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Interkulturelle Intertextualität im «Widuwilt»

Diskussion – Konzeption – Analyse

von Jennifer Koch (Autor:in)
©2020 Dissertation 348 Seiten

Zusammenfassung

In ihrer vergleichenden Untersuchung verfolgt die Autorin den Ansatz, dass bereits im Mittelalter interkulturelle Austauschprozesse innerhalb von Gesamtkulturen stattgefunden haben. Um ‹immanente Interkulturalität› als Forschungsfeld zu erschließen, setzt sie sich mit wesentlichen Begriffen der Interkulturellen Germanistik auseinander und definiert darauf aufbauend begriffliche Grundbausteine für die Germanistische Mediävistik. Diese bündelt die Autorin in dem Konzept der Interkulturellen Intertextualität, das sie anhand des Widuwilt und Wirnts Wigalois untersucht. Exemplarisch betrachtet sie auch die interkulturell-intertextuelle Beziehung zwischen dem Dukus Horant, der Kudrun und dem König Rother.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Dank
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • I Interkulturalität und die mittelalterliche Literatur
  • 1. Interkulturalität als Forschungsgegenstand
  • 2. ,Immanente Interkulturalität‘: Aschkenasim und Christen
  • 3. Interkulturalität als Herausforderung: Der Widuwilt
  • Diskussion
  • II Grundbausteine Interkultureller Intertextualität
  • 1. Grundbaustein: Kultur
  • 1.1 Kultur – Kulturen – Gesellschaft: Definition
  • 1.2 Gesamt- und Teilkultur
  • 2. Grundbaustein: Interkulturalität
  • 2.1 Historische Interkulturalität: Definition
  • 2.2 Verhandlungsgrößen interkultureller Prozesse: Fremdes und Eigenes
  • 3. Grundbaustein: Intertextualität
  • 3.1 Literatur und Kultur – Literatur als Kulturvermittlerin
  • 3.2 Intertextualität und Interkulturalität
  • Konzeption
  • III Interkulturelle Intertextualität
  • 1. Definition
  • 2. Intensität intertextuell-interkultureller Beziehungen
  • 2.1 Einzeltext- und Systemreferenzen
  • 2.2 Markierungen der Referenzen
  • 3. Interkulturelle Spannungen: Formen intertextueller Kommunikation
  • 3.1 Verfremdende intertextuelle Schreibweisen und Verfahren
  • 3.2 Gattungshybridität
  • 4. Kulturelle Muster – kulturelle Narrative
  • 4.1 Erzählschemata
  • 4.2 Kulturmuster
  • 4.3 Deutungsmuster
  • 4.4 Kulturthemen
  • Analyse
  • IV Interkulturelle Intertextualität im Widuwilt
  • 1. Intensität der intertextuellen Beziehung zwischen Widuwilt und Wigalois
  • 1.1 Einzeltext- und Systemreferenzen im Widuwilt
  • 1.2 Märchen, Artusroman und ,Spielmannsepik‘: Gattungshybridität im Widuwilt
  • 2. Kulturelle Narrative: Interkulturelle Erzählschemata im Widuwilt
  • 2.1 Kein ,Doppelweg‘: die Heldenkarriere
  • 2.1.1 Das Schema und seine Funktion
  • 2.1.2 Mit sehenden Augen blind: Widuwilts Heldenkarriere
  • 2.2 Verheiratet und doch getrennt: Die ,gestörte Mahrtenehe‘
  • 2.2.1 Das Schema und seine Funktion
  • 2.2.2 Gabein und Lukrezia: eine defizitäre Ehe
  • 3. Kulturelle Muster als Narrative: Kulturmuster im Widuwilt
  • 3.1 Eine Frage der Ebenbürtigkeit: Jüdische Eheschließung
  • 3.2 Ein ehrenhaftes Geschenk für den Artushof: Gabentausch
  • 4. Intertextuelle Kommunikation: Interkulturelle Spannungen zwischen Widuwilt und Wigalois
  • 4.1 Deutungsmuster im Widuwilt
  • 4.1.1 Eigenes im Fremden: Artus zwischen literarischer und biblischer Tradition
  • 4.1.2 Interkulturelle Konflikte: das Gotteskönigtum und die Messiaserwartung
  • 4.1.3 Fremdes im Eigenen: heiliges Jerusalem und Fegefeuer
  • 4.2 Verfremdung: Parodie im Widuwilt
  • 4.2.1 Artusparodie
  • 4.2.2 Gabeinparodie
  • 4.3 Der andere Blickwinkel: Kulturthemen
  • 4.3.1 Zwiespalt: das Kulturthema Ehre
  • 4.3.2 Ablehnung: das Kulturthema Minne
  • V Exkurs: Interkulturelle Intertextualität im Dukus Horant
  • 1. Der Dukus Horant als interkulturelles Epos
  • 2. Intensität der intertextuellen Beziehungen
  • 3. Intertextuelle Spannungen
  • 4. Interkulturelles Narrativ: eine ‚gefährliche‘ Brautwerbung
  • 5. Interkulturelle Muster und Themen: Heiratsvermittlung, minne und der Gabentausch
  • Resümee und Ausblick
  • Literaturverzeichnis
  • a. Quellen
  • b. Forschung
  • c. Hilfsmittel
  • Lexika
  • Einführungen, Handbücher und Überblicksdarstellungen
  • Internetquellen
  • Reihenübersicht

I Interkulturalität und die mittelalterliche Literatur

1. Interkulturalität als Forschungsgegenstand

Der Begriff ‚Interkulturalität‘ hat in den vergangenen 30 Jahren zunehmend an gesellschaftlicher Bedeutung und Relevanz gewonnen. Ursprünglich etablierte er sich innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften, wobei er heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen verwendet wird.1 ‚Interkulturalität‘ ist zum Ausdruck unserer vermeintlich modernen, offenen und toleranten Gesellschaft geworden und wird vielleicht gerade deshalb mittlerweile inflationär gebraucht. Daneben, so hat es den Anschein, besteht eine gewisse Unwissenheit über die eigentliche Semantik des Begriffs, was zu Fehlinterpretationen und der falschen synonymen Verwendung von ‚multikulturell‘, ,subkulturell‘, ,transkulturell‘, ,intrakulturell‘ und ‚interkulturell‘ führt.2 Zudem sind nicht alle Begegnungen zwischen fremden Kulturen grundsätzlich interkulturell, was die Schwierigkeiten vieler Wissenschaftsfachbereiche erklärt, genaue Definitionen von ‚Interkulturalität‘ zu formulieren.3

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Die Interkulturelle Germanistik sticht mit der recht scharfen Konturierung ihrer Begrifflichkeiten und Konzepte aus der Menge dieser Disziplinen hervor. Aus der Fremdsprachengermanistik hervorgegangen und methodisch der Inlandsgermanistik verbunden, versteht sie sich als Bindeglied zwischen beiden Fächern.4 Ihre Ideen, Konzepte und Toleranzgedanken muten nicht nur fortschrittlich und modern an, sondern werden den heutigen gesellschaftlichen Ansprüchen an eine Wissenschaft in jeder Weise gerecht. Als „angewandte[…] Kulturwissenschaft“ sind für ihre Arbeit sowohl das internationale kulturelle Interesse an der deutschen Sprache und Literatur richtungsweisend als auch die „Unterschiedlichkeit der jeweiligen kulturellen Ausgangsposition“5, also die wissenschaftlichen Fragestellungen, Annäherungsweisen, die Kommunikation und der Austausch darüber sowie die daraus resultierenden vielfältigen Erkenntnischancen:

Unter interkultureller Germanistik verstehen wir eine Wissenschaft, die die hermeneutische Vielfalt des globalen Interesses an deutschsprachigen Kulturen ernst nimmt und kulturvariante Perspektiven auf die deutsche Literatur weder hierarchisch ordnet noch als Handicap einschätzt, sondern als Quelle zu besserem, weil multiperspektivischem Textverstehen erkennt und anerkennt.6

Begründet wird diese Sicht mit dem Postulat, „eine Kultur [lerne] von der anderen und [grenze] sich zugleich von ihr ab.“7 Kulturelle Unterschiede zu tolerieren und ebendiese Erkenntnis für ein besseres Verstehen von Kulturen ←16 | 17→und zur Überwindung von Ethnozentrismus zu nutzen, ist das Hauptanliegen der Interkulturellen Germanistik. Die Zusammenarbeit zwischen Germanisten auf internationaler Ebene und die sich daraus ergebenden wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten sind für das Fach daher selbstverständlich.

Unter den verschiedenen Fachbereichen hat sich die Interkulturelle Literaturwissenschaft bisher am stärksten etabliert. Sie

umfasst unterschiedliche Dimensionen, sie bestimmt sich über unterschiedliche Aspekte. Dazu gehören ihr Gegenstand, der das interkulturelle Potenzial von Literatur umfasst, ihr Gegenstandsbereich, der sich auf Literaturforschung in Theorie und Praxis außerhalb der Muttersprachendisziplin bezieht, ihre Ziele, die als das Erlernen von interkulturellen Kompetenzen definiert sind, ihre Methoden zur Literaturvermittlung und -analyse und ihre Position als kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft innerhalb der Kulturwissenschaften.8

Da sie sich als „gegenwartsorientierte Fremdkulturwissenschaft“9 versteht, legt die Interkulturelle Literaturwissenschaft ihr Hauptaugenmerk auf die Untersuchung der kulturell bedingten Rezeption und Produktion deutschsprachiger Literatur der Gegenwart.10 Deshalb sieht sie das „interkulturelle Potenzial“11, womit die Art und Weise, wie Literatur Kulturunterschiede darstellt, gemeint ist, ausschließlich in Werken, die frühestens zur Zeit der Aufklärung (vorzugsweise im Zeitalter der Globalisierung) entstanden sind. Dass das Mittelalter dabei in ihren Überlegungen weitgehend ausgespart wird, liegt vermutlich daran, dass die Interkulturelle Literaturwissenschaft Interkulturalität nicht als mittelalterliches Phänomen betrachtet, obwohl Phänomene, die mit dem Begriff ‚Globalisierung‘ gefasst werden, in keiner Weise spezifisch moderne sind.12 Aufgrund dieser Perspektive bedenkt sie die Historizität von Interkulturalität nur unzureichend, was ←17 | 18→sich nicht recht nachvollziehen lässt, da Interkulturalität kein zeitlich messbares Phänomen ist, sondern in veränderter Form bereits vor der Aufklärung stattgefunden haben wird.13

Wegen der zeitlichen Fokussierung fehlen der Interkulturellen Literaturwissenschaft dann entsprechende Instrumente und Konzepte, um Interkulturalität in und an der mittelalterlichen Literatur zu untersuchen. Das bedeutet wiederum, dass deren Potenzial bisher von ihr nicht hinreichend erkannt und ausgeschöpft wurde.14 Im Bewusstsein dieses Versäumnisses kritisiert Wiegmann in ihrem jüngst erschienenen Tagungsband Diachrone Interkulturalität die „definitorische Beschränkung“15 der Interkulturellen Germanistik auf die Globalisierung und stellt Beiträge vor, die das Potenzial einer historisch ausgerichteten Interkulturalitätsforschung unter unterschiedlichen Perspektiven ausloten.

Die Germanistische Mediävistik hat sich allerdings dem Forschungsgegenstand ‚Interkulturalität‘ bisher nur zögerlich zugewendet, obwohl sie eine „Affinität […] gegenüber der Interkulturalitätsforschung“16 aufweist. Der Grund für ihre Zurückhaltung ist folgender: Um eine Interkulturelle Germanistische Mediävistik zu etablieren, müssten erst die entsprechenden Instrumente definiert und kritisch diskutiert werden. Dieser Aufgabe hat sich bisher weder die Interkulturelle Germanistik noch die Germanistische Mediävistik gestellt.17 Braun bezieht in diesem Sachverhalt eine kritische Position, da sich für ihn die Möglichkeiten der interdisziplinären Zusammenarbeit mit der Interkulturellen Germanistik bereits erschöpft haben.18 Sieburg hingegen hat in seinem Plädoyer für eine Interkulturelle Mediävistik deren Erkenntnispotenzial klar formuliert:

[E]ine mediävistische Forschung unter dem Leitbegriff Interkulturalität [könnte] dazu anhalten, bereits gewonnene Erkenntnisse und Forschungsresultate neu zu bündeln, schärfer zu konturieren und darüber zu neuen Fragen und Antworten zu gelangen. Und ←18 | 19→zweitens könnte so ein Weg beschritten werden, die Mediävistik aus einem Nischendasein, gleichsam dem toten Winkel aktueller Fragestellungen, wieder stärker in das Zentrum literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung (und Lehre) zu rücken.19

Mediävistische Forschungen im Umfeld von ‚Interkulturalität‘ versuchen Sieburgs Plädoyer nachzukommen, indem sie sich vor allem der literarischen Darstellung interkultureller Kulturbegegnungen und -kontakte, der Fremdheit/Alterität bspw. in Reiseromanen oder den ‚sogenannten Spielmannsepen‘ oder der mittelalterlichen Texte an sich (als Zeugnisse „kulturhistorischer Fremde“20) und der Mittelalterrezeption widmen.21 Inwiefern aber dies Einflussfaktoren und Prozesse sind, die auf die Verfasser und ihre Texte eingewirkt haben, wird bisher nicht untersucht. Das verwundert, weil die Germanistische Mediävistik seit jeher schon „,mehr‘ als Literaturwissenschaft“22 ist und mit einer interkulturellen Ausrichtung einer ihrer zentralsten Aufgaben nachkäme, nämlich

literarische Texte, die in einer spezifischen geistes- und kulturgeschichtlichen Situation primär für ein zeitgenössisches Publikum entstanden sind, über die ständig wachsende zeitliche Distanz hinweg verständlich zu erhalten23.

Entscheidend in diesem Zusammenhang ist die Frage, wie mittelalterliche interkulturelle Prozesse heute literaturwissenschaftlich aufgespürt und untersucht werden können. Ihre Beantwortung ist tatsächlich sehr problematisch, denn der Begriff ‚Interkulturalität‘ basiert auf der Kenntnis mindestens zweier Kulturen. Diese Voraussetzung ist aber bei Werken des Mittelalters oft nicht gegeben. Lösen lässt sich dieses Problem, indem die Vorlagen (= Prätexte), die meist mit ←19 | 20→großer Sicherheit bestimmt werden können, in den Blick genommen werden. Anhand ihrer Sprache können diese lokal und temporal zugeordnet werden, was wiederum über deren kulturelle Codierung Aufschluss gibt. Mittelalterliche Interkulturalität lässt sich demzufolge über Intertextualität rekonstruieren und wird, da die Rezeption der Texte über Jahrhunderte hinweg andauern kann, sogar zu einem Phänomen innerhalb eines Kulturraums. Folglich ist das, was bisher als intrakulturell betrachtet wurde, im Falle mittelalterlicher Literatur eigentlich interkulturell.24

Werden gesellschaftliche Stände/Milieus/Klassen/Schichten als Kultur aufgefasst, dann scheint die soziale und kulturelle Schichtung der mittelalterlichen Gesellschaft „immanente[r] Interkulturalität“25 zu widersprechen.26 Da solcherlei Sozialkategorien in veränderter Form gegenwärtig noch bestehen und interkulturelle Prozesse dennoch stattfinden, handelt es sich um keinen absoluten Widerspruch.27 Innerhalb der Geschichtswissenschaft hat sich zudem schon längst die Auffassung etabliert, dass „selbst die drei ‚Schichten‘ (heute meist recht mechanisch als Ober-, Mittel- und Unterschicht bezeichnet) in Wahrheit keine homogenen Gebilde gewesen sind.“28 Prinzipiell können Kultur(en) schichttypisch sein, aber bereits im Mittelalter sind sie keineswegs holistische Einheiten:

Die Vorstellung […] [von] in sich geschlossenen und nach außen klar abgegrenzten Einheit[en] ist nur unter der Voraussetzung weitreichender Abstraktion möglich und in Hinsicht auf die Perspektivierung besonderer Fragestellungen sinnvoll.29

Insofern sollte für das Mittelalter nicht ausschließlich transzendente, sondern ‚immanente Interkulturalität‘ begrifflich gefasst und zum Gegenstand von Forschungen der Interkulturellen Mediävistik gemacht werden.30

←20 | 21→

Das Anliegen der vorliegenden Studie ist es daher, insbesondere ‚immanente Interkulturalität‘ als ein Phänomen des Mittelalters zu begreifen, dieses als Untersuchungsgegenstand mediävistischer Fragestellungen zu etablieren und dessen Erkenntnispotenzial für zukünftige Forschungen aufzuzeigen. In diesem Zusammenhang komme ich dem Desiderat nach, „den methodischen Rahmen einer [I]nterkulturellen Mediävistik programmatisch abzustecken“31. Die Vorstellung von interkulturellen Prozessen zwischen Rezipienten32 und Texten übertrage ich auf die Textentstehung und betrachte diese als deren wesentliche Einflussfaktoren. Ich nehme deshalb an, dass ein mittelalterlicher Text von den interkulturellen Austauschprozessen seines Verfassers beeinflusst wird und sich Interkulturalität am sowie im Text manifestiert. Dieser Text bewegt sich in einem ‚Zwischen‘ seiner Einflusskulturen und entzieht sich damit einer genauen kulturellen Zugehörigkeit.

Die Interaktionen zwischen Juden und Christen begreife ich im Folgenden als ‚immanente Interkulturalität‘ und den Widuwilt33 sowie den Dukus Horant als Vermittler derjenigen interkulturellen Austauschprozesse, die zwischen ihren jüdischen Verfassern und den christlichen Prätexten stattgefunden haben.34 Ausführlich zeigen werde ich dieses Phänomen an der intertextuellen Beziehung zwischen Wigalois35 und Widuwilt. Um die Komplexität meines Konzeptes und sein Transferpotenzial auf andere kulturelle Austauschprozesse und Beziehungen zu veranschaulichen, werde ich exemplarisch die Interkulturelle Intertextualität zwischen dem Dukus Horant36, der Kudrun37 und dem König Rother38 in den Blick nehmen.

←21 | 22→

2. ,Immanente Interkulturalität‘: Aschkenasim und Christen

Der Umgang mit den sogenannten gesellschaftlichen Randgruppen39 ist im Mittelalter von Ausgrenzung geprägt, was sich heute noch anhand der mittelalterlichen Stadtplanung rekonstruieren lässt. Gesellschaftliche Randgruppen wie das fahrende Volk, zu dem Gaukler, Bettler, Prostituierte sowie Unterhaltungskünstler und herumreisende Kleriker und Mönche zählen,40 müssen vor den Stadttoren kampieren und werden damit bewusst von der Stadtbevölkerung ausgegrenzt. Dies gilt aber nicht für alle Vaganten gleichermaßen, denn angesehene Spielleute, die als eine Art ,fahrende Oberschicht‘ gelten können, haben durchaus Zugang zu adligen und kirchlichen Höfen. Allerdings leben sie in Abhängigkeit von deren Gaben und damit nicht selten in Armut. Nur wenn der Gesang gefällt, erhält der Spielmann seinen Lohn.41

Die Aschkenasim gehören ebenfalls zu den gesellschaftlichen Randgruppen. Im hohen und späten Mittelalter leben sie, im Gegensatz zu den Fahrenden, in eigens erwählten oder ihnen zugewiesenen Vierteln innerhalb der Stadtmauern. Durch die Bildung einer eigenen Kommunikationsgemeinschaft unterscheiden sie sich vom Großteil der Randgruppen, bei denen keine Entwicklung einer eigenen Gelehrsamkeit und Kultur zu beobachten ist.42

Juden teilen eine gemeinsame „lebensweltliche Praxis […] und anthropologische Aspekte der (individuellen) Ethik und (gruppenbezogenen) Moral“43 sowie ein gemeinsames kulturelles Wissen. Ihre eigene religiöse Gesetzgebung halten sie streng ein und versorgen bzw. verwalten ihre Gemeinde ähnlich den mittelalterlichen Dorfgemeinschaften – die eigene Ordnungen und Vorstellungen über die Art der Wassernutzung, den Zeitpunkt ihrer Ernte bis zur Verwendung des Weidelands entwickelten – gar nahezu autonom.44 So gibt es koscher ←22 | 23→produzierende Bäcker und Fleischer, Weinhändler, Betreiber des rituellen Bades, Synagogendiener usw.45 Aschkenasische Juden stellen allerdings nicht den einzigen Sonderfall dar. Andere Randgruppen wie Bettler, die ähnlich dem Jiddischen einen eigenen Soziolekt – das Rotwelsch – formten und eigene Festlichkeiten und sogar Feiertage feierten, die Angehörigen anderer (Teil-)Kulturen zum Teil offenstanden, entwickelten eigene kulturelle Spezifika.46

In ihren religiösen Bekenntnissen und spezifischen Lebensformen aber, die bis hin zu den Lehrplänen in den Schulen reichen, drücken die Aschkenasim ihre bewusste Abgrenzung von den Christen aus. Für Graus ist dies ein „Mittel der Selbsterhaltung“, welches der „Gemeinschaftsbildung, zum Hervorbringen eines verstärkten Wir-Gefühls“47 dient. Im Mittelalter integrieren sich für ihn die Juden also nicht in die christliche Gesellschaft, sondern identifizieren sich vielmehr mit deren Normen, d. h. sie versuchen, „das Anderssein zu verbergen […] und sich von anderen sozial Minderwertigen oder Randständigen abzugrenzen.“48 Sie bewahren sich zugleich ihre „religiöse Identität“49, indem sie sich außerhalb der eigenen Gruppe in der Volkssprache verständigen, aber weiterhin das Hebräische pflegen.50 Dies könnte erklären, weshalb deutsche Namen bei Juden und die Verwendung deutscher Glossen in hebräischen Schriften belegt sind.51 Przybilski hingegen deutet diese Besonderheit als Indiz dafür,

dass das zeitgenössische Deutsch die eigentliche Sprache der aschkenasischen Juden dargestellt hat. Juden des Mittelalters wuchsen nicht mit dem Hebräischen ihrer normativen Quellen als Erstsprache auf, sondern vielmehr mit den koterritorialen Volkssprachen, und erlernten die Gelehrtensprache ihrer Kultur analog zu ihren christlichen Zeitgenossen erst mit Hilfe volkssprachlicher Erläuterungen.52

Unabhängig davon, wie dieses Verhalten der Juden bewertet wird, führt ihre Abgrenzung unweigerlich zu Konflikten mit ihrer christlich geprägten Umwelt, weshalb die Mauern der Judenviertel häufig als Schutzvorrichtungen vor den ←23 | 24→christlichen Nachbarn interpretiert wurden.53 Heute geht die Forschung jedoch davon aus, dass die Mauern der Judenviertel ihnen zwar zum Schutz dienen, aber nicht zwangsläufig vor Christen. Diese leben häufig in jüdischen Vierteln, wodurch die Schutzmaßnahmen offenbar „viel durchlässiger [sind] als in der älteren Forschung bislang angenommen wurde“54. Urkundlich belegt ist außerdem, dass Juden an christlichen Festlichkeiten wie Turnieren, Duellen oder Jagdveranstaltungen teilnehmen, wenn sie auch nicht gemeinsam mit den Christen speisen dürfen. Umgekehrt sind Fälle belegt, in denen Christen jüdischen Gebeten und Feierlichkeiten beiwohnen. Derlei kulturelle Zusammenkünfte sind sicherlich selten, „doch werden wir die Intensität dieses Zusammenseins nicht unterschätzen dürfen.“55

Aus dem kulturellen Kontakt und Austausch zwischen Aschkenasim und Christen geht auch die literarische Aktivität der Juden hervor, die bereits „bei ihrer Einwanderung ins deutsche Sprachgebiet die deutsche Sprache [und Literatur] auf allen Ebenen rezipiert und weiterentwickelt“56 haben. Der Fund eines fragmentarischen literarischen Textes, der aus dem 1349 zerstörten Kölner Judenviertel stammt, liefert dafür einen handfesten Beweis. Obwohl sich der Inhalt auf der Schiefertafel nicht mehr zweifelsfrei rekonstruieren lässt, ist dennoch bewiesen, „dass die Juden in den rheinischen Städten vor der Katastrophe von 1349 am ‚Literaturbetrieb‘ der christlichen Umgebung, in welcher Form auch immer, partizipiert haben“57.

Bei den fahrenden Musikanten lassen sich deshalb christliche und jüdische Spielmänner ausmachen, die sich nicht nur eine gemeinsame Lebenswelt, sondern ähnliche Stoffe, Motive und Formen teilen.58 Das Vortragsrepertoire des jüdischen Spielmanns lässt vermuten, dass

er in vielem seinem christlichen Berufskollegen nahegestanden haben muß. Auch der jüdische Spielmann trug in bildhafter Sprache verstrickte und phantastische ‚aventiuren‘ ←24 | 25→vor, auch er erzählte eindrucksvoll Geschichten und Sagen aus längst vergangenen Zeiten, auch er besang gefühlvoll Freude und Leid zweier sich Liebender.59

Lieder, die eine dezidiert jüdische Thematik und Motivik aufweisen, greifen auf typisch christliche Rhythmen, Melodien, Strophenbauweisen und Reimtechniken zurück.60 Przybilski versteht diese als „zentrale Tauschobjekte zwischen den kulturellen Archiven“ und nimmt aufgrund entsprechender Handschriften an, dass der „volkssprachlich-literarische Horizont aschkenasischer Juden des 14. Jahrhunderts […] sich ganz offensichtlich nicht von dem ihrer christlichen Zeitgenossen“61 unterschied. Jüdische Spielmänner waren „in der deutschen Literatur bewandert“, womit sich der Einfluss „deutsche[r] Vorbilder“62 auf ihre Lieder erklären lässt. Zu fast jeder mittelalterlichen Textgattung gibt es überdies entsprechende jüdische Bearbeitungen. „Sagen um Dietrich von Bern, das Hildebrandslied, Tristan und Isolde und die Artus-Sage“63 waren sehr beliebt. Der Sefer hischschamed ha-Tabla-Agola shel ha Melech artus (1279) ist eine auf einem italienischen Prätext basierende Bearbeitung des Artustoffes, in der nicht nur von Artus und Lancelot, sondern auch der Gral-Suche erzählt wird und die ebenfalls weit verbreitet war.64

Umgekehrt ist die Rezeption ‚jüdischer Stoffe‘ in vermeintlich ‚christlichen Werken‘, wie in der Weltchronik Jans von Wien oder in der Rudolfs von Ems, ebenfalls belegt, wobei diese Stoffe allerdings nicht ‚typisch jüdisch‘ sind. Sie stammen aus dem Alten Testament und sind deshalb zugleich ‚christlich‘.65 Auch jüdische Texte haben die Tendenz, Stoffe und Motive des Alten Testaments in vermeintlich ‚christliche‘ Prätexte einzuarbeiten. Grundlegend lässt also das

Vorhandensein einer Vielzahl von jüdischen Aneignungen nichtjüdischer Texte und Erzählstoffe […] die Schlussfolgerung zu, dass jüdische und christliche Autoren und ihre jeweiligen Rezipienten gleichermaßen an bestimmten Formen des Erzählens wie auch an bestimmten Inhalten Gefallen fanden. Mittelalterliche und frühneuzeitliche, hebräische und jiddische literarische Texte bezeugen ein geteiltes Interesse an Romanen und an epischen Kurzformen, die auch in der höfischen oder städtischen christlichen ←25 | 26→Gesellschaft rezipiert wurden, an ernsten und an komischen Texten, an Texten in Reimpaarversen, in Strophen oder in Prosa, an ganzen Text- und Stoffkomplexen oder an einzelnen Motiven.66

Insbesondere am Dukus Horant und am Widuwilt lässt sich dieses geteilte Interesse gut beobachten. Gemeinsam ist beiden Texten, dass ihre jüdischen Verfasser zwar höfisch codierte Prätexte wählen, sie aber sprachlich und stilistisch an die ‚Spielmannsdichtung‘ anlehnen.67 Dies hängt wiederum mit ihrer Entstehungszeit und Überlieferung zusammen, denn die Interkulturalität der beiden Texte ist nicht nur eine zwischen zwei Religionen, sondern auch zwischen der städtischen Kultur des Spätmittelalters und der höfischen des Hochmittelalters.68 Ihre interkulturell-intertextuellen Beziehungen zu ihren Prätexten sind äußerst komplex, vielschichtig und sogar teilweise widersprüchlich.

3. Interkulturalität als Herausforderung: Der Widuwilt

Der Widuwilt ist fragmentarisch in drei Handschriften aus dem 16. Jahrhundert überliefert, von denen sich zwei in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek (cod. hebr. 255 und cod. hebr. 289) befinden und eine in der Bibliothek des Trinity College in Cambridge (Hs. Cambridge, MS.F.12.44) aufbewahrt wird. In den beiden Hamburger Handschriften sind der Anfang und der Schluss verloren gegangen, die Cambridger Handschrift ist nahezu vollständig – ihr fehlt nur eine Seite.69 Schon Landau verweist darauf, dass der Text selbst aber älter ist und wahrscheinlich aus dem 14. Jahrhundert stammt, worauf die Kenntnis weiterer mittelhochdeutscher Texte hindeute:

The result of our foregoing investigation is that Wirnt von Gravenberg’s poem – and not the prose Wigalois – has been adapted by the Rhenish Franconian author of the Artus-hof, who has not merely copied and rewritten it in the doggerel rhyme of his epoch (fourteenth century), […]. […] The author of the Artus-hof was very familiar with other ←26 | 27→German romances, notably with those of the Arthurian cycle, and round off his story and to render it more palatable to the popular taste.70

Zwar hält auch Cormeau eine Datierung des Widuwilt in das 14. Jahrhundert für möglich, da es, wie Landau schon beobachtete, intertextuelle Referenzen zu anderen mittelhochdeutschen Werken, wie bspw. auf den Willehalm von Orlens, gibt. Demgegenüber spreche aber „eine Anspielung auf einen Großherzog von Toskana […] als Referenz an einen judenfreundlichen Fürsten“71 für eine Bearbeitung im 16. Jahrhundert.

Jaeger vermutet zudem, es habe noch eine weitere Handschrift gegeben, die sich im Besitz von Josef bar Moshe fun Hoichstett (1420–1488) befand, aber bisher nicht aufgefunden wurde bzw. möglicherweise verschollen ist.72 Die überlieferten Handschriften, da ist sich die Forschung weitgehend einig, gehen auf einen gemeinsamen Prätext zurück, stehen aber nicht in einem „genetische[n] Abhängigkeitsverhältnis“, sondern sind vielmehr „Realisierungsvarianten derselben Erzählung“.73 Das bedeutet wiederum, dass der Widuwilt Ergebnis mehrerer Bearbeitungsvorgänge ist, was für die Beliebtheit des Wigalois bei einem jüdischen Publikum spricht.74

Dies lässt auch die recht hohe Anzahl der erhaltenen Drucke vermuten, denn neben den bekannten handschriftlichen Fragmenten sind insgesamt 13 überliefert, die aus Deutschland (Hanau, Wilhermsdorf, Fürth, Frankfurt/Oder, Leipzig), Holland (Amsterdam) und Tschechien (Prag) stammen und zwischen 1671 und 1786 gedruckt wurden. Der Druck von 1671, an dem Josef Witzenhausen beteiligt war, wurde mehrmals nachgedruckt.75 Dieser Druck ist deshalb von größerer Bedeutung, weil es sich dabei um eine „erstmals revidierte […] Fassung“76 handelt, die sich von den Handschriften insbesondere in der Sprache, die moderner und um hebräische Ausdrücke ergänzt ist, sowie in der Erweiterung um 1000 Verse unterscheidet.77 Die hohe Anzahl an Textzeugen und deren breite Streuung zeigen nicht nur, dass sich die Erzählung von Widuwilt offenbar großer ←27 | 28→Beliebtheit bei seinem Publikum erfreute, sondern dass sie sogar über verschiedene Kulturgrenzen hinaus rezipiert wurde.

Aufgrund der intertextuellen Beziehung zu Wirnts Wigalois gilt der Widuwilt als ‚jüdischer Artusroman‘, womit er aber einer Gattung angehört, die „in Inhalt und Bildhaftigkeit genuin und spezifisch christlich determiniert“78 ist. Besonders problematisch ist dies, weil er sich intertextuell zwar auf den außerordentlich christlich geprägten Wigalois bezieht, aber keine beweisbare Judaisierungstendenz aufweist. Seine Interkulturalität macht seine Erforschung deshalb zu einer Herausforderung, denn er ist aufgrund der interkulturellen Prozesse, die seine Entstehung vorangetrieben und beeinflusst haben, intertextuell und interkulturell sehr komplex, vielschichtig und widersprüchlich.

Möglicherweise ist deshalb die Forschung zum Widuwilt leicht zu überschauen. Von einzelnen Arbeiten einmal abgesehen, hat der Roman keine größere Aufmerksamkeit im Fach gefunden. Erst seit Jaegers Monographie wird ihm wieder ein wenig mehr Beachtung geschenkt.79 Frühere germanistische Arbeiten haben im Widuwilt eine „unter den gegebenen Bedingungen verhältnismäßig treue Übertragung eines höfischen Modells in eine außerhöfische Publikumsschicht“ gesehen, weshalb die „Abweichungen von Wirnts Wigalois, jeweils einzeln für sich, fast mehr entschuldigt als erklärt“80 wurden. In der Judaistik wurde eine „mehr oder weniger konsequent entchristlichende Aneignung eines unjüdischen Stoffes durch ein (je nachdem als aufgeschlossen oder assimilationsgefährdet beurteiltes) jüdisches Literaturpublikum“ angenommen, wobei stets diejenigen Unterschiede herausgearbeitet wurden, die „das christlich-jüdische Verhältnis unmittelbar betreffen.“81 Jüngere Arbeiten zum Widuwilt ←28 | 29→haben ironische, satirische und parodistische Züge erkannt und diese als Reaktion auf die christliche Umwelt des jüdischen Verfassers gedeutet – wiederum ohne genau auf das intertextuelle Verhältnis zu Wirnts Roman einzugehen und die Frage nach der religiösen Codierung des Widuwilt hinreichend zu klären.82 Auch sie arbeiten vor allem die Unterschiede zwischen beiden Romanen heraus und übersehen die zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem Wigalois, die nicht nur die Handlungsstruktur betreffen, sondern verblüffend detailliert sind.

Die kurze Skizzierung der bisherigen Forschungsergebnisse zeigt, dass der Widuwilt weit mehr mit seinem Prätext teilt, als die Forschung bisher angenommen hat. Sein Verfasser übt keine Kritik am Wigalois, indem er eine religiöse Umcodierung von christlichen Elementen in jüdische vornimmt, sondern er bewegt sich, so meine These, im intertextuell-interkulturellen ‚Zwischen‘ der beiden Religionen. Allerdings steht er seinem christlichen Prätext nicht wohlwollend gegenüber, denn sein Interesse am Wigalois beruht hauptsächlich auf interkulturellen Spannungen, die an der Textoberfläche seines Romans aufbrechen und unterschiedliche Ursachen haben.

Das beständige Bestreben der Forschung, die religiöse Codierung eindeutig einer Religion zuweisen zu können, kann also keine befriedigenden Erkenntnisse über die intertextuellen Beziehungen zum Wigalois hervorbringen und ihrer Interkulturalität Rechnung tragen.

Meine Arbeit setzt vor dem Hintergrund dieser Annahme an der Schnittstelle von Text und Kultur an und stellt eine Revision der bisherigen Forschungsergebnisse dar, die ich mit dem Ansatz der Interkulturalität methodisch fundieren möchte. Es geht mir darum zu verstehen, wie und warum der jüdischen Verfasser auf seinen christlichen Prätext reagiert. Wie also Eigenes und Fremdes im Widuwilt verhandelt werden und wie die interkulturell bedingte und textuell greifbare Spannung von ihm aufgelöst wird. Was bedeutet es also, dass der Widuwilt die Textstruktur seines Prätextes nahezu unverändert übernimmt, aber zentrale Elemente und Motive bewusst ins Lächerliche zieht? Warum werden Erzählschemata nahezu getreu übernommen, aber ihrer Funktion beraubt? Welche Funktion kommt der Komik im Widuwilt zu und wie ist diese in Bezug auf das interkulturelle Verhältnis zu bewerten? Warum zeigt er einen problematischen Umgang mit der ‚fremden‘ christlichen Kultur und macht dennoch „die kulturellen Differenzen auf literarästhetischer Ebene […] produktiv“83?

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Um Antworten auf diese Fragen geben zu können, stellt sich meine Arbeit der Herausforderung, eigene Begriffe und Werkzeuge zu konzipieren, mit denen immanente (und transzendente) Interkulturalität analysiert werden kann. Dies ist deshalb notwendig, weil sich meine Vorstellung von Interkulturalität auf das Phänomen der Intertextualität bezieht und eine entsprechende Konzeptionierung innerhalb der Germanistischen Mediävistik und innerhalb der Interkulturellen Germanistik bisher fehlt. Diesem Desiderat versuche ich nachzukommen und werde dazu Grundbausteine definieren, die ich in dem Konzept der ‚Interkulturellen Intertextualität‘ bündeln werde. Dabei werde ich mich mit den Leitbegriffen der Interkulturellen Germanistik kritisch auseinandersetzen sowie nach den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Anwendung in der Germanistischen Mediävistik fragen.

Meine detaillierte Untersuchung des Widuwilt konzentriert sich auf ausgewählte Intertextualitäts- und Interkulturalitätskriterien, da mir diese am aussagekräftigsten für meine These, als anschlussfähig für zukünftige Forschungen und vor allem auf unterschiedliche Textsorten übertragbar erscheinenden, was ich exemplarisch am Dukus Horant zeigen werde.

Eine Analyse weiterer Referenzfelder böte nicht weniger Erkenntnispotenzial und würde vor allem über die Bearbeitungstechnik des Verfassers und weitere Prätexte Aufschluss geben, soll innerhalb meiner Arbeit aber nur angedeutet werden.

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 31→

1 Vgl. Földes 2009, S. 503.

2 ‚Multikulturell‘ drückt einen „Ist-Zustand“ im Sinne „eines unverbundenen Nebeneinanders [Hervorhebungen nicht im Original] unterschiedlicher kultureller Gruppen in einer Gesellschaft“ (Albrecht 1997, S. 117–118) aus. ‚Subkultur‘ meint die „innerhalb eines Kulturbereichs, einer Gesellschaft bestehende, von einer bestimmten gesellschaftlichen, ethnischen o. ä. Gruppe getragene Kultur mit eigenen Normen u. Werten“ (Duden 1959–2017, S. 999–1000), allerdings in einem hierarchischen Verständnis; also im Sinne von „unter, sich unterhalb befindend, niedriger als“ (ebd.). ‚Interkulturalität‘ und ‚Transkulturalität‘ gehen jeweils von Kulturunterschieden und Kulturgrenzen aus, die durchlässig und damit relativ sind. ‚Interkulturalität‘ bezeichnet eine Beziehung, die zwischen Kulturen besteht, wohingegen sich ‚Transkulturalität‘ auf einen Prozess bezieht, der über Kulturgrenzen hinausgeht, sich also kulturübergreifend vollzieht. Vgl. Mecklenburg 2008, S. 93. Gutjahr merkt dazu kritisch an, Mecklenburg gehe mit diesem Verständnis von ‚trans- und interkulturell‘ von Kulturen als Entitäten aus. Vgl. dies. 2010, S. 25. ‚Intrakulturell‘ meint eine Beziehung oder einen Prozess, die innerhalb einer Kultur liegen oder stattfinden. Vgl. Warnke 2001, S. 248.

Details

Seiten
348
Erscheinungsjahr
2020
ISBN (PDF)
9783631817346
ISBN (ePUB)
9783631817353
ISBN (MOBI)
9783631817360
ISBN (Hardcover)
9783631805046
DOI
10.3726/b16772
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
‹immanente› Interkulturalität Intertextuelle Beziehung Jiddische Literatur Dukus Horant Artusroman Deutungsmuster Kulturmuster Kulturthemen Erzählschemata Parodie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 348 S. 2 Tab.

Biographische Angaben

Jennifer Koch (Autor:in)

Jennifer Koch studierte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Lehramt an Gymnasien für die Fächer Deutsch, Sozialkunde und Deutsch als Fremd-/Zweitsprache. Sie ist am Lehrstuhl für Germanistische Mediävistik in Forschung sowie Lehre tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Theorie und Konzeption einer interkulturellen Germanistischen Mediävistik, die Wechselwirkung von Intertextualität und Interkulturalität in der mittelalterlichen Literatur sowie die Lehr-Lern-Forschung mit den Schwerpunkten Alterität, professionelle Kompetenz von Lehrkräften und E-Learning im Kontext der mittelalterlichen Literatur.

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Titel: Interkulturelle Intertextualität im «Widuwilt»