Lade Inhalt...

Ernst Cassirer und die Literatur

von Dorothee Gelhard (Autor:in)
©2017 Monographie 328 Seiten

Zusammenfassung

Parallel zur «Philosophie der symbolischen Formen» publizierte Cassirer in den 20er Jahren mehrere Aufsätze zur Kunst, die klarer noch als in den philosophischen Darstellungen die Rolle der Literatur als Vermittlerin zwischen der Naturerkenntnis und dem Sittlichen thematisieren. Die Autorin untersucht, wie Cassirers Blick auf die Kultur dabei vor allem von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften geprägt ist. Sie zeigt, wie Cassirer in den Jahren des Exils den Dialog mit Aby Warburg fortsetzte, mit dessen Kulturwissenschaftlicher Bibliothek er bis zu deren Übersiedlung nach London eng zusammengearbeitet hat. Dort entwickelte er in erneuter Lektüre Goethes, Schillers, Corneilles und Thomas Manns eine Kulturwissenschaft, in der Natur- und Geisteswissenschaften einander nicht gegenüberstehen, sondern sich ergänzen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorbemerkung
  • Einleitung
  • I. Das Wesensmerkmal der symbolischen Form der Kunst
  • 1. Cassirer liest Goethe – die Entwicklung des Formbegriffs
  • 2. Cassirer liest Schiller – Freiheit als Bedingung für Erkenntnis
  • II. Ästhetische Theorie als Erkenntnisform
  • 1. Cassirer liest Hölderlin – die Funktion des mythischen Denkens
  • 2. Cassirer liest Kleist – die Funktion des sprachlichen Denkens
  • III. Formen des Erkenntnisgewinns in der symbolischen Form der Kunst: Das Nachwirken der Warburg-Schule
  • 1. Goethe und die geschichtliche Welt
  • 2. Platons Renaissance und die Schule von Cambridge
  • 3. Schiller und Shaftesbury
  • 4. Cassirer liest die Dramen Corneilles
  • IV. Die Wiederkehr Goethes
  • 1. Cassirer liest Thomas Manns Lotte in Weimar (1939/40)
  • 2. Die Goethe-Vorlesungen (1940/41)
  • V. Ausblick
  • 1. „Zur Logik der Kulturwissenschaften“ (1942)
  • 2. Goethe und die Kantische Philosophie (1944)
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

| 11 →

Vorbemerkung

Für vielfältige anregende Gespräche sei Barbara Picht sehr herzlich gedankt.

Prof. Dr. Irmela von der Lühe und Prof. Dr. Gail K. Hart sei herzlich für die Aufnahme des Buches in ihrer Reihe gedankt. Gewidmet ist das Buch meinem Mann als geduldigem Gesprächspartner, Erstleser und Ermunterer.

| 13 →

Einleitung

In seinem Artikel über Claude Lévi-Strauss und Erwin Panofsky1 berichtet Horst Bredekamp über die Bedeutung, die die Form der Ellipse für das Denken und wissenschaftliche Selbstverständnis Aby Warburgs gehabt habe. „In Keplers Überführung der kreisförmigen Umlaufbahn des Mars in Ellipsen sah Warburg einen Markstein des aus bildhafter Magie sich emanzipierenden Denkens, und in der Durchdringung von Kepplers Ellipsenproblem erkannte er auch das Symbol der Überwindung seiner eigenen, Jahre währenden geistigen Krise.“2 Bei einem Besuch bei Albert Einstein im Strandbad Scharbeutz 1928 habe Warburg diesem seine Thesen zur Kulturwissenschaft vorgetragen, in denen die Keplersche Ellipse als „Metapher für aufklärerische Forschung“3 die Grundlage für seinen Bilderatlas ausmachte. 2015 untersucht Bredekamp noch einmal ausführlich diese Begegnung zwischen Warburg und Einstein.4 In dem früheren Aufsatz konzentriert er sich auf die Frage, weshalb Einstein nicht verstehen konnte, dass Galilei Keplers neuem Weltbild nicht zu folgen vermochte, und berichtet, dass es Panofsky gewesen sei, der nach den Gründen für Galileis Ablehnung von Keplers „Nova Astronomia“ gesucht habe. „Galileis Fehlleistung war, so Panofsky, nicht etwa durch physikalische Überlegungen, sondern durch übermächtige, im Unterbewusstsein wirkende, visuelle Prägungen motiviert. Der Auslöser lag darin, dass die von Kepler errechneten Planetenbahnen in Ellipsen und nicht in Kreisen verliefen. Für Galilei, dessen Harmonievorstellung auf Kreisbewegungen eingeschworen war, waren die Keplerschen Ergebnisse ebenso monströs und unappetitlich wie auch die Dichtungen Torquato Tassos oder die Sammlungen der Kunstkammer. Es waren ästhetische Gründe, die ihn sowohl hinsichtlich der Dichtkunst und der Kunstkammern wie auch in Bezug auf die Himmelsmechanik in eine Denkhemmung trieben.“5 (Meine Hervorhebung) Wenn Panofskys These – die Einstein jedoch geflissentlich ignoriert hat – zutrifft, dass aus ästhetischen Gründen ein aufklärerischer Denkfortschritt ← 13 | 14 → nicht nachvollzogen werden konnte und dies einer der Grundbausteine der Diskussionen der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg und ihrer Mitarbeiter gewesen ist, so erklärt es das Interesse, das Ernst Cassirer seinerseits der Literatur entgegen gebracht hat. Zeitlebens wurde sein philosophisches Denken von intensiver literarischer Lektüre begleitet. Immer wieder kehrt er dabei zu Goethe zurück. Doch es finden sich auch Aufsätze, Vorlesungen oder Studien über Schiller, Hölderlin, Kleist, Corneille und Thomas Mann.

Cassirer, der zwar sein Studium als Student der Germanistik begonnen hatte und große Literaturkenntnisse besaß, schrieb über die Dichter jedoch nicht als Literaturwissenschaftler. Er las deren Literatur als Philosoph und er schrieb – was mitunter moniert wird – auch nur über bestimmte Autoren. Nicht, weil er andere damit deklassifizieren wollte, sondern weil er – nun sozusagen in der umgekehrten Richtung zu Panofskys Galileo-Analyse – nach den Bedingungen der ästhetischen Gründe suchte, die einen aufklärerischen Fortschritt hervorgerufen hatten. Literatur ist für Cassirer zunächst ein Ausdruck der ästhetischen Selbstaufklärung. Sie vermittelt zwischen abstrakter Rationalität und Sinnlichkeit. Die Hegemonie der Sprache gegenüber der Kunst, die Lessing im Laokoon formuliert hatte, und die immer wieder von Warburg als „ergänzungsbedürftig“ angemahnt wurde6, wird auch von Cassirer angezweifelt. Er sucht nach dem vermittelnden Dritten, zwischen Ratio und Magie. Zwischen Wort und Bild, Vernunft und Sinnlichkeit bewege sich das ästhetische Empfinden des Individuums. Das ist eine weitere Grundvoraussetzung, die Warburg, Cassirer und auch Panofsky miteinander teilen: Sie gehen vom einzelnen Menschen aus, der sich wirklichkeitsgestaltend im Kunstwerk ausdrückt, in dem jedoch die Grundhaltung einer Epoche, einer Klasse einer religiösen oder philosophischen Überzeugung in ihrem Werk verdichtet ist. Erst in den Jahren des Exils revidiert Cassirer insofern seine kulturphilosophische Position als er nun – angesichts der Auswirkungen der nationalsozialistischen Politik – nicht mehr an das Model einer fortschreitenden Selbstaufklärung zu glauben vermag. Die Rückfälle in mythische Irrationalitäten analysiert er in seinem letzten Werk Mythus des Staates. Die Rolle aber, die er seit Freiheit und Form von 1916 an der Literatur in seiner Kulturphilosophie zugewiesen hat, ändert sich nicht. Literatur ist eine Form der ästhetischen Selbstaufklärung und gibt für Cassirer Auskunft über die Einstellung zur Wirklichkeit zwischen den Polen ← 14 | 15 → Magie und Ratio, wofür Warburg in Keplers Ellipse die Formgebung gefunden hatte. Dass Cassirer Warburgs Einschätzung der Bedeutung Keplers für die Moderne teilte, hat Bredekamp untersucht. Es wird weiter unten genauer darauf eingegangen werden.

Wenn ein Denkfortschritt aus ästhetischen Gründe behindert werden kann und dies nicht nur ein Phänomen des 16. Jahrhunderts ist, sondern auch in der Gegenwart der Weimarer Republik sich beobachten lässt, wofür Einsteins Skepsis gegenüber Warburgs Kepler-Deutung spricht, dann kann man entweder wie Warburg nach den Anstrengungen fragen, die der Mensch unternehmen muss, um sich immer wieder von dem Pol der Magie zu lösen, um den der Vernunft zu erreichen, oder wie Cassirer umgekehrt vom Pol der Rationalität aus auf die menschlichen Denkformen schauen, die bemüht sind, die Kluft zwischen Logos und Mythos zu überbrücken. Warburg hat sein wissenschaftliches Credo in dem oft zitieren Satz am Ende des Luther-Aufsatzes zum Ausdruck gebracht: „Athen muß immer wieder neu aus Alexandrien zurückerobert sein.“ Cassirer plädierte gleichermaßen für eine Selbstreflexion der rationalen Kultur. Er folgt Schiller in der Überzeugung, dass dies die ästhetische Theorie leisten kann, und er folgt ihm auch darin, dass dieser Ansatz ein politischer ist. Für die Philosophie der symbolischen Formen werden ihm Goethe und Schiller nicht aus Gründen eines Vergangenheitsheroismus zu wichtigen Gewährsleuten, sondern weil er sich zum Wissenschaftsbegriff bekennt, der sich aus deren Idealismus generiert hat und dessen Einheitsideal Cassirer in den späteren Jahren auch in der (Wieder-)Zusammenführung der Natur- und Geisteswissenschaften verwirklicht sehen will. Deshalb schließt diese Studie am Ende auch den Text Zur Logik der Kulturwissenschaften ein.

Das Plädoyer, das Wolfgang Frühwald 1996 in „Geisteswissenschaften heute“7 vorgelegt hat, ist von Cassirer antizipiert worden. So sind, meine ich, seine Texte über Literatur auch ein Nachdenken darüber, wie die Geisteswissenschaften als Formen reflektierter Analyse, Beobachtung und Kommentierung der Gegenwart in Zeiten zunehmender Irrationalität zu bewahren sind. Dem Bildungs- und Kulturmodell des Idealismus verpflichtet zu sein, bedeutet für Cassirer nicht eine melancholische rückwärtsgewandte Sehnsuchtshaltung, sondern es ist vielmehr futurologisch zu verstehen: Cassirer nimmt die Idee des freien Geistes (Schiller) wieder ernst. Angesichts der heraufziehenden Massenkultur in der Weimarer ← 15 | 16 → Republik, die in die fanatische Propagandahysterie der Nationalsozialisten mündete, entwirft er mit Hilfe der Philosophie der symbolischen Formen eine Kulturphilosophie, die sich auf Anthropologie, auf das geschichtliche Denken und als ihren wesentlichen Pfeiler den sprachlichen Ausdruck, stützt.

Für Cassirer ist die Kunst – neben Mythos, Sprache und Wissenschaft – eine der symbolischen Formen, mit der sich der Mensch die Wirklichkeit erschließt. Die symbolischen Formen sind jedoch keine Endprodukte, sondern sie stehen in einem erkenntnistheoretischen Prozess. Sie sind daher auch nicht ein unmittelbarer Ausdruck des Inneren des Menschen, sondern geben vielmehr Auskunft über die produktive Auseinandersetzung mit vorgeprägten Ausdrucksformen. Die Traditionsbedingtheit der symbolischen Formen verbindet Cassirers Kulturphilosophie eng mit der Warburg-Schule. Die Vorstellung, die Warburg den „Pathosformeln“8 zugrunde legt und Fritz Saxl mit den Arbeiten über die „Ausdrucksgebärden“ fortsetzt9, basiert gleichermaßen auf der Annahme, dass die Symbole resp. die Ausdruckgesten keine Endprodukte sind, sondern in einem – und hierin liegt der Unterschied zu Cassirer – psychophysischem Prozess stehen. Die für Warburg und Saxl wesentliche Betonung der Psychologie des Ausdrucks, die den „Ausdruck selbst zum Problem macht; eine Psychologie also, die die Prägung und das Fortleben der sozial-gedächtnismäßig aufbewahrten Ausdruckswerte als sinnvolle, quasi geistestechnische Funktion versteht und die […] das Symbol […] und die Bedeutung auf das psychische Leben klarstellt“,10 diese Verankerung im Psychischen teilt Cassirer nicht.

Für den Kantianer bildet stattdessen der Begriff der Erkenntnis Basis und Rahmen zugleich, innerhalb dessen er die Kultur betrachtet. Drei Fragen stellt Cassirer daher an die symbolische Form der Kunst. Erstens: wodurch unterscheidet sich diese von den beiden anderen ihr nahestehenden symbolischen Formen Sprache und Wissenschaft? Wenn eines der charakteristischen Merkmale sowohl für die symbolische Form Sprache als auch für die der Wissenschaft der Konflikt zwischen Begriff und sinnlicher Anschauung ist, so ergibt sich zweitens daraus für Cassirer die methodische Vorgehensweise seiner Kulturphilosophie: ← 16 | 17 → Zu untersuchen nämlich, wie sich dieser Konflikt zwischen Begriff und sinnlicher Anschauung als geschichtlicher Prozess innerhalb der Kulturgeschichte darstellt. Drittens fragt Cassirer dabei zugleich, wie der Erkenntnisgewinn in der symbolischen Form der Kunst überhaupt zustande kommt? Die spezifischen Formbildungen, Umwandlungen, Variationen, Modifizierungen usw., die sich aus der Spannung zwischen Begriff und sinnlicher Anschauung ergeben, sind insofern dann „Produkte“ eines bestimmten Erkenntnisgewinns. Die einzelnen symbolischen Formen ergänzen sich dabei zwar, differieren jedoch voneinander aufgrund ihrer charakteristischen Merkmale und bilden nicht nur eigene Formsprachen, sondern auch spezifische Gestaltungen der Wirklichkeit aus, die wieder Auskunft geben über die jeweilige Erkenntnisstufe im kulturell-geschichtlichen Ablauf. Wenn Cassirer Literatur liest, so interessiert ihn Literatur nicht als Teil der Literaturgeschichte oder biographischer Beleg für ein bestimmtes Autorenbild. Literatur stellt für Cassirer vielmehr das vermittelnde Element zwischen abstraktem Begriff und sinnlicher Anschauung dar.

Eine erste kurze Geschichte der ästhetischen Theorie hat Cassirer bereits 1916 in Freiheit und Form vorgelegt. 1924 in Idee und Gestalt greift er die Grundgedanken der ästhetischen Theorie wieder auf, konzentriert sich jetzt aber nur noch auf deren Entwicklung im deutschen Idealismus. Doch auch in den nachfolgenden Texten über Schiller, Descartes und Thomas Mann geht es ihm immer darum, herauszuarbeiten, worin sich die symbolische Form der Kunst von der der Sprache und der der Wissenschaft unterscheidet und was sie speziell zum Erkenntnisgewinn der jeweiligen Epoche beigetragen hat.

Eine besondere Rolle für die Begriffsentwicklung und den Blick auf die Kultur spielt für Cassirer Goethe. Nicht nur ist er in allen Texten, in denen Cassirer über Literatur nachdenkt – mal explizit, mal implizit – die wesentliche Referenzfolie. Cassirer entwickelt anhand Goethes vielmehr – und zwar insbesondere mit seinen naturwissenschaftlichen Schriften – den Begriff der symbolischen Form, wie im ersten Kapitel gezeigt werden wird. Dieser Formbegriff ist aber nicht nur konkret als „Form“– Umwandlung, Variation oder Modifikation Goethes zu verstehen, das wäre – literaturwissenschaftlich betrachtet – nichts anderes als eine Vorwegnahme der Intertextualität, sondern als „Metabasis“ zu verstehen. Die μετάβασις εις λλο γένος, die Aristoteles in der Analytica posteriora11 als logischen Fehler bewertete, markiert für Cassirer hingegen den entscheidenden ← 17 | 18 → Entwicklungsschritt, der Kulturgeschichte vorantreibt. Mit dem Begriff der Metabasis ist insofern aber auch das Verhältnis zwischen dem Naturforscher und Dichter Goethe auf der einen Seite und dem Philosophen Cassirer auf der anderen Seite in einem Wort zusammengefasst: Cassirer überträgt die Methoden des Naturwissenschaftlers Goethe auf seine Kulturphilosophie. Für die Darstellung der symbolischen Form der Kunst innerhalb der Kulturgeschichte ergänzt Cassirer Goethes Formbegriff mit Schillers Idee der Freiheit. Aus der Lektüre der Schillerschen ästhetischen Schriften und insbesondere aus dessen Briefwechsel mit Christian Gottfried Körner12 gewinnt Cassirer die Überzeugung, dass jede symbolische Form ihre eigene Art der Erkenntnisgewinnung praktiziere. Darum bezeichnet Cassirer auch nicht alle kulturellen Erscheinungen als symbolische Formen – beispielsweise fallen die Musik, Malerei, Tanz oder der Film nicht darunter –, sondern nur diejenigen Ausdrucksformen, die eine spezifische Art der Wirklichkeitsaneignung bzw. Wirklichkeitsformung herausgebildet haben, die mit ihrer Erkenntnisweise zur Erfassung der Kultur als Ganzes beitragen. Kunst ist ebenso wie die Wissenschaft eine symbolische Form, aber innerhalb der Paradigmen nimmt Cassirer keine Spezifizierung vor, sondern beschreibt die allgemeine Form der Erkenntnisgewinnung. Ziel ist nichtsdestotrotz dennoch, ein objektives, das meint ein umfassendes Verständnis der Kultur des Menschen zu gewinnen. Dass dieses Verständnis nicht nur über Naturnachahmung oder über reine Begrifflichkeit, sondern auch über Affekte funktioniert, ist dem Kantianer Cassirer natürlich bewusst. Die symbolische Form der Kunst – am Beispiel der Lektüre ausgewählter Autoren entwickelt – ermöglicht ihm nun, eben diese „Erkenntnisform der Affekte“ genauer zu beschreiben.

Da Cassirer anhand und mit seinen Literaturlektüren schließlich in Versuch über den Menschen zu einer grundsätzlichen Bestimmung der Funktion der symbolischen Form der Kunst gelangt und seine Lektüren sukzessive aufeinander aufbauen – so stellen beispielsweise Freiheit und Form und Idee und Gestalt wesentliche Vorstudien für die nachfolgend entwickelte Philosophie der symbolischen Formen dar –, erscheint es sinnvoll, für die Darstellung „Cassirer und die Literatur“ in chronologischer Reihenfolge Cassirers eigener Dichterlektüre zu folgen. Eine Ausnahme bildet hierbei – wie schon kurz angedeutet – jedoch Goethe. Mit ihm soll die Untersuchung eröffnet werden, denn von ihm und mit ihm ← 18 | 19 → entwickelt er wesentliche Begriffe für die ästhetische Theorie und damit verbunden für die Funktion der symbolischen Form der Kunst. In den nachfolgenden Kapiteln soll explizit auf Cassirers Goethe-Texte aus den 30er bzw. 40er Jahren eingegangen werden.

Die Tatsache jedoch, dass Cassirer von der Literaturwissenschaft – obwohl sie sich in den vergangenen Jahren verstärkt der Kulturphilosophie zugewendet hat – nicht zur Kenntnis genommen wird13, hat nicht damit zu tun – wie Barbara Naumann behauptet –, dass für Cassirer das „Verhältnis zur literarischen oder künstlerischen Moderne […] nahezu inexistent“14 war und er damit für die Theo retiker uninteressant gewesen ist, sondern mit der Begegnung, die er 1929 in Davos mit Heidegger hatte. Diese Begegnung – so meine These – hat die literaturtheoretische Debatte vor allem nach 1945 nachhaltig geprägt und prägt sie bis heute. Ein Aspekt für die Favorisierung Heideggers und die Verdrängung Cassirers ist die kritische Haltung des Letzten zur Romantik, die man natürlich gerade auch in den sogenannten postmodernen Theorien nicht gerne hörte, wofür auch das Desinteresse nach 1945 am historischen Denken ein Beleg ist. Man wollte die Traditionswege, die zur Katastrophe beigetragen haben und deren Rekonstruktion sich Cassirer immer ausführlicher widmete, nicht zur Kenntnis nehmen. Heideggers Philosophie des „unverschuldet in die Welt Geworfenseins“ war erheblich angenehmer zu akzeptieren. Dass die Favorisierung Heideggers in den Literaturwissenschaften nach 1945 so wenig selbstkritisch reflektiert wurde, gereicht dieser nicht zur Ehre. Dass Cassirer nicht zu der Literatur des 20. Jahrhunderts gearbeitet hat, wie Naumann ihm vorwirft, hat meiner Meinung nach einen anderen Grund. Naumann kritisiert „… die Literatur der Moderne, wie auch die bildende Kunst und Musik seiner Zeit, sind praktisch gänzlich verbannt aus dem symboltheoretischen und kulturphilosophischen Œuvre Cassirers. Dieser Umstand verleiht seinem Werk einen deutlich kulturkonservativen Gestus. Cassirer meinte, in der Literatur um 1800 schon alles Wesentliche über die künstlerische Anschauung vorzufinden und daher ohne Rücksicht auf die Künste seiner Zeit eine zeitgemäße Kulturphilosophie entwerfen zu können.“15 Damit verkennt sie ← 19 | 20 → völlig seinen Ansatzpunkt. Cassirer geht es weder um Literaturgeschichte – dann hätte er auch bei der Germanistik bleiben können – noch um eine allgemeine Kulturgeschichte. Ihm ging es darum zu verstehen, wie sich in den verschiedenen Ausdruckformen die Abstraktionsleistungen der vernunftorientierten Erkenntnis äußern und welchen Beitrag im Besonderen die Kunst hier zu leisten vermag.

Kultur ist für Cassirer ein Synonym für Erkenntnis, die sich von dem rein sinnlich –gefühlsmäßig Wahrgenommenen löst und es abstrakt reflektiert. Es ist die Goethesche doppelte Spiegelung, weshalb sich dieser Dichter für Cassirer zur wichtigsten Bezugsquelle innerhalb des Paradigmas Literatur entwickelt hat. Auch wenn er zunehmend durch die politischen Radikalisierungen seiner Zeit darüber belehrt wird, dass das Irrationale immer wieder aufbricht und die gewonnenen Erkenntnisse bedroht, und er diesem Phänomen im Mythus des Staates nachgeht, rückt er von seinem von Kant, Goethe und Schiller gewonnenen Kulturbegriff nicht ab. Im Schiller-Kapitel in Freiheit und Form hat er es ausdrücklich gesagt: der „sinnliche Hang“ ist es, „der uns mit der Tierheit verknüpft“16, ihn gilt es zu überwinden. Man kann Cassirer natürlich vorhalten, dass dieser vernunftorientierte Kulturbegriff zu elitär oder zu eng sei. Man kann ihm auch entgegenhalten, dass er doch für die Vielfalt aller kultureller Formen plädiert habe, aber letztlich offensichtlich „nur“ die rationalen gemeint und insofern gar keine Kulturphilosophie, sondern eher eine „kulturelle Erkenntnisphilosophie“ vorgelegt habe, doch ändert diese Grundsatzkritik an seinem Konzept nichts daran, dass man ihm nichtsdestotrotz zugestehen muss, seinen Ansatz stringent verfolgt zu haben in einer politischen Zeit, die zunehmend irrationaler wurde und statt des Individuums die Massen favorisierte, weshalb sein Blick auf die Kultur meiner Ansicht als zutiefst politisch zu bewerten ist.

Die Herausforderung, die jedoch heute an die Literaturwissenschaft ergeht, ist die zu überprüfen, ob mit dem Cassirerschen Kulturbegriff, der Erkenntnisstufen in Sprache und Ausdrucksformen rekonstruiert, Literatur im digitalen Zeitalter neu zu lesen ist. Das hieße, seinen vernunftorientierten Kulturbegriff zu akzeptieren, womit die Literaturwissenschaft ihre starke Anbindung an Heidegger überdenken müsste.

„Lesen Sie Goethe, Herr Kollege!“ hätte Ernst Cassirer nämlich 1929 während der internationalen Hochschulwochen in Davos Martin Heidegger entgegenrufen ← 20 | 21 → können. Doch Cassirer war eine solch medienwirksame Polemik völlig fremd. Indirekt aber weist er Heidegger durchaus immer wieder auf Goethe hin. In Davos kam es zu einer Begegnung, die nicht nur die Entwicklung der Philosophie, sondern auch die der Literaturwissenschaft bis heute prägt. Die Begegnung selbst allerdings ist wohl keineswegs ein Kampf gewesen wie der zwischen Hektor und Achilleus, wie mitunter gerne behauptet wurde. „Anstatt zwei Welten aufeinander prallen zu sehen, genoss man höchstens das Schauspiel, wie ein sehr netter Mensch und ein sehr heftiger Mensch, der sich aber auch furchtbare Mühe gab, nett zu sein, Monologe redeten.“17 Heidegger hatte zwei Jahre zuvor Sein und Zeit veröffentlicht18, worin er eine völlige Umwälzung der bisherigen Philosophie angekündigt hatte. Cassirer, der bei dem Neukantianer Hermann Cohen promoviert hatte, hatte gerade sein dreibändiges Hauptwerk Die Philosophie der symbolischen Formen beendet, worin er die Rolle der Kultur für die Erkenntnis der Vernunft analysiert.19

Dass diese Begegnung bis heute immer wieder zitiert und kommentiert wird, zeigt, dass offensichtlich für Viele hier eine Wegmarke zum Ausdruck kam20 zwischen dem – wie Franz Rosenzweig es genannt hat – „Gelehrten-Bourgeois“ und dem „neuen Denken“.21 Es stellt sich daher die Frage, warum ausgerechnet auch die Literaturtheorie der Nachkriegsjahre sich explizit auf Heidegger berufen und sich damit gegen eine philosophische Richtung entschieden hat, die ihrerseits „Bedeutungen“, „Form“ und „Geschichte“ für unverzichtbar hielt.22 ← 21 | 22 →

Cassirer geht in seinem Eröffnungsvortrag auf die Begriffe Heideggers ein, mit denen dieser die Architektonik der Kantschen Philosophie auseinandernehmen wollte, und setzt dagegen die Philosophie der symbolischen Formen. Ein wichtiger Baustein bildet dabei Goethe. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht hat die Hervorhebung Goethes gegenüber Heidegger eine zusätzliche Bedeutung, die neben ihren philosophischen Differenzen auch ein Ausdruck für die tiefe Gespaltenheit der deutschen Kultur bereits in den zwanziger Jahren ist. Cassirer spielt damit nämlich auf die zeitgleich geführten Debatten über „Dichter“ bzw. „Literaten“ an, die in der Preußischen Akademie der Künste in der Sektion für Dichtkunst geführt wurden, deren Antinomien Heidegger offensichtlich übernommen hat. Heideggers Sympathie für Stefan George und sein Bekenntnis zum „Dichtertum“ und zur „reinen Sprache“, über die er explizit zwar erst in den 50er Jahren spricht23, die in „Sein und Zeit“ hinsichtlich der Sprache jedoch schon durchklingen und – wie man inzwischen weiß – in den „Schwarzen Heften“ bereits früh formuliert wurden24, korrespondieren inhaltlich mit den Diskussionen der 20er Jahre in der Preußischen Akademie. 1924 hatte Josef Ponten in einem offenen Brief an Thomas Mann ein Schema aufgestellt, dass den „Dichter“ vom „Literaten“ und damit das „Dichterische“ vom „Schriftstellerischem“ trennt.25 Für das „Dichterische“ gab Ponten folgende Definition: Schriftstellerisch: das ist eine Form […] Dichterisch dagegen: das ist ein Inhalt, das Substantielle […], Schriftstellerisch: das ist die Beredsamkeit; […] über das Dichterische kann man eigentlich nur schweigen. […] Das Dichterische ist nichts als Gnade, […] das Dichterische – ist das Geheimnis. […] Dichterisch ist Offenbarung. […] Dichterisch ist Ewigkeit. […] das Dichterische ist weltbeseelt, Naturgeist, lebt aus sich.“26 Ponten positionierte sich damit auch innerhalb der Diskussionen, die ← 22 | 23 → in der Akademie über „deutsche“ vs. „volksfremde“ Dichtung geführt wurden, und schlug sich auf die Seite der „völkisch“ Argumentierenden, die über die Debatte „Großstadt – Berlin“ d.h. Überfremdung, Ausländertum das „Großstadtpublikum als Sündenbock für die Überfremdung deutscher Bühnenspielpläne, <auch> die Kritik als Dienerin der Fremdländerei“ diffamierte.27 Das „Dichterische“ in den Kontext des „Völkisch-nationalen“ einzubinden, deckt sich mit Heideggers Vorstellungen, wie Werner herausgearbeitet hat.28 Gegen die Überzeugung, dass Dichtung das „überindividuelle Leben eines Volkes“29 ausmache, setzte Cassirer in Davos nun überdeutlich die Betonung der Dichterindividualität Goethes und hob dabei insbesondere den Naturwissenschaftler hervor.

Dass Goethe eine wichtige Rolle für Cassirers Denken spielt, ist überall in seinen Schriften deutlich sichtbar. Tatsächlich ist kein anderer Autor außer Kant Gegenstand so vieler seiner Untersuchungen gewesen. In den Erinnerungen seiner Frau, Toni Cassirer, liest man denn auch: „Niemand hat je verstanden, wie wichtig Goethe für Ernst Cassirer war.“30 Damit stellt sich die Frage, warum Goethe für Cassirers Symbolbegriff eine so wesentliche Rolle spielte bzw. was genau Cassirer an Goethe angezogen hat. Mit dieser Fragestellung schließe ich mich John Michael Krois’ These an, dass Goethe für Cassirer ein Medium gewesen sei für seine eigene Arbeit. Cassirer als Goethe-Leser zu verstehen, bedeutet aber nicht, von Cassirer als „Goethe-Interpreten“ zu sprechen, sondern vielmehr Cassirer als Fortsetzer der Goetheschen Elemente zu sehen.31

Cassirer hat sich nicht nur indirekt immer wieder auf Goethe bezogen, sondern insbesondere im englischen32, schwedischen33 und amerikanischen34 Exil ← 23 | 24 → mehrere Aufsätze über ihn geschrieben oder Vorlesungen über ihn gehalten. Insgesamt liegen 23 Arbeiten über Goethe vor, wobei damit nur die Texte erfasst sind, in denen Goethe im Titel genannt ist. Goethe nimmt also ohne jeden Zweifel im Werk Cassirers eine prominente Rolle ein, die weit über die Goethe-Verehrung der Zwanziger Jahre hinausgeht und dieser z.T. sogar eher konträr gegenüber steht35, was z.B. die Bemerkungen Erich Auerbachs über Goethe in Mimesis betrifft oder Walter Benjamins Aufsatz Über Goethes Wahlverwandtschaften usw.36 ← 24 | 25 →

Aufschlussreich ist es jedoch, sich Cassirers Goethe-Texte im Kontext der im George-Kreis publizierten Goethe-Lektüren anzusehen37, allen voran denen von Friedrich Gundolf. Cassirer war mit Gundolf befreundet, hatte aber eine entgegengesetzte Position zu Goethe vertreten als dieser sie mit seinem umfassenden Buch von 1916 vorgelegt hat. In ihren Briefen aus demselben Jahr reflektieren beide über ihren unterschiedlichen Goethe-Zugang, der sie letztlich aber doch auf einen gemeinsamen Punkt hinführen wird: Ein Plädoyer für eine neue Goethe-Philologie. Am 16. Oktober 1916 hatte Cassirer an Gundolf geschrieben: „Die Zusendung meiner Schrift ‚Freiheit und Form‘ […] möchte vor allem ein Ausdruck des Dankes sein für den reichen Genuss, den Ihr Goethe-Buch mir soeben bei der ersten Lektüre gewährt hat. […] Die Gegensätze, die zwischen Ihrer und meiner Betrachtungsweise bestehen, verhehle ich mir natürlich nicht (sie treten vor allem überall dort hervor, wo das Thema: Kant in Frage kommt); aber ich muss allerdings gestehen, dass mir das, worin wir übereinstimmen, wichtiger erscheint, als das, worin wir auseinandergehen. Ich habe bei der Lektüre Ihres Werkes oft den Eindruck gehabt, dass wir, von ganz verschiedenen Ausgangspunkten herkommend und vielleicht auf ganz verschiedene Ziele hingehend, uns in der Mitte des Weges begegnen.“38 Gundolf antwortet am 13. Oktober 1916 und gibt in aller Kürze eine zutreffende Beschreibung der Cassirerschen Methodik: „Wenn ich nicht ← 25 | 26 → irre, so kommen Sie von der Frage nach dem Wesen der Ideen, die untrennbar ist von der Frage nach ihrem Ursprung, zu Verständnis ihrer Träger, Verkünder, Verkörperer … und haben vor vielen ähnlichen Fragestellern den glücklichen Sinn für Verkörperung, Gestalt, Kunst voraus… darum bleiben Sie auch bei der Betrachtung Goethes nicht im bloß Begrifflichen stehen, sondern gelangen bis in seine Zentralkraft, das Bildnerische selbst, von dem aus auch seine philosophische Bedeutung erst begriffen wird. Und da begegne ich Ihnen auf der Mitte des Wegs, mit frohem Erstaunen wie sehr wir bis in Einzelheiten hinein übereinstimmen, wie gut (gesteh ichs nur) ein Philosoph vom Dichtertum Goethes Bescheid weiß. Denn ich komme durchaus vom eigentlichen Dichtertum, dem Sprachausdruck des einmaligen und sinnbildlichen Menschentums her, und habe zur Philosophie nur soweit Beziehung als sie Menschentum bildet oder ausdrückt. […] Hieraus mag sich ebenso sehr unsre Übereinstimmung betreffs Goethe, als unsere Differenz betreffs Kant, erklären, da mich Ideen nicht ergreifen, wenn mich ihre Träger nicht menschlich ergreifen, seien sie Mensch oder Volk. Das ist eine Begrenzung mit der ich mich abfinden muß.“39 Gundolfs Analyse des Cassirerschen Goethe-Zugangs hat diesen offenbar in ihrer Klarheit verblüfft, wie sein erneutes Schreiben am 18. Oktober 1916 zeigt: „Ich finde in Ihrem Brief das, was ich selbst für mich erstrebt habe, aufs genaueste ausgesprochen. Ich bin in der That ursprünglich rein von der Betrachtung der Ideen und von dem was ich als ihr eigentümliches Leben empfinde, ausgegangen; – aber eben um mir diesen ihren Gehalt völlig durchsichtig, klar und plastisch zu machen, musste ich zu den großen Individuen zurück, in denen die Ideen ihr konkretes Dasein haben. Die Übereinstimmung, die sich hier zwischen Ihrem und meinem Wege ergab, […] halte ich für umso wichtiger, als sie nicht auf subjektivem, sondern auf rein objektivem Grunde besteht. […] wahrhaft erstaunlich aber ist es mir gewesen, wie Sie an dieser Ihrer ganz persönlichen Methodik festhalten und damit das Weltbild des alten Goethe, die spezifische Goethesche Alters-Weisheit so darstellen und lebendig machen konnten, wie es in Ihrem Buch geschehen ist. Überhaupt erblicke ich in dieser Ihrer Betrachtungs- und Darstellungsweise den Anfang zu einer neuen – Goethe-Philologie: einer Philologie, die nicht wie die alte am Wort und Buchstaben hängt, sondern in den geistigen Gehalt und Ursprung der sprachlichen Erscheinung eindringt. Was Sie über Form und Stil der Goetheschen Balladen […] sagen, scheint mir in dieser Richtung zu liegen, – scheint mir eine künftige Stilgeschichte der Goetheschen Dichtung zu verheißen, die, wenn sie erst einmal vorhanden ist, ← 26 | 27 → über alle Erkenntnisse einmaliger historischer Zusammenhänge hinaus, wieder zu den systematischen Grundphänomenen des Geistes zurückleiten wird.“40

Neben der Frage der Rezeption, der Einverleibung oder auch des Weiterdenkens der Goetheschen Episteme ist daher – nicht nur im Kontext der Davoser Debatte – zu fragen, inwiefern die Kulturphilosophie Cassirers41 insgesamt von Goethes Theoremen geprägt ist.42

Man stößt dabei nämlich sehr schnell auf die Goetheschen Begriffe „Polarität“ und „Steigerung“ aus der Farbenlehre. Dort heißt es: „Der Farbenkreis ist vor unseren Augen entstanden, die mannigfaltigen Verhältnisse des Werdens sind uns deutlich. Zwei reine ursprüngliche Gegensätze sind das Fundament des Ganzen. Es zeigt sich sodann eine Steigerung, wodurch sie sich beide einem dritten nähern…“. (Meine Hervorhebung)43 Auch die Begriffe „Werden“, „Gestaltung“ und „Umgestaltung“ aus Goethes „Naturlehre“ sind für Cassirers Betrachtung der Kultur entscheidende Kategorien geworden. So ist in der Metamorphose der Pflanzen zu lesen: „Die Natur bildet also im Kelch kein neues Organ, sondern sie verbindet und modifiziert nur die uns schon bekannt gewordenen Organe, und bereitet sich dadurch eine Stufe näher zum Ziel.“ (Meine Hervorhebung)44 Diese Begriffe Goethes überträgt Cassirer in sein philosophisches System.45 ← 27 | 28 →

John Michael Krois, der viel über Cassirer gearbeitet und einige Bände der nachgelassenen Manuskripte herausgegeben hat, sieht die Fortsetzung der Goetheschen „Urworte“ in Cassirers „Urphänomenen“, was durchaus plausibel ist, wenn es bei Goethe heißt: „…und keine Zeit und keine Kraft zerstückelt / Geprägte Form die lebend sich entwickelt. // Die strenge Grenze doch umgeht gefällig / ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt; / nicht einsam, bleibst Du, bildest Dich gesellig, /…“.46

Folgerichtig nennt Krois Cassirers „Urphänomene“: „Form“, „Symbol“, „Leben“ und „Befreiung“.47 Ich gehe meinerseits noch einen Schritt weiter als Krois und behaupte, dass Cassirers Goethe-Bezug tiefer geht: Kant und Goethe geben nicht einfach nur den Referenzrahmen oder die Basis für seine Philosophie ab, sondern beide machen einen wesentlichen Teil seiner Methodik aus.48 Wenn es zutrifft, dass bei Cassirer der Gedanke der Einheit zentral ist, gefolgt von der Idee der Mannigfaltigkeit, die aus dieser Einheit hervorgeht und in eine „ideale“ (allgemeine) Form wieder mündet, und dieser zentrale Gedanke auch seiner Darstellung von Kultur zugrunde liegt49, so zeigt sich zunächst, dass diesem Gedanken ← 28 | 29 → auch sein Lehrer Hermann Cohen im letzten Werk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums gefolgt ist. Aber, was Cohen „nur“ anhand der Religion und ihr Verhältnis zur Vernunft vorführt, verallgemeinert Cassirer und legt es als das wirkende Prinzip innerhalb der gesamten Kultur seinen Betrachtungen zugrunde. Gerade in Goethes naturwissenschaftlichen Beobachtungen findet er die Methode, die Entstehung von vielfältigen Formen, die aber wieder zu einem allgemeinen Begriff streben, erkenntnistheoretisch zu erklären.

Details

Seiten
328
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631741283
ISBN (ePUB)
9783631741290
ISBN (MOBI)
9783631741306
ISBN (Hardcover)
9783631741276
DOI
10.3726/b13003
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Kulturphilosophie Ästhetische Theorie Goethe Aby Warburg
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017., 328 S.

Biographische Angaben

Dorothee Gelhard (Autor:in)

Dorothee Gelhard ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg und Herausgeberin der Reihe «Pegisha – Begegnung. Jüdische Studien». Sie forscht über Ernst Cassirer und Aby Warburg, Europäisch-Jüdische Literaturen und Tanzwissenschaft.

Zurück

Titel: Ernst Cassirer und die Literatur
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
330 Seiten