen Raum verboten war. Dennoch barg die offizielle sowjetische „Sprachenharmonie“ nicht zuletzt für die strukturell und genetisch ähnlichen Sprachen in den beiden hier zur Debatte stehenden Ländern ein enormes Konfliktpotenzial, das bis heute wirkt.
In jüngster Vergangenheit ist dieses Konfliktpotenzial dem nicht professionellen westlichen Betrachter des östlichen Nachbarareals der Europäischen Union etwas deutlicher geworden, wenn westliche Medien z.B. im Mai 2012 von handgreiflichen Auseinandersetzungen bei Debatten im Parlament der Ukraine über ein Sprachengesetz berichteten. Dort ging es um ein aus dem politischen Lager des inzwischen gestürzten Staatspräsidenten Janukovyč forciertes Gesetz, welches das Russische in der Ukraine aufwerten sollte, und zwar zur Regionalsprache, da es im Süden und Osten als Sprache des täglichen Gebrauchs eine dominierende Rolle einnimmt (vgl. jüngst HENTSCHEL & KITTEL 2014). Im Westen Europas wird eine sozusagen emanzipatorische Aufwertung einer Minderheitensprache in der postsowjetischen Ukraine, wo das Ukrainische laut Verfassung die einzige Staatssprache ist, als politisch korrekt, ja geradezu als demokratische Pflicht angesehen, zumal die Minderheit der Russen bzw. Russischsprachigen ja eine riesige ist im Vergleich etwa zu den Sorben in Deutschland. Vor diesem Hintergrund war es ein Leichtes für den Kreml’, die ukrainische Interimsregierung in ein antidemokratisches und antirussisches Licht zu stellen, als im Februar 2014 das ukrainische Parlament die unter Janukovyč durchgesetzte rechtliche Aufwertung des Russischen zur Regionalsprache in Regionen mit min. zehn Prozent russischer „Muttersprachler“ wieder aufhob. Dies ware eine zweifellos ungeschickte politische Maßnahme in der aufgewühlten Lage und ein Zeichen von wenig Vertrauen in die Stärke des Ukrainischen. Dass diese Aufhebung nicht in Kraft trat, da schon der damalige Interimspräsident sein Veto einlegte, blieb den meisten verborgen.
Da sehen doch die Dinge in Weißrussland auf den ersten Blick viel demokratischer aus. Der weißrussische Staatspräsident Lukašėnka, der allerdings im Gegensatz zu anderen Staatsführern im osteuropäischen Raum von westlichen Beobachtern nicht als „lupenreiner Demokrat“ gesehen wird, machte bald nach ← 2 | 3 → seiner ersten Wahl vor nunmehr rund zwanzig Jahren das Russische zur zweiten Staatssprache neben dem Weißrussischen, ohne Zweifel im Sinne vieler Bürger des gerade erst wenige Jahre unabhängigen Staates. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit, d.h. vor der Wahl Lukašėnkas, war dagegen ein ähnlicher Weg wie in der Ukraine eingeschlagen worden, mit dem Weißrussischen als alleiniger Staatssprache. Von Weißrussland weiß man jedoch, dass das Weißrussische weitgehend vom Russischen verdrängt worden ist und im Alltag der Gesellschaft nur noch eine periphere Rolle spielt (vgl. HENTSCHEL & KITTEL 2011b/c; 2014). Dabei haben sich die Dinge für das Weißrussische in den letzten zwei Jahrzehnten der Selbständigkeit ganz offenbar noch verschlechtert. Es setzten sich also die „sowjetischen Tendenzen“ fort, was selbst die offiziellen Volkszählungen von 1989, 1999 und 2009 belegen. Ein Konflikt bezüglich des Weißrussischen und des Russischen in Weißrussland ist zumindest an der medialen Oberfläche nicht sichtbar, welche ja die Wahrnehmung der beiden Länder im Westen bestimmt. Es herrscht offensichtlich „Ruhe“, was in autoritär regierten Staaten bekanntlich ein wesentliches Anliegen der Politik ist. Man kann in Weißrussland fast von einer Fortführung der sowjetischen Doktrin des harmonischen Nebeneinanders des Weißrussischen und Russischen von offizieller Seite sprechen, die mit einer eher kosmetischen Beschönigung der Lage des Weißrussischen einhergeht. Nur in Ansätzen lässt sich beispielsweise beim Präsidenten Weißrusslands selbst jüngst eine (zumindest nach außen) positivere Einstellung zum Weißrussischen erkennen, nachdem er die Bedeutung des Weißrussischen zu Zeiten, als eine persönliche „allrussische“ Führungsrolle noch möglich schien, mehrfach polemisch angezweifelt hatte (vgl. BRÜGGEMANN 2014, 152‐196). Die Einstellung der „einfachen“ Weißrussen zum Weißrussischen ist dagegen durchaus positiv. Dies betrifft jedoch eher den symbolischen (negativ formuliert: musealen) Wert, den man seiner „Muttersprache“ beimisst, ohne sie faktisch im Alltag zu verwenden. Die Lage des Weißrussischen im gesamten Land ist schlecht und vergleichbar mit der des Ukrainischen im Osten der Ukraine, im sog. Donbas.
Sicherlich ist die Basis des Ukrainischen in der Ukraine noch wesentlich besser als die des Weißrussischen in Weißrussland. Dies gilt besonders im Westen, aber mit Abstrichen auch im großen Raum des Zentrums, nicht dagegen im Süden und Osten. Dennoch bestehen auch in der Ukraine starke Befürchtungen, dass sich die Verdrängung des Ukrainischen,die – wie die des Weißrussischen – als gradueller Prozess in der Sprachenpolitik der Sowjetunion angelegt war und nur in denjenigen Arealen wenig voranschreiten konnte, die bis 1945 niemals unter Moskauer Herrschaft standen (im Westen), bei einer staatlichen Gleichberechtigung des Russischen fortsetzen würde. Die faktische Marginalisierung des Weißrussischen in Weißrussland mit ihrer Verstärkung auch nach dem Zerfall der Sowjetunion liefert das abschreckende Beispiel. Die Beiträge der Kolleginnen und Kollegen aus Weißrussland und der Ukraine in diesem ← 3 | 4 → Band zeugen, trotz verschiedener substanzieller Unterschiede in ihren Standpunkten, fast durchgehend von dieser Angst.
Die grundlegende Bedrohung für das Weißrussische und Ukrainische besteht also in einer sich weiter verstärkenden Bedeutung –d.h. ausweitenden Verwendung – des Russischen in beiden Ländern. So ist z.B. die Medienlandschaft in Weißrussland extrem, in der Ukraine noch stark russisch geprägt, nicht zuletzt der Bereich der Unterhaltung (vgl. TARANENKO 2013). Transponiert wird die Furcht vor dieser Entwicklung jedoch auf ein anderes Phänomen, das – wie oben schon gesagt – in beiden Ländern sehr verbreitet ist: die gemischte Rede, d.h. die weißrussisch-russische gemischte Rede (WRGR) und die ukrainischrussische gemischte Rede (URGR). In den Ländern selbst haben diese gemischten Redeformen schon außerhalb des wissenschaftlichen Bereichs eigene Namen erhalten, in Weißrussland „Trasjanka“, in der Ukraine „Suržyk“1. In diesen Namen für „makkaronistische“ Rede erhalten die beiden Wörter eine metaphorische Bedeutungserweiterung. Der ukrainische Terminus bezeichnet ursprünglich ein Gemisch aus Weizen und Roggen oder aus Roggen mit Gerste oder Hafer sowie das jeweilige Mehl aus diesen Mischungen (UME s.v. suržyk), also qualitativ schlechteres Mehl, wenn man reines Weizenmehl für Weißbrot oder Kuchen oder Roggenmehl für dunkles Brot am meisten schätzt. Noch deutlicher wird die pejorative Konnotierung beim weißrussischen Terminus, der ursprünglich mit Stroh gestrecktes Heu, also schlechtes Viehfutter, bezeichnet, das der Bauer seinem Rindvieh nur in Notzeiten bei Futtermangel gibt. Besonders dem Namen „Trasjanka“ haftet also indexalisch (im Sinne von Peirce) die Nuance des Bäuerlichen an, und zwar des Bauern, den es aus den Dörfern in die Stadt verschlagen hat, wo man ihn nicht zuletzt an seiner Sprache erkennt.
In dieser Metapher wird auch der Ort angedeutet, an welchem die WRGR und die URGR in ihren modernen Ausprägungen vor und (besonders in Weißrussland) nach dem Zweiten Weltkrieg sich entwickelt haben – zumindest aus der Sicht der Mehrheit der Forscher: die Städte. Unter diesen waren es weniger die Hauptstädte, die seit langem eine starke sprachliche Russifizierung zeigen, als mittlere und kleinere Städte, neue Industriestandorte u.ä., die den Nährboden für die enorme Verbreitung von WRGR und URGR bildeten. Bedingt war dies durch die massive Industrialisierung und Urbanisierung, welche die Ukraine und nach dem Zweiten Weltkrieg auch Weißrussland erfahren haben (vgl. TARANENKO 2008; ZAPRUDSKI 2007). Verbunden mit diesen Phänomenen war einerseits ein Zuzug von russischsprachigem Führungspersonal, vor allem aus der russischen Sowjetrepublik, andererseits eine Land-Stadt-Migration. Dies ist die ← 4 | 5 → soziale „Kreolisierung“, die in vielen weißrussischen und ukrainischen Studien beklagt wird, mit russischen „Herren“ und weißrussischen bzw. ukrainischen „Untergebenen“2 (vgl. verschiedene Beiträge im vorliegenden Band). In den Städten mussten sich die Land-Stadt-Migranten sprachlich dem Russischen annähern, was in einer eben approximativen Redeform, einer sog. Interlanguage, resultierte. In dieser vollzog sich in der Regel auch die sprachliche Erstsozialisierung der Kinder von Land-Stadt-Migranten. Hunderttausende, wenn nicht Millionen wuchsen im Kontext einer hoch variativen Rede auf, was von weißrussischen, ukrainischen und russischen Beobachtern dieser Phänomene in der Regel nicht thematisiert wird. Damit gerät aus dem Fokus, dass WRGR und URGR spätestens ab der zweiten Generation ihrer Sprecher nicht aus spontanem Mischen zweier wie gut auch immer zuvor erworbener Sprachen resultieren, sondern dass sich der Erwerb des Weißrussischen und Ukrainischen einerseits sowie des Russischen andererseits durch kontextbezogenes Unterdrücken jeweils sozial inadäquater Ausdrücke und Konstruktionen ergab. Bei diesen Sprechern wurden Russisch und Weißrussisch bzw. Ukrainisch aus der primär praktizierten WRGR bzw. URGR heraus erworben, was meist erst in der Schule mit einer gewissen Systematik geschah (vgl. HENTSCHEL 2013a; HENTSCHEL & ZELLER 2013). Und dort dominierte in der Regel schon das Russische, was die Defizite vieler Weißrussen erklärt, einen längeren Diskurs im Weißrussischen zu gestalten. Die weißrussische Sprache ist als Schulfach obligatorisch, spielt als Unterrichtssprache aber eine immer geringere Rolle, und wird am Ehesten noch in unteren Schulformen in ländlichen Bereichen verwendet. Dies alles wiederum resultiert in einer verbreiteten Diglossie zwischen der WRGR bzw. URGR als sog. „Low-Variante“ einerseits und dem Russischen als „High-Variante“ andererseits, wobei dies in Weißrussland das gesamte Areal und in der Ukraine hauptsächlich den großen Raum des Zentrums betrifft. Die beiden Länder sind also (ganz abgesehen von Minderheitensprachen) im Grunde dreisprachig, wobei das Weißrussische in Weißrussland kaum noch eine Rolle spielt und in der Ukraine das Ukrainische besonders im Westen und mit Abstrichen noch im Zentrum eine lebendige Basis hat.
Insofern vollzog sich in beiden Ländern etwas, was sich in vielen Regionen Europas beobachten lässt: die Herausbildung von Stadtdialekten oder Regiolekten aus autochthonen Dialekten und der dominierenden Standardsprache. Nur war letztere eben nicht die Standardsprache der Titularnation, also Weißrussisch und Ukrainisch, sondern Russisch. Diese allgemeineuropäischen Parallelen werden in der Diskussion in den beiden Ländern in der Regel nicht gesehen. Selbstverständlich sind WRGR und URGR inzwischen auch auf dem Land, in ukraini ← 5 | 6 → schen und weißrussischen Dörfern, anzutreffen. Hier kann aber von einer sekundären Ausweitung ausgegangen werden.
Zu beachten ist dabei, dass es Formen der weißrussisch-russischen und ukrainisch-russischen gemischten Rede schon weit vor der sowjetischen Industrialisierung und Urbanisierung der beiden Länder gegeben hat. Dies ging einher mit der Ausweitung des Machtbereiches der Moskauer und Petersburger Zaren, die ab Mitte des 17. Jahrhunderts den östlichen Bereich der heutigen Ukraine und dann gegen Ende des 18. Jahrhunderts den gesamten weißrussischen und ukrainischen Raum einschloss, mit Ausnahme des habsburgischen Galizien um Lemberg / Lwów / L’viv. Diese dann österreichischen und russischen Areale gehörten bekanntlich zuvor zum Polnisch-Litauischen Königreich. Die Frage ist jedoch, ob die damals auftretenden Instanzen der weißrussisch-russischen und ukrainisch-russischen Sprachmischungen, die auch in historischen Texten nachzuweisen sind, als Vorläufer der modernen WRGR und URGR gesehen werden können bzw. die WRGR und URGR als Kontinuierung der frühen Formen der Mischung (wie es del Gaudio und Mečkovskaja im vorliegenden Band tun). Dagegen sprechen natürlich sprachsoziologische Faktoren, die in der weißrussischen und ukrainischen Diskussion in der Regel nicht hinterfragt werden. Erst zu sowjetischen Zeiten, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg3 , bildeten sich durch die oben angesprochenen Phänomene der flächendeckenden, massiven Industrialisierung, Urbanisierung, Land-Stadt-Migration und starken Immigration von Russischsprachigen nach Weißrussland und in die Ukraine soziale Strukturen aus, in denen die WRGR und die URGR in breiten Sprecherkreisen von Generation zu Generation weitergegeben wurden. (Als areale Domäne des Suržyk in der Ukraine gelten eben die weiten zentralen Areale.) Wenn in Texten des 19. oder sogar des 18. Jahrhunderts sprachliche Phänomene der gegenwärtigen Mischung von Ukrainisch oder Weißrussisch mit dem Russischen auftauchen, so liegt das eben daran, dass viele Strukturen, die Weißrussisch, Ukrainisch und Russisch heute kennzeichnen, auch damals schon entwickelt waren. Außerdem war auf dem Gebiet des ostslavischen Areals das Mischen von Sprachen in Mittelalter und früher Neuzeit ein absolut normales Phänomen (vgl. etwa ISSATSCHENKO 1980, z.B. 262‐271; USPENSKIJ 1994, 54‐100), nicht zuletzt, wenn dadurch ein besseres Verständnis auf Seiten des Empfängers der sprachlichen Mitteilung erreicht werden sollte. Die heute nicht nur in der normativen, sprachpflegerisch orientierten Sprachwissenschaft dominierenden Vorstellungen von unterschiedlichen Sprachsystemen bzw. von der „Reinheit“ der Sprachen (Purismus) darf man wohl auf den unglücklichen zeitlichen Zusammenfall der Entwicklung nationalistischer Vorstellungen in Politik und Gesellschaft sowie des Strukturalismus mit seinen statischen Vorstellungen prinzipiell geschlosse ← 6 | 7 → ner Sprachsysteme zurückführen. Alles, was variiert, zumindest „frei“ variiert, ist dem Strukturalismus zufolge nicht Langue / System, sondern Parole / Rede4 und insofern „uninteressant“. In der modernen Soziolinguistik, einer Soziolinguistik, die von den Ideen William Labovs ausgeht, hat sich dagegen die Ansicht etabliert, dass sich sprachliche Varietäten im Substandardbereich moderner Gesellschaften weniger qualitativ als quantitativ von anderen Varietäten im Kontext der jeweiligen Gesellschaften unterscheiden (siehe Hentschel im vorliegenden Band). Das impliziert natürlich, dass eine Analyse bzw. eine Inventarisierung einschlägiger einzelner sprachlicher Mischphänomene auf verschiedenen Strukturebenen z.B. in den hier zur Debatte stehenden Varietäten der WRGR und URGR nicht viel sagt. Und über solche Analysen ging die bisherige Forschung, insbesondere in den Ländern selbst, nicht hinaus. Zu untersuchen wäre die Verbreitung solcher gemischter Einheiten, Konstruktionen und Strukturen, unter Einbeziehung aller arealen und sozialen Dimensionen der Variation. Trotz einer Reihe von Untersuchungen aus den letzten drei, vier Jahren ist das noch ein weitgehend unerfülltes Desiderat.
Ein großes Problem für eine emotionslose, wissenschaftliche Analyse besteht sicher darin, dass mit den Termini „Trasjanka“ und „Suržyk“ Bezeichnungen in den wissenschaftlichen Diskurs eingezogen sind, die dem Wortschatz von Laien (im Sinne von Nicht-Sprachwissenschaftlern) entnommen wurden, auch wenn sie, wie etwa im jüngeren, weißrussischen Fall, ganz offenbar von sprachlich interessierten Laien stammen. Sprachwissenschaftler in den beiden Ländern sind sich darüber hinaus auch einig, dass der Terminus „Trasjanka“ in Weißrussland in der breiten Bevölkerung viel weniger bekannt ist als „Suržyk“ in der Ukraine, der als allgemein bekannt gilt. Überprüft wurde dies allerdings nicht. Dennoch kann es keinen Zweifel daran geben, dass die gemischte Rede in beiden Ländern von offizieller Seite, d.h. von sprachpflegerischen und kulturfördernden Stellen und auch im Schulbereich, negativ bewertet wurde und zum Teil immer noch wird. (Vereinzelte Ausnahmen liegen vor, worauf in einigen Beiträgen verwiesen wird.) Die negative Einstellung zu den gemischten Redeformen geht mit teils stigmatisierenden Charakterisierungen derselben einher. Eine sehr prominente Ausnahme im offiziellen Bereich bildet hier der weißrussische Präsident Lukašėnka, der in seiner öffentlich gemachten Befragung im Rahmen des Zensus von 2009 feststellte, dass in seiner Familie im Alltag Russisch und Weißrussisch gesprochen werde und dass durchaus auch die Trasjanka zu hören sei5. Viele Weißrussen werden Letzteres mit Erleichterung aufgenommen haben – da es ihren eigenen Redeusancen entspricht. Aber erst in letzter Zeit scheint ← 7 | 8 → sich auch sonst ein weniger gespanntes Verhältnis zur gemischten Rede zu entwickeln, so z.B. in der (nicht gerade regierungsnahen) Gesellschaft für weißrussische Sprache. Dieser steht seit Jahren Aleh Trusaŭ vor, der als einer von Wenigen schon früh eine unverkrampfte Einstellung zur WRGR gezeigt hat. In einem Interview am 16. August 2004 vertritt er die Meinung, die weißrussische Sprache könne in der Form der Trasjanka wiedergeboren werden6. In einem weiteren Interview vom 18. Januar 2013 legt er dar, auf welche Weise die Trasjanka aus seiner Sicht bei einer wirklichen Wiedergeburt des Weißrussischen im sprachlichen Leben der Bevölkerung helfen könne. An seine Studenten richtet er den Appell: Sprecht Trasjanka [also das, was sie gewohnt sind zu sprechen] und ersetzt allmählich die russischen Wörter durch weißrussische. Aber auch der Leiter des Instituts für Sprachwissenschaften (bzw. heute der entsprechenden Abteilung) der Weißrussischen Akademie der Wissenschaften A. Lukašanec stellt in einem Interview vom 20. Februar 2011 fest, dass er die Trasjanka als „weißrussische Rede mit russischen Elementen“ neben den „alten“ Dialekten und der Standardsprache sehr wohl als Varietät des Weißrussischen ansehe7.
Mit der Genese der beiden Termini auf der Basis von Laienkategorien korrelieren teilweise recht unterschiedliche Verwendungen in der wissenschaftlichen Literatur, mit einem mehr oder weniger breit gefassten Phänomenspektrum auf unterschiedlichen Ebenen. Dies offenbart sich auch in den vorliegenden Beiträgen und wird in demjenigen von Sjarhej Zaprudski explizit diskutiert. Mitunter wird z.B. unter „Trasjanka“ extrem verengt die gemischte Rede derjenigen verstanden, die nicht in der Lage sind, „reines“ Russisch bzw. Weißrussisch zu sprechen. Damit bewahrheitet sich dann sozusagen das Stereotyp der fehlenden Bildung der Trasjanka-Sprecher definitorisch-zirkulär, denn diejenigen, auf die diese spezifische Definition zugeschnitten ist, können angesichts des gut ausgebauten Bildungssystems in Weißrussland und auch in der Ukraine nur Bildungsferne sein. Gerade in einem solchen Herangehen von wissenschaftlicher Seite verbirgt sich eine weitere Stigmatisierung der gemischten Rede. Außerdem verschleiert es die enorme Verbreitung auch bei Personen mit durchschnittlicher oder besserer Bildung,dann meist in einem diglossischen Verhältnis zum Russischen.
Es gibt also gute Gründe, konnotativ belastete Termini im wissenschaftlichen Diskurs zu vermeiden. Deswegen werden z.B. in den Publikationen der Oldenburger Projekte die auch hier vorgeschlagenen Bezeichnungen „weißrussisch-russische gemischte Rede (WRGR)“ und entsprechend „ukrainisch-russi ← 8 | 9 → sche gemischte Rede (URGR)“ verwendet. Natürlich sind diese Paraphrasen nicht so „griffig“ wie die beiden Laientermini „Trasjanka“ und „Suržyk“. Damit kann man in der Wissenschaft leben. Der Verzicht auf die Verwendung konnotativ belasteter Termini befreit allerdings nicht von einer Reihe von Abgrenzungs- oder Definitionsproblemen. Ein wesentlicher Punkt ist dabei die Unterscheidung von spontanem und konventionalisiertem Mischen, also – um die bekannten strukturalistischen Termini zu bemühen – einem Mischen mit ausschließlichem Parole-Charakter und einem Mischen mit (zumindest ansatzweisem) Langue-Charakter. Dies ist keine leichte Aufgabe: Auf die graduellen Übergänge vom Mischen zweier Kodes zu einem gemischten Kode hat schon AUER (1999) hingewiesen, und auch darauf, dass sich spontanes und konventionalisiertes Mischen überlagern können, solange die beiden „Geberkodes“ im aktiven Gebrauch neben den gemischten Formen der Rede sind. Und genau dies ist ja in Weißrussland und der Ukraine der Fall, wenn auch mit verschiedenen Asymmetrien besonders zuungunsten des Weißrussischen, das nur noch eine periphere Rolle im Lebensalltag des Landes spielt (vgl. HENTSCHEL & KITTEL 2011b/c; 2014). Bei strukturell sehr ähnlichen Ausgangskodes mit einer großen Menge gemeinsamer „Diamorphe“ und kongruenter Konstruktionen kommt eine weitere Erschwernis hinzu. Verschiedene Beiträge im vorliegenden Band befassen sich mit dieser Problematik.
Eine zweite Problematik der Abgrenzung und Definition besteht darin, ob verschiedene Varianten von WRGR und URGR (Trasjanka / Suržyk) anzunehmen sind. Als Erste hat BILANIUK (2004) fünf Varianten des Suržyk vorgeschlagen. Ähnliches versuchen Nina Mečkovskaja, Curt Woolhiser, A. Ljankevič und I. Liskovec im vorliegenden Band. Für das ukrainische Phänomen ist die Sinnhaftigkeit einer solchen Aufgliederung von FLIER (2008) angezweifelt worden. Natürlich macht es Sinn, unterschiedliche sprachsoziologische Hintergründe derjenigen zu beleuchten, welche die gemischte Rede praktizieren. So sind beispielsweise sicherlich Land-Stadt-Migranten mit ursprünglich primär dialektaler (weißrussischer oder ukrainischer) Sozialisierung von „geborenen“ Städtern zu unterscheiden, die in gemischt sprechenden gesellschaftlichen Mikrostrukturen groß geworden sind – wie gesagt, oft Kinder der ersten Gruppe. Ob dies eine empirische Grundlage liefert, qualitativ-strukturell zwei entsprechende Varianten von WRGR und URGR zu unterscheiden, ist eine offene empirische Frage. Eine Warnung vor einer „Überkategorisierung“ ist in einem ganz anderen Zusammenhang mit Bezug zu Abgrenzungsphänomenen in Kontinua arealer Dialekte von BECHERT (1991, 12) formuliert worden:
Die Abgrenzbarkeit von Sprachen kommt […] in Europa teilweise erst durch die Ausweitung und Durchsetzung überregionaler Schriftsprachen seit Beginn der Neuzeit zustande.
Ähnlich ist es in Kontinua potenzieller sozialer Varietäten, zumal wenn diese wie die beiden gerade beispielhaft angesprochenen im alltäglichen Kontakt zu ← 9 | 10 → einander stehen. Es sollte dann eher mit quantitativ-graduellen Unterschieden gerechnet werden (zur WRGR vgl. HENTSCHEL & ZELLER 2013).
*****
Mit dem Ziel, eine breitere und tiefere Erforschung von WRGR und URGR in internationaler Kooperation einzuleiten, fand im Jahre 2007 ein internationales Symposium in der Slavistik der Universität Oldenburg statt, das von zweien der Herausgeber dieses Bandes organisiert wurde. Neben dem Oldenburger Gastgeber Gerd Hentschel war dies Sjarhej Zaprudski von der Weißrussischen Staatsuniversität Minsk, Lehrstuhl für die Geschichte der weißrussischen Sprache. Die Tagung stand unter der Überschrift Studies on Belorussian Trasianka and Ukrainian Suržyk as results of Belorussian- and Ukrainian-Russian language contact. Sie war außerdem als Initialzündung für ein Forschungsprojekt mit dem Titel Die Trasjanka in Weißrussland – eine „Mischvarietät“ als Produkt des weißrussisch-russischen Sprachkontakts. Sprachliche Strukturierung, soziologische Identifikationsmechanismen und Sozioökonomie der Sprache gedacht, das dann ab 2008 von Gerd Hentschel (Slavist und Sprachwissenschaftler) und seinem damaligen Oldenburger Kollegen Bernhard Kittel (Sozialwissenschaften, heute Wien) auf der Basis einer Förderung der Volkswagenstiftung im Rahmen des Förderprogramms Einheit in der Vielfalt? Grundlagen und Voraussetzungen eines erweiterten Europas durchgeführt wurde. Dieses Projekt ist inzwischen abgeschlossen8. Möglich war seine Durchführung nur in Kooperation mit der Weißrussischen Staatsuniversität Minsk. Aus der Weißrussistik war es wieder Sjarhej Zaprudski, der als Partner beteiligt war, aus den Minsker Sozialwissenschaften David Rotman vom Zentrum für soziale und politische Forschungen. Verschiedene der im Band vereinigten Beiträge nehmen Bezug auf dieses Projekt9. ← 10 | 11 →
Der vorliegende Band basiert weitestgehend auf Vorträgen, die auf der benannten Oldenburger Tagung gehalten wurden. Die Aufsätze wurden jedoch erst in den unmittelbar folgenden zwei, drei Jahren angefertigt. Einige unglückliche Umstände haben dann seine Veröffentlichung noch verzögert. Auch die Übersetzung von Aufsätzen aus dem Weißrussischen, Ukrainischen und Russischen brauchte ihre Zeit. Nötige Aktualisierungen in den Beiträgen wurden jedoch vorgenommen.
Im Folgenden sei ein Ausblick auf die Arbeiten angeboten, der vielleicht über das Übliche solcher Ausblicke in Sammelbänden hinausgeht. Damit soll nicht zuletzt dem slavistisch nicht vorgebildeten Leser eine gewisse Hilfestellung zur Einordnung der Beiträge in die jüngste und gegenwärtige Diskussion gegeben werden.
Details
- Seiten
- VI, 394
- Erscheinungsjahr
- 2014
- ISBN (PDF)
- 9783653050578
- ISBN (MOBI)
- 9783653950182
- ISBN (ePUB)
- 9783653950199
- ISBN (Hardcover)
- 9783631585337
- DOI
- 10.3726/978-3-653-05057-8
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2014 (September)
- Schlagworte
- Sprachkontakt Sprachmischung Mischsprachen Dialektausgleich Sprachenpolitik Sprachgeschichte Regiolekt
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. VI, 394 S., 11 Tab., 13 Graf.