Loading...

China im Bild der deutschsprachigen Literatur seit 1989

by Liangliang Zhu (Author)
©2018 Monographs XII, 248 Pages

Summary

China als Motiv in der deutschsprachigen Literatur kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Die Darstellung Chinas in verschiedenen Epochen hängt jedoch nicht selten eng mit dem Zeitgeist und den historischen Gegebenheiten der jeweiligen Epoche zusammen. Die Niederschlagung der Studentenbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Juni 1989 und der Fall der Berliner Mauer nur fünf Monate später, gefolgt von der Wiedervereinigung Deutschlands, führten jedoch u.a. dazu, dass deutsche Literaten nun enttäuscht und ernüchtert nach China blickten. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, wie die Volksrepublik in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur, vornehmlich in der Romanliteratur, dargestellt wird. Anhand von acht ausgewählten deutschen Romanen mit China-Motiven, die nach 1989 erschienen sind, soll die aktuelle Darstellung Chinas in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur untersucht werden. Dabei wird den Fragen nachgegangen, warum es so zustande gekommen ist und welche Entwicklungsperspektiven sich daraus ableiten lassen.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Danksagung
  • Geleitwort
  • Einleitung: Forschungsgegenstand, Forschungsstand und Zielsetzung
  • Kapitel 1: Theoretische Grundlage
  • 1.1 Victor Segalen und seine Exotismuskonzeption
  • 1.1.1 Definition des Exotismus
  • 1.1.2 Exotismus – Einheit und Vielfalt
  • 1.1.3 Realisierung des Exotismus – die Form
  • 1.1.4 Exotismus – keine Zuflucht oder Wunschvorstellung
  • 1.2 Das Fremde und das Eigene
  • 1.3 Exotismus und Hermeneutik
  • 1.4 Exotismus und Xenologie
  • 1.5 Exotismus und Phänomenologie
  • 1.6 Gesuchte und erzwungene Fremdheitserfahrungen
  • 1.7 China als Modellfall für Exotismus
  • Kapitel 2: China in der deutschsprachigen Literatur vor 1989
  • 2.1 China in der deutschsprachigen Literatur vor 1900
  • 2.2 China in der deutschsprachigen Literatur (1900–1948)
  • 2.2.1 Alfred Döblin und China
  • 2.2.2 Bertolt Brecht und China
  • 2.2.3 Max Frisch und China
  • 2.3 China in der deutschsprachigen Literatur (1949–1989)
  • Kapitel 3: Tilman Spengler und Die Stirn, die Augen, der Mund
  • 3.1 Inhaltsangabe
  • 3.2 Orient und Okzident
  • 3.3 Ein junges China mit neuen Problemen und alten Elementen
  • 3.4 Kritische Auseinandersetzung mit sich selbst
  • 3.5 Viola – Prototyp des Kulturüberläufers
  • 3.6 Zusammenfassung
  • Kapitel 4: Christian Kracht und 1979
  • 4.1 Inhaltsangabe
  • 4.2 Das Opfer und die Sinnsuche
  • 4.2.1 Das Opfer als Leitmotiv
  • 4.2.2 Auf der Suche nach dem Lebens- oder Todessinn
  • 4.3 China in 1979
  • 4.3.1 China als Symbol der Schönheit wie auch der Gewalt
  • 4.3.2 Chinesen in 1979
  • 4.3.3 „In China essen sie Maden“
  • 4.4 Selbstaufgabe – die Auflösung im Fremden als Scheinlösung
  • 4.5 Zusammenfassung
  • Kapitel 5: Rainer Kloubert und Der Quereinsteiger
  • 5.1 Inhaltsangabe
  • 5.2 Ein erlebtes China
  • 5.3 Wang oder der vermeintliche Prototyp eines Chinesen
  • 5.4 Yin und Yang
  • 5.5 Mentalitätsunterschiede zwischen Deutschen und Chinesen
  • 5.6 Zusammenfassung
  • Kapitel 6: Tilman Rammstedt und Der Kaiser von China
  • 6.1 Inhaltsangabe
  • 6.2 Nichts als Fiktion
  • 6.3 Ein fingiertes China voller Klischees
  • 6.4 Keiths vergebliche Suche nach einem Zufluchtsort
  • 6.5 Fremdheitserfahrungen eines Daheimgebliebenen
  • 6.6 Zusammenfassung
  • Kapitel 7: Stefan Schomann und Letzte Zuflucht Schanghai
  • 7.1 Inhaltsangabe
  • 7.2 Shanghai – eine Stadt der Gegensätze
  • 7.3 China und die gesellschaftliche Rolle der chinesischen Frau
  • 7.4 St. John’s University – ein Beispiel für die christlichen Hochschulen in China
  • 7.5 Das schwierige Verhältnis zwischen dem Fremden und dem Eigenen
  • 7.6 Zusammenfassung
  • Kapitel 8: Ursula Krechel und Shanghai fern von wo
  • 8.1 Inhaltsangabe
  • 8.2 Juden in China – ein Überblick
  • 8.3 Exotismus – Kritik am Kolonialismus
  • 8.4 Juden in Shanghai – Fremdheit als Hindernis
  • 8.5 Zusammenfassung
  • Kapitel 9: Sibylle Berg und Der Mann schläft
  • 9.1 Inhaltsangabe
  • 9.2 Scharfe Kritik am Kapitalismus
  • 9.3 Begegnungen mit Chinesen
  • 9.4 Einheit in der Vielfalt – Divergenz im „globalen Dorf“
  • 9.5 Gegensätze ziehen sich an – zwischen dem Fremden und dem Eigenen
  • 9.6 Zusammenfassung
  • Kapitel 10: Silke Scheuermann und Shanghai Performance
  • 10.1 Inhaltsangabe
  • 10.2 Schuld als Schlüsselbegriff
  • 10.3 Shanghai in der deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert
  • 10.4 Shanghai in Shanghai Performance
  • 10.5 Kunst in China
  • 10.6 China – ein Panoramabild
  • 10.7 Exotismus – weder Zuflucht noch Zukunft
  • 10.8 Zusammenfassung
  • Schlusswort
  • Literaturverzeichnis
  • Personenregister
  • Sachregister
  • Reihenübersicht

| ix →

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde im Frühling 2015 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn als Dissertation angenommen. Sie ist für den Druck überarbeitet worden.

Mein aufrichtiger Dank gilt an erster Stelle Herrn Prof. Dr. Wolfgang Kubin und Herrn Prof. Dr. Ralph Kauz, die mich bei der Anfertigung dieser Arbeit mit vielen guten Ratschlägen betreut und unterstützt haben.

Ich danke auch allen Freunden, die mir geholfen und mich durch ihre freundliche Anteilnahme ermutigt haben. Insbesondere möchte ich mich bei Sérgio Presta für die gründliche Durchsicht des gesamten Manuskripts bedanken.

Dem Katholischen Akademischen Ausländer-Dienst in Bonn und dem Fonds für die Veröffentlichung wissenschaftlicher Bücher des Fremdspracheninstituts der Universität Fuzhou bin ich zum Dank für ihre finanzielle Unterstützung verpflichtet. Auch Herrn Dr. Heinrich Geiger gilt mein herzlicher Dank für seine Hilfe.

| xi →

Geleitwort

Es gibt ein Ungleichgewicht zwischen Sinologen und Germanisten. Von meinesgleichen erwartet man ständig Auskunft über das gegenwärtige China, besonders über die Literatur. Doch befragt man einmal einen deutschen oder chinesischen Germanisten zur neuesten Literatur in deutschen Landen, so erntet man Schweigen. Das Feld der Gegenwartsliteratur ist Publizisten oder gar Journalisten überlassen.

Zhu Liangliang, eben weil sie sich mit den neuesten Werken deutschsprachiger Autoren zu „China“ auseinandersetzen wollte, konnte auf keine Sekundärliteratur zurückgreifen. Chinesische Germanisten sind nicht gerade fleißig, deutsche Germanisten interessieren sich nur für Fernes, Totes und Vergangenes.

China spielt jedoch spätestens seit der Goethe-Zeit (1770–1830) eine wichtige Rolle in der deutschen Literatur. Man denke an Döblin oder Brecht. Beide sind ohne ihre chinesischen Philosophen nicht vorstellbar.

Wie haben wir sie interpretieren gelernt? Mit Victor Segalen und seiner genialen These von unserem Bild im Auge des Anderen. Das ist nun alles Geschichte, denn der Post-Kolonialismus hat diese unschuldige Deutung zerstört. Er hat sich aufgespielt als Weltenrichter und zensiert alles, was (West)Europäer über den „Orient“ denken.

Doch wer den Büchermarkt beobachtet, wird feststellen, Segalen ist wieder zurück und Said ist passé.

Die heutigen deutschen Autoren sind unbefangen. Sie lernen Chinesisch, sie reisen nach China, um dort zu schreiben. Und so hat sich in den letzten Jahren eine Vielzahl von Schreibenden auf den Weg begeben. Ich könnte hier viele neue Namen und neueste Werke aufzählen. Ich erspare mir dies, um nicht die Pionierarbeit von Zhu Liangliang zu schmälern zu scheinen. Sie konnte ja nicht wissen, was nach ihrer.

Dissertation noch alles auf den Plan treten würde. Nicht nur eine ernste, sondern auch eine unterhaltsame Literatur in Sachen China. ← xi | xii →

Zhu Liangliang hat einen Weg eröffnet: weg von der Ideologie eines Said und hin zu einer von der Germanistik schmählich vernachlässigten Gegenwartsliteratur in deutschen Landen. Dafür hat man ihr dankbar zu sein.

Wolfgang Kubin, Bonn im Herbst 2017

| 1 →

EINLEITUNG

Forschungsgegenstand, Forschungsstand und Zielsetzung

China kann als Motiv in der deutschsprachigen Literatur auf eine lange Tradition zurückblicken. Die Darstellung Chinas in verschiedenen Epochen hängt jedoch nicht selten eng mit dem Zeitgeist und den historischen Gegebenheiten der jeweiligen Epoche zusammen.

Das Jahr 1949 leitete nicht nur in China, wo die kommunistische Volksrepublik ins Leben gerufen wurde, sondern auch in Deutschland eine neue Ära ein. So wurde die von den sich nun feindlich gegenüberstehenden Siegermächten des Zweiten Weltkrieges (allen voran Sowjets und US-Amerikanern) vorangetriebene deutsche Teilung in Ost und West mit Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) sowie der Bundesrepublik Deutschland (BRD) für die nächsten 40 Jahre zementiert. Der Kalte Krieg als Systemkonfrontation zwischen Kapitalismus und Kommunismus beeinflusste in nicht geringem Maße die literarische Welt im geteilten Deutschland. Dies spiegelte sich auch in der literarischen Darstellung Chinas in der deutschsprachigen Literatur wider, die nun zunehmend eine politische Akzentuierung erhielt.1 Während sich das bürgerlich-konservative Milieu beim Blick auf China unter Mao Zedong und dessen politische Kampagnen, etwa den „Großen Sprung nach vorne“ (1957–1961) und die Kulturrevolution (1966–1976), in seiner ablehnenden Haltung gegenüber sämtlichen marxistischen Ideologien bestätigt sah, begrüßten die politische Linke in West- und die staatsnahen Schriftsteller in Ostdeutschland teils fasziniert die Geschehnisse in der jungen Volksrepublik. ← 1 | 2 →

Die Niederschlagung der Studentenbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Juni 1989 und der Fall der Berliner Mauer nur fünf Monate später, gefolgt von der Wiedervereinigung Deutschlands, führten jedoch dazu, dass deutsche Literaten enttäuscht und ernüchtert nach China blickten.2 Statt mit dem geographisch wie politisch fernen Reich der Mitte beschäftigte man sich bevorzugt mit der eigenen jüngsten Vergangenheit. Das hatte zur Folge, dass in den 1990er-Jahren relativ wenig über China geschrieben wurde.

Diese Situation hat sich inzwischen geändert. Seit Ende der 1990er-Jahre sind dank der Bemühungen von Sinologen, China-Insidern und Berufsliteraten mehrere Romane mit China-Motiven geschrieben worden.3 In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, wie die Volksrepublik in der gegenwärtigen deutschsprachigen Romanliteratur dargestellt wird.

Da sich die Arbeit in erster Linie mit dem modernen China befasst, werden Werke, die uns zu weit in die Vergangenheit zurückführen, bspw. Im Schatten des Himmels (2000) von Uli Franz über Adam Schall von Bell (1592–1666) oder Der Maler von Peking (1993) von Tilman Spengler über die Geschichte eines jungen lombardischen Malers namens Lazzo aus dem 18. Jahrhundert in Peking, nicht berücksichtigt. Auch der Roman Der Sklave und sein Kaiser von Thomas Zimmer (1998) wird wegen seiner schwachen Resonanz außer Acht gelassen.

In Betracht gezogen werden dagegen Die Stirn, die Augen und der Mund (1999) von Tilman Spengler, 1979 (2001) von Christian Kracht, Der Quereinsteiger (2003) von Rainer Kloubert, Der Kaiser von China (2008) von Tilman Rammstedt, Letzte Zuflucht Shanghai (2008) von Stefan Schomann, Shanghai fern von wo (2008) von Ursula Krechel, Der Mann schläft (2009) von Sibylle Berg und Shanghai Performance (2011) von Silke Scheuermann. ← 2 | 3 →

Die bisherige Erforschung des China-Bildes in der deutschen Literatur konzentriert sich auf drei Epochen, nämlich auf die Zeit von den Anfängen bis ins späte 19. Jahrhundert, auf den Zeitraum um 1900 und auf die 1980er-Jahre. In Bezug auf die erste Epoche stechen insbesondere die Arbeiten von Eduard Horst von Tscharner und Ingrid Schuster hervor. Tscharners China in der deutschen Dichtung bis zur Klassik4 beschäftigt sich intensiv mit dem China-Bild in der Barockzeit, in der Aufklärung und in der Klassik, wobei Goethes literarische Auseinandersetzung mit China den Schwerpunkt der Arbeit darstellt. Schuster setzt sich im Unterschied dazu in ihrem Buch Vorbilder und Zerrbilder: China und Japan im Spiegel der deutschen Literatur 1773–18905 mit dem Aufeinanderprallen von europäischer und ostasiatischer Kultur sowie den daraus entstandenen Konflikten auseinander. Neben der Japandarstellung in der deutschen Literatur untersucht sie auch die Rezeption chinesischer Werke im 18. und 19. Jahrhundert6 sowie die Chinoiserien in der deutschen Literatur.

Über das Zeitalter des europäischen Kolonialimperialismus um 1900 sind mehrere wissenschaftliche Arbeiten vorhanden. Erwähnenswert ist z. B. das Buch Der China-Roman in der deutschen Literatur 1890–19307 von Li Changke,8 das nicht nur deutsche Romane, wie es im Titel steht, sondern auch Erzählungen, Reiseerinnerungen, Gedichte und Dramen aus dem angegebenen Zeitraum behandelt. Die Dissertation von Fang Weigui ← 3 | 4 → Das Chinabild in der deutschen Literatur, 1871–19339 befasst sich im Rahmen der komparatistischen Imagologie eingehend mit den Werken von Karl May, Elisabeth von Heyking, Alfons Paquet, Alfred Döblin, Hermann Keyserling, Klabund und Richard Wilhelm. Fang untersucht dabei die China-Bilder der genannten Autoren und strebt im Rahmen seiner Analyse eine Entideologisierung der Literatur an. Zhang Zhenhuans China als Wunsch und Vorstellung. Eine Untersuchung der China- und Chinesenbilder in der deutschen Unterhaltungsliteratur 1890–194510 analysiert die Vorurteile in den China- und Chinesenbildern von Unterhaltungsromanen und kommt zu dem Ergebnis, dass das China-Bild nicht die Abbildung einer chinesischen Wirklichkeit, sondern eher die Wiedergabe von bereits existierenden Stereotypen ist.11

Über das China-Bild in den 1980er-Jahren sind zwei Dissertationen vorhanden, darunter Das China-Bild in der deutschsprachigen Literatur der achtziger Jahre: die neuen Rezeptionsformen und Rezeptionshaltungen12 von Qixuan Heuser, die sich mit den China-Romanen von Günter Grass, Adolf Muschg, Fritz R. Fries, Gertrud Leutenegger und Michael Krüger befasst. Heuser untersucht das China-Bild unter literarhistorischen Rahmenbedingungen und kommt zu dem Schluss, dass China als literarische Vorlage oder geistige Stütze für die neueren deutschen Schriftsteller an Bedeutung verloren hat, da das Erzählte eher auf Chinas Realität der Erzählzeit und den unmittelbaren Begegnungen mit ihr beruht.13 Darüber hinaus gibt es noch die Arbeit von Gao Yunfei mit dem Titel China und ← 4 | 5 → Europa im deutschen Roman der 80er Jahre – Das Fremde, das Eigene in der Interaktion (1997),14 die auf die Werke von reisenden deutschen Schriftstellern wie Muschg, Krüger, Leutenegger und Hermann Kinder eingeht. Gao zieht aus diesen Werken jedoch kein einheitliches China-Bild, weil das Reich der Mitte dem Westen zwar nähergekommen sei, aber sich jeder Autor auf seine eigene Art und Weise mit China auseinandergesetzt und dabei unterschiedliche Fremd- bzw. Selbsterfahrungen gemacht habe. Deshalb könne man höchstens in der Darstellung Chinas in den 1980er-Jahren von einer freundlichen Stimme ausgehen.15

Der Chinese in der deutschen Literatur: Unter besonderer Berücksichtigung chinesischer Figuren in den Werken von Schiller, Döblin und Brecht16 von Tan Yuan zielt darauf ab, China im Spiegel der deutschen Literatur und im Wandel der Zeit von 1580 bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert darzustellen. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Analyse dreier bedeutender Werke: Friedrich Schillers Turandot, Prinzessin von China, Alfred Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun und Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan. Tan kommt zu dem Schluss, dass „der Rezeptionsrahmen, die Anreicherung der Kenntnisse und die literarische Umsetzungsmöglichkeit […] das Chinesenbild in der deutschen Literatur entscheidend beeinflusst haben“.17

Erwähnt werden soll hier noch der von Uwe Japp und Jiang Aihong zusammen herausgegebene Band China in der deutschen Literatur 1827–1988,18 der auf eine Tagung zurückgeht, bei der mehrere deutsche und ← 5 | 6 → chinesische Germanisten über verschiedene in dem genannten Zeitraum entstandene Werke mit China-Motiven berichteten.

Für die Zeit nach 1989 liegt also bisher noch keine umfassende Analyse des China-Bildes in deutschen Romanen vor, da der Schwerpunkt der Forschung zum gegenwärtigen deutschen China-Bild momentan auf den modernen Medien liegt. Die Studie der Heinrich-Böll-Stiftung 2010 gilt zwar als ein wichtiger Beitrag zur Erforschung des deutschen China-Bildes nach 1990, sie besteht jedoch überwiegend aus Zeitungsartikeln und kurzen Reiseberichten. Die wenigen wissenschaftlichen Aufsätze, die das Thema anschneiden und sich hier anführen lassen, sind z. B. Liu Weijians „Von der Musterstadt der Revolution zum ,New York von heute‘: Shanghai-Repräsentation in der deutschen Literatur nach 1949“19, Wolfgang Kubins „,Kein Notausgang Peking‘. Zum Problem der Repräsentation von China in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“20 und Zhuang Weis „Transkulturelle Erinnerungsliteratur des jüdischen Exils in Shanghai (1933–1950)“.21

Ziel dieser Arbeit ist es, die aktuelle Darstellung Chinas in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur anhand von acht ausgewählten Romanen mit China-Motiven, die nach 1989 erschienen sind, zu untersuchen. Dabei wird den Fragen nachgegangen, wie es zu dieser Darstellung gekommen ist und welche Entwicklungsperspektiven sich daraus ableiten lassen.

Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem Fremden und dem Eigenen wird die Exotismuskonzeption von Victor Segalen (1878–1921) herangezogen, die als roter Faden für die Romananalyse dienen soll. Diese Konzeption mag zunächst etwas veraltet erscheinen, vergleicht man sie bspw. mit der der Orientalismus-Kritik, einer deutlich neueren Theorie des ← 6 | 7 → US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Edward Said (1935–2003), die sich mit dem Bild des Orients in der europäischen Kultur und Wissenschaft auseinandersetzt und in der jüngsten Vergangenheit ein wesentlich breiteres Echo im akademischen Diskurs gefunden hat.22

Laut Said, der das Streben des Westens nach globaler kultureller Dominanz und Hegemonie anprangerte, ist Orientalismus „ein westlicher Stil, den Orient zu beherrschen, zu gestalten und zu unterdrücken“.23 Diese These, die im westlichen Interesse am Orient in erster Linie ein Instrument zur Durchsetzung eigener politisch-ökonomischer Machtansprüche sah, übte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf viele kulturwissenschaftliche Bereiche aus und wurde insbesondere von der nun aufblühenden Postkolonialismus-Forschung dankbar aufgenommen.

Nichtsdestoweniger stieß Saids Orientalismus-Begriff in der Rezeption sowohl innerhalb als auch außerhalb der westlichen Welt auf große Widerstände. Dabei beklagten nicht nur Islamkritiker das ihrer Ansicht nach schiefe Bild von Orient und Okzident, das Said zeichnete, auch andere Rezensenten störten sich an der „ontologischen Differenz zwischen Ost und West“,24 da sie Europa und Nordamerika auf der einen sowie Asien und Afrika auf der anderen Seite zwangsläufig in eine Frontstellung gegeneinander brachte und zudem in ein unverrückbares Täter-Opfer-Schema ← 7 | 8 → zu pressen schien. Dabei seien die Einstellungen und Ansichten innerhalb der kolonisierten Gesellschaften in Saids Theorie gänzlich unterschlagen worden, obwohl diese das Orientbild des Westens durchaus aktiv mitgeprägt hätten, statt es bloß passiv zu konsumieren, wie Gu Ming Dong aufzeigt.25 So hat es selbst auf dem Höhepunkt des Imperialismus neben allen den Kolonien aufgezwungenen westlichen Wertvorstellungen durchaus auch Offenheit für den kulturübergreifenden Austausch von unterschiedlichen Ideen und Konzepten gegeben, wie etwa das Leben und Wirken Victor Segalens beweist, auf das wir später noch näher eingehen werden. Diese Erkenntnis hat sich glücklicherweise auch in den postkolonialen Studien, die auf Saids innovativen Perspektivenwechsel folgten, allmählich durchgesetzt.

Details

Pages
XII, 248
Publication Year
2018
ISBN (PDF)
9781787076228
ISBN (ePUB)
9781787076235
ISBN (MOBI)
9781787076242
ISBN (Hardcover)
9781787075207
DOI
10.3726/b11207
Language
English
Publication date
2018 (November)
Keywords
Chinabild Deutsch Literatur
Published
Oxford, Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Wien, 2018. XII, 248 pp.
Product Safety
Peter Lang Group AG

Biographical notes

Liangliang Zhu (Author)

Liangliang Zhu promovierte an der Rheinischen Friedrich- Wilhelms-Universität Bonn im Jahr 2015. Seit Juni 2015 ist sie Dozentin bei dem Fremdspracheninstitut der Universität Fuzhou, China.

Previous

Title: China im Bild der deutschsprachigen Literatur seit 1989