Das Kartellbußgeldrecht unter ökonomischer Perspektive
Bewertung der europäischen und der deutschen Sanktionsnormen und Entwicklung effektiver Vorschriften
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis
- Abbildungsverzeichnis
- Teil 1. Einleitung
- Teil 2. Geltende Bußgeldnormen
- A. Bußgeldnormen und Verwaltungsvorschriften
- I. Europäisches Recht
- 1. Genese
- 2. Systematik und Tatbestandsmerkmale
- a. Bußgeldtatbestände
- b. Bußgeldobergrenze
- c. Gesamtumsatz und Unternehmensbegriff
- d. Maßgeblicher Zeitraum
- e. Bemessungskriterien
- f. Rechtsnatur
- 3. Leitlinien
- a. Rechtsnatur
- b. Geschichte
- c. Bemessung
- aa. Grundbetrag
- bb. Anpassung
- aaa. Erschwerende Faktoren
- bbb. Mildernde Faktoren
- ccc. Abschreckungsaufschlag
- ddd. Sonstige Anpassungsfaktoren
- d. Kronzeugenregelung
- aa. Erlass der Geldbuße
- bb. Reduktion der Geldbuße
- e. Vergleichsverfahren
- II. Deutsches Recht
- 1. Genese
- 2. Systematik und Tatbestandsmerkmale
- a. Kartellordnungswidrigkeitenrecht
- b. Täterkreis
- c. Bußgeldtatbestände
- d. Bußgeldobergrenze
- e. Gesamtumsatz
- f. Maßgeblicher Zeitraum
- g. Bemessungskriterien
- 3. Leitlinien
- a. Rechtsnatur und Anwendungsbereich
- b. Bemessung
- aa. Gewinn- und Schadenspotential
- bb. Ahndungsempfindlichkeit
- cc. Bemessungsvorgang
- c. Bonusregelung
- d. Einvernehmliche Verfahrensbeendigung
- B. Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht
- I. Europäisches Recht
- 1. Geltung strafrechtlicher Garantien
- 2. Bestimmtheitsgrundsatz
- 3. Gleichheitsgrundsatz
- 4. Kritik an den Leitlinien
- 5. Zwischenergebnis
- II. Deutsches Recht
- 1. Bestimmtheitsgrundsatz
- a. Bußgeldobergrenze
- aa. Literaturmeinungen
- bb. Ansicht des BGH
- b. Bemessungskriterien
- 2. Schuldgrundsatz
- 3. Kritik an den Leitlinien
- 4. Zwischenergebnis
- III. Ergebnis
- Teil 3. Ökonomisches Modell der Rechtsdurchsetzung
- A. Systematische Einordnung
- I. Historische Entwicklung
- II. Neue Institutionenökonomik
- B. Ökonomisches Modell
- I. Ökonomische Grundlagen
- 1. Individuelle Entscheidung
- a. Nutzen
- b. Erwarteter Nutzen
- c. Entscheidung – Homo oeconomicus
- 2. Risikoeinstellung
- a. Risikoaffinität, Risikoneutralität und Risikoscheue
- b. Kontext des Sanktionsrechts
- c. Risikoeinstellung im Kartellrecht
- 3. Wohlfahrt
- a. Aggregation des individuellen Nutzens
- b. Pareto-Kriterium
- II. Standardmodell
- 1. Entscheidung des Individuums
- 2. Normverstöße und gesellschaftliche Wohlfahrt
- a. Gewinne der Täter
- aa. Berücksichtigung in einer Formel
- bb. Gewinne im Kartellrecht
- b. Schäden der Opfer
- aa. Berücksichtigung in einer Formel
- bb. Schäden im Kartellrecht
- aaa. Schäden nach der ökonomischen Theorie
- bbb. Verhältnis von Gewinn und Schaden
- cc. Sanktionierung „vorteilhafter“ Verstöße ?
- aaa. Ökonomische Sichtweise
- bbb. Ineffizienzen dieses Ansatzes
- ccc. „Vorteilhafte“ Verstöße im Kartellrecht
- dd. Teilergebnis
- c. Gesellschaftliche Kosten
- d. Verfolgungskosten
- e. Zwischenergebnis
- 3. Optimum
- 4. Marginale Abschreckung
- 5. Zwischenergebnis
- III. Erweiterungen des Standardmodells
- 1. Höhe der Sanktion
- a. Soziale Kosten der Geldbuße
- aa. Rufschäden
- bb. Kursverluste an der Börse
- cc. Finanzielle Überbelastung
- dd. Weitergabe an die Konsumenten
- ee. Teilergebnis
- b. Variables Gesamtvermögen
- aa. Modi der Durchsetzung im Kartellrecht
- bb. Ökonomisches Modell
- cc. Teilergebnis
- c. Kosten fehlerhafter Entscheidungen
- aa. Ökonomisches Modell
- bb. Definition des Fehlers
- cc. Berücksichtigung bei Sanktionsbemessung oder Tatbestandsmerkmalen
- dd. Fehlerhafte Entscheidungen im Kartellrecht
- ee. Teilergebnis
- d. Verfassungsrechtliche Implikationen der Sanktion
- e. Wiederholungstäterschaft
- 2. Rolle der Entdeckungswahrscheinlichkeit
- a. Beseitigung von Informationsdefiziten
- aa. Auswirkungen des Informationsdefizits auf die individuelle Entscheidung
- bb. Kostenintensive Informationsbeschaffung
- cc. Ambiguität als konstruktives Element?
- aaa. „Constructive Ambiguity“ in der Ökonomik
- bbb. „Sozialschädliche“ Rechtsberatung?
- ccc. Ambiguitätsaversion
- ddd. Teilergebnis
- dd. Manipulation durch die Verfolgungsbehörde
- ee. Berücksichtigung von Lerneffekten
- aaa. Individueller Lerneffekt
- (1) Mehrperiodisches Modell mit Lerneffekt
- (2) Reduktion von Über- und Unterschätzung
- (3) Individueller Lernerfolg und Kartellrecht
- bbb. Kollektiver Lerneffekt
- (1) Mehrperiodisches Modell mit kollektivem Lerneffekt
- (2) Lerneffekt im Kartellrecht
- ff. Teilergebnis
- b. Individuelle Unterschiede
- 3. Besonderheiten bei Dauerdelikten
- a. Veränderlichkeit der Entdeckungswahrscheinlichkeit
- b. Abschreckung während der Begehung
- 4. Zwischenergebnis
- IV. Ergebnis
- 1. Standardmodell
- 2. Erweiterungen betreffend der Sanktionshöhe
- 3. Erweiterungen betreffend der Entdeckungswahrscheinlichkeit
- 4. Zusammenfassung
- Teil 4. Bewertung des geltenden Bußgeldregimes
- A. Normative Vorgaben
- I. Kappungsgrenze
- 1. Verfolgungsbemühung der Behörden
- 2. Leistungsfähigkeit
- 3. Zwischenergebnis
- II. Bußgeldrahmen
- III. Schwere und Dauer
- IV. Zwischenergebnis
- B. Verwaltungsvorschriften
- I. Leitlinien der Kommission
- 1. Grundbetrag
- 2. Anpassungsfaktoren
- a. Erschwerende und mildernde Umstände
- aa. Individuelle Entdeckungswahrscheinlichkeit und Schuldangemessenheit
- bb. Wiederholungstäterschaft
- cc. Zwischenergebnis
- b. Abschreckungsaufschlag
- aa. Begrenzung auf Großkonzerne
- bb. Begründung durch die Kommission
- aaa. Mangelnde Abschreckung von Konzernen?
- bbb. Asymmetrische Marktentwicklung
- cc. Zwischenergebnis
- c. Teilergebnis
- 3. Ökonomische Studien zur Bewertung
- 4. Informationspolitik der Kommission
- a. Vorhersehbarkeit als Abschreckungsdefizit?
- b. Ineffizienzen durch Informationsdefizit
- c. Konkrete Ineffizienzen der Bußgeldleitlinien
- aa. Grundbetrag
- bb. Wiederholungstäterschaft
- cc. Abschreckungsaufschlag
- d. Teilergebnis
- 5. Zwischenergebnis
- II. Leitlinien des Bundeskartellamts
- 1. Gewinn- und Schadenspotential
- 2. Ahndungsempfindlichkeit
- 3. Bemessungsvorgang
- 4. Teilergebnis
- III. Zwischenergebnis
- C. Ineffizienzen des Regelwerks
- I. Änderung der Bemessungspraxis
- II. Fehlende Bindung der Gerichte
- 1. Divergenz der Bemessungsmethoden
- 2. Unzureichende normative Vorgaben
- III. Mögliche positive Auswirkungen
- IV. Zwischenergebnis
- D. Ergebnis
- Teil 5. Optimales System des Kartellbußgeldrechts
- A. Ausgangspunkt
- I. Ökonomische Formel als Leitmotiv
- II. Bezugspunkt der Sanktion
- 1. Schaden oder Gewinn?
- 2. Ermittlung
- a. Klassische Kartelle
- aa. Methoden zur Bestimmung des Preisaufschlages
- bb. Berücksichtigung bei der Bemessung
- cc. Metastudien von Connor, Lande und Bolotova
- aaa. Ergebnisse der Metastudien
- bbb. Meta-Regressionsanalyse
- ccc. Zwischenergebnis
- dd. Metastudie von Boyer/Kotchoni
- ee. Zwischenergebnis
- b. Sonstige wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen
- c. Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung
- d. Fusionskontrollrecht
- 3. Zwischenergebnis
- III. Entdeckungswahrscheinlichkeit
- 1. Versuche einer mathematischen Berechnung
- a. Berechnung aufgrund der Kartelldauer
- b. Berechnung aufgrund von Wiederholungstaten
- c. Möglichkeit einer Schätzung?
- d. Zwischenergebnis
- 2. Berücksichtigung bei der Bemessung
- IV. Zwischenergebnis
- B. Bemessungsmethode
- I. Allgemeine Festlegung des Bußgeldrahmens
- 1. Klassische Kartelle
- a. Anwendungsbereich
- b. Berücksichtigung des Preisaufschlages
- c. Berücksichtigung der Entdeckungswahrscheinlichkeit
- d. Sonderbußgeldrahmen
- e. Vergleich mit den aktuell verhängten Geldbußen
- f. Teilergebnis
- 2. Sonstige Beschränkungen
- a. Anwendungsbereich
- b. Bußgeldrahmen
- c. Teilergebnis
- 3. Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung
- a. Anwendungsbereich
- b. Bußgeldrahmen
- c. Teilergebnis
- 4. Fusionskontrollrecht
- a. Anwendungsbereich
- b. Bußgeldrahmen
- c. Teilergebnis
- II. Konkrete Bemessung im Einzelfall
- 1. Allgemeine Bemessungskriterien
- 2. Besondere Bemessungskriterien
- 3. Teilergebnis
- III. Zwischenergebnis
- C. Juristische und ökonomische Bewertung
- I. Juristische Maßstäbe
- 1. Bestimmtheitsgrundsatz
- 2. Rechtsstaatsprinzip
- 3. Nachweis der konkreten Auswirkungen?
- 4. Ahndungs- und Abschöpfungsfunktion
- a. Entwicklung der steuerlichen Rechtsprechung
- b. Abschöpfungswirkung durch Bezug zum tatbezogenen Umsatz?
- c. Abschöpfungswirkung durch ausdrückliche Anordnung
- d. Steuerliches Doppelbelastungsverbot und Gebot effektiven Sanktionierens
- e. Vorgeschlagene Regelung
- 5. Systembruch im Kartellbußgeldrecht
- 6. Teilergebnis
- II. Ökonomische Maßstäbe
- 1. Berücksichtigung der relevanten Faktoren
- 2. Individuelle Unterschiede der Unternehmen
- 3. Leistungsfähigkeit und Großkonzerne
- 4. Berücksichtigung von Schadensersatzforderungen
- 5. Sonstige Kritik
- 6. Teilergebnis
- III. Zwischenergebnis
- D. Ergebnis
- Teil 6. Zusammenfassung
- Anhang 1: Kommissionspraxis
- Anhang 2: Studien zum Preisaufschlag
- Literaturverzeichnis
Im Übrigen wird auf Kirchner/Böttcher, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 8. Aufl. 2015 verwiesen.
Die Europäische Kommission (im Folgenden: Kommission) und das Bundeskartellamt (im Folgenden: BKartA) haben ihre kartellrechtliche Bußgeldpolitik seit einigen Jahren drastisch verschärft. Insbesondere die Kommission sieht in der Verfolgung und Bestrafung von Kartellen eine zentrale und bedeutende Aufgabe.1 Die kartellrechtlichen Bußgeldvorschriften geraten durch diese Fokussierung und die steigenden Sanktionsbeträge immer mehr in die wirtschaftliche und rechtliche Diskussion.
Die offizielle Statistik der Kommission über die Sanktionierung von Kartellen weist nahezu jedes Jahr neue Bußgeldrekorde aus. Die Summe der innerhalb von fünf Jahren verhängten Bußgeldern ist von einem mittleren dreistelligen Millionenbetrag in den Jahren 1990 bis 1999 auf fast zehn Mrd. € in den Jahren 2005 bis 2014 gestiegen.2 Bei vier Kartellen in den letzten acht Jahren wurde gegen alle Beteiligte jeweils ein Bußgeld von mehr als einer Mrd. € verhängt, im LKW-Kartell betrug die gesamte Geldbuße sogar 3,8 Mrd. €.3 Ein identisches Bild zeigt sich bei den Geldbußen gegen einzelne Unternehmen. Die fünf höchsten individuellen Geldbußen betragen jeweils mehr als 700 Mio. € und wurden ebenfalls in den letzten acht Jahren verhängt.4 ← 21 | 22 →
Die jährlich durch das BKartA verhängten Bußgelder haben bis zum Jahr 2002 bis auf wenige Ausnahmen umgerechnet 25 Mio. € nicht überstiegen.5 Ab dem Jahre 2003 betrug die jährliche Summe aber fast immer einen mittleren bis hohen dreistelligen Millionenbetrag. Im Jahr 2014 wurden sogar insgesamt ca. 1,1 Mrd. € an Bußgeldern verhängt. Die höchsten Geldbußen, die das BKartA gegen die Mitglieder eines Kartells verhängt hat, betragen 660 Mio. € im Zementkartell bzw. 250 Mio. € im Flüssiggaskartell6 sowie jeweils ca. 340 Mio. € im Bier- und im Wurst-Kartell.7
Ein Schwerpunkt der Kontroverse über die Bußgeldvorschriften bildet die Vereinbarkeit der Bußgeldbemessung mit dem Primärrecht der Europäischen Union und dem nationalen Verfassungsrecht. In den Beiträgen zu dieser Diskussion wird zwar vermehrt auf die ökonomische Theorie der Sanktionsbemessung hingewiesen,8 diese Theorie wird aber nur in Ansätzen dargestellt und kaum näher erläutert. Aus diesem Grund liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit auf der Präsentation und Auswertung der „Ökonomischen Theorie der öffentlichen Rechtsdurchsetzung“. Die so gewonnenen Erkenntnisse werden genutzt, um ein kartellrechtliches Bußgeldbemessungssystem zu entwickeln, das ökonomische und rechtliche Vorgaben optimal berücksichtigt und miteinander in Einklang bringt. Aufgrund der Verzahnung des europäischen und des deutschen Kartellsanktionsrechts werden die Bemessungsvorschriften beider Rechtsordnungen in gleicher Weise Grundlage der Diskussion sein.
Nach einer kurzen Darstellung der geltenden Bußgeldvorschriften (unter Teil 2, S. 25), wird die ökonomische Theorie der öffentlichen Rechtsdurchsetzung ausführlich erläutert (unter Teil 3, S. 83). Dann werden die geltenden europäischen und deutschen Bemessungsvorschriften anhand dieser Kriterien bewertet (unter Teil 4, S. 203). Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse wird ein neues Bußgeldbemessungssystem entwickelt (unter Teil 5, S. 267).
Die ökonomische Theorie kommt zu dem Ergebnis, dass die optimale Geldbuße die ökonomischen Auswirkungen und die Entdeckungswahrscheinlichkeit in einem Verhältnis berücksichtigen muss, das von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird. Die vorliegende Arbeit zeigt allerdings auf, ← 22 | 23 → dass weder die ökonomischen Auswirkungen noch die Entdeckungswahrscheinlichkeit in jedem Einzelfall mit vertretbarem Aufwand in hinreichender Genauigkeit ermittelt werden kann. Das zentrale Element des neuen Bußgeldbemessungssystems ist daher eine Methode zur Ermittlung einer Näherung an diese Werte. Diese Näherung muss zum einen möglichst nahe an den tatsächlichen Werten liegen, um eine ökonomisch optimale Geldbuße zu ermöglichen, zum anderen darf sie aber keine unverhältnismäßigen Kosten zur Ermittlung erzeugen. Darüber hinaus muss sie auch rechtsstaatlichen Anforderungen vollumfänglich genügen. ← 23 | 24 →
1 Vgl. nur Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung, COM(2014) 453 final, S. 5; Kommission, Jährlicher Tätigkeitsbericht 2011, S. 5, 11; BKartA, Tätigkeitsbericht 2011/2012, BT-Drs. 17/13675, S. 28.
2 Siehe dazu und im Folgenden das statistische Informationsblatt der Kommission, abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/cartels/statistics/statistics.pdf, zuletzt geprüft am 15.7.2018. Die Zahl der sanktionierten Unternehmen, durch die eine Erhöhung der Summe auch erklärt werden könnte, ist nicht im entsprechenden Maße gestiegen.
3 Kommission, Entscheidung vom 19.7.2016, Az. AT.39824 – LKW; Kommission, Entscheidung vom 5.12.2012, Az. COMP/39.437 – Bildröhren (ca. 1,4 Mrd. €); Kommission, Entscheidung vom 12.11.2008, Az. COMP/39.125 – Automobilglas (ca. 1,2 Mrd. €); Kommission, Entscheidung vom 4.12.2013, Az. COMP/39.914 – Euro-Zinsderivate (ca. 1,0 Mrd. €).
4 Daimler ca. 1.000 Mio. €, Scania ca. 880 Mio. €, DAF ca. 750 Mio. € (alle Kommission, Entscheidung vom 19.7.2016, Az. AT.39824 – LKW); Saint Gobain ca. 715 Mio. € (Kommission, Entscheidung vom 12.11.2008, Az. COMP/39.125 – Automobilglas); Phillips ca. 705 Mio. € (Kommission, Entscheidung vom 5.12.2012, Az. COMP/39.437 – Bildröhren).
5 Vgl. dazu und im Folgenden BKartA, Tätigkeitsbericht 2015/2016, BT-Drs. 18/12760, S. 31.
6 Vgl. die Tabelle bei Kronberger Kreis, Reform der Geldbußen, S. 7.
7 BKartA, Tätigkeitsbericht 2013/2014, BT-Drs. 18/5210, S. 26.
8 Ackermann, ZWeR 2010, 329, 335 f.; Ackermann, ZWeR 2012, 3, 10 f.; Engelsing, WuW 2007, 470; Engelsing/Schneider in: MünchKommEUWettR, 1. Aufl. 2007, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 112 ff.; Mundt, WuW 2007, 458, 461.
Teil 2. Geltende Bußgeldnormen
Zu den geltenden europäischen und deutschen Bußgeldvorschriften zählen die normativen Vorgaben und die dazu veröffentlichten Verwaltungsvorschriften der Behörden (unter A., S. 25 ff.). Die Vereinbarkeit der europäischen Vorschriften mit höherrangigem Recht und die Verfassungsmäßigkeit der deutschen Normen ist umstritten (unter B., S. 67 ff.).
A. Bußgeldnormen und Verwaltungsvorschriften
Jeweils unter 1. wird die geschichtliche Entwicklung der europäischen und der deutschen Bußgeldnorm kurz umrissen. Im Anschluss daran werden die Tatbestandsmerkmale der europäischen und der deutschen Vorschriften und deren Bedeutung vorgestellt (jeweils unter 2.). Als Abschluss werden die durch die Kommission bzw. das BKartA veröffentlichten Verwaltungsvorschriften zur Anwendung dieser Vorschriften dargestellt. (jeweils unter 3.).
Nach Art. 5 S. 2, 4. Spiegelstrich VO 1/20039 sind die Mitgliedstaaten auch bei der Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV berufen, „Geldbußen, Zwangsgelder und sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen [zu] verhäng[en] (…)“. Die nationalen Vorschriften zur Durchsetzung der kartellrechtlichen Normen kommen daher sowohl bei den nationalen Wettbewerbsvorschriften als auch bei den Art. 101, 102 AEUV zur Anwendung, sofern die nationalen Behörden diese unionsrechtlichen Vorschriften anwenden. Dies bedeutet aber auch, dass keine Harmonisierung der Normen zur Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften stattgefunden hat.10 Obwohl inhaltlich eine Angleichung der nationalen Vorschriften an die VO 1/2003 erfolgte,11 ist eine Divergenz weiterhin möglich, soweit das Effektivitätsgebot beachtet wird. Aus diesem Grund werden in dieser Arbeit immer zuerst das europäische (jeweils unter I.) und dann das deutsche Recht (jeweils unter II.) behandelt. ← 25 | 26 →
Art. 23 VO 1/2003 begründet die Kompetenz der Kommission, gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen Bußgelder zu verhängen. Im gleichen Abschnitt ermächtigt Art. 24 VO 1/2003 die Kommission, Zwangsgelder zu verhängen. Diese Sanktionsinstrumente verfolgen jedoch unterschiedliche Zwecke. Durch die Geldbuße soll ein Verstoß gegen die kartellrechtlichen Vorschriften sanktioniert werden; Art. 23 VO 1/2003 verfolgt daher zu einem bedeutenden Teil repressive Zwecke.12 Dagegen soll durch das Zwangsgeld ein zukünftiges Verhalten erzwungen werden; es werden daher ausschließlich präventive Zwecke verfolgt.13 In dieser Arbeit werden nur die Bußgeldvorschriften Gegenstand der Betrachtung sein.
In Art. 14 FKVO14 befindet sich eine zu Art. 23 VO 1/2003 identische Bußgeldregelung für Verstöße in der europäischen Fusionskontrolle. Sie wird von den Behörden, Gerichten und in der Literatur auch in gleicher Weise ausgelegt wie die Vorschrift der VO 1/2003.15 Eine gesonderte Regelung in der FKVO war allerdings erforderlich, weil die VO 1/2003 in Art. 21 Abs. 1 FKVO für unanwendbar erklärt wird. Dennoch werden die Sanktionsbestimmungen der VO 1/2003 und der FKVO aufgrund ihrer Ähnlichkeit als eine Einheit angesehen.16 Daher soll Art. 14 FKVO ebenfalls Grundlage dieser Untersuchung sein.
Die Art. 87 EWG, 83 EG sowie 103 AEUV enthielten bzw. enthalten in Abs. 2 S. 1 Buchstabe a in Verbindung mit Abs. 1 die Ermächtigung der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union zum Erlass von Verordnungen über ← 26 | 27 → die Einführung von Bußgeldern. In Ausübung dieser Kompetenz wurde die VO 1/2003 am 1.5.2004 und zuvor bereits die VO 17/6217 erlassen. Art. 15 VO 17/62 enthielt damals die Kompetenz der Kommission zur Bußgeldverhängung und regelte deren Voraussetzungen. Diese Regelungen hat Art. 23 VO 1/2003 weitgehend inhaltsgleich übernommen. Als wesentliche Änderung ist zum einen die Anhebung des Sanktionsrahmens für Verstöße nach Art. 23 Abs. 1 VO 1/2003 zu nennen. Nach der zuvor geltenden Regelung war ein Bußgeldrahmen von 100 bis 5000 € vorgesehen. Die Kommission schöpfte diesen Rahmen häufig voll aus und bemängelte ihn daher als nicht ausreichend.18 Aus diesem Grund sieht Art. 23 Abs. 1 VO 1/2003 einen erheblich ausgeweiteten Rahmen von bis zu 1 % des Unternehmensumsatzes vor.
Auch die Bußgeldgrenze des Art. 23 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 wurde im Vergleich zur Regelung des Art. 15 Abs. 2 VO 17/62 angepasst. Der feste Bußgeldrahmen in Höhe von 1000 bis 1 Mio. €19 ist weggefallen. Es gilt nur noch die Kappungsgrenze von 10 % des Gesamtumsatzes.20
Zum anderen wurden in Art. 23 Abs. 4 VO 1/2003 umfangreiche Regelungen zur Durchsetzung von Geldbußen gegen Unternehmensvereinigungen aufgenommen. Unter der VO 17/62 trat häufig das Problem auf, dass gegen Unternehmensvereinigungen verhängte Bußgelder nicht eingetrieben werden konnten, weil diese nach den Umsätzen ihrer Mitglieder bestimmt wurden und daher oft ihre Finanzkraft überstiegen.21 Durch die in Art. 23 Abs. 4 VO 1/2003 angeordnete gesamtschuldnerische Ausfallhaftung wird dem entgegen gewirkt.22 ← 27 | 28 →
2. Systematik und Tatbestandsmerkmale
Art. 23 VO 1/2003 sieht zwei Tatbestandskategorien vor, nach denen ein Bußgeld verhängt werden kann. Art. 23 Abs. 1 VO 1/2003 nennt in den Buchstaben a bis e Verstöße gegen Verfahrensvorschriften,23 die mit einem Bußgeld bis zu 1 % des im vorausgegangenem Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes geahndet werden können. Art. 23 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 erfasst Verstöße gegen materielles Kartellrecht (Buchstabe a), gegen die Anordnung einstweiliger Maßnahmen nach Art. 8 VO 1/2003 (Buchstabe b) und gegen Verpflichtungszusagen nach Art. 9 VO 1/2003 (Buchstabe c). In diesen Fällen kann die Kommission nach Art. 23 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 ein Bußgeld von bis zu 10 % des im vorausgegangenem Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes festsetzen.
Der erhöhte Bußgeldrahmen der Bußgeldtatbestände nach Art. 23 Abs. 1 VO 1/2003 im Vergleich zur früheren Regelung lässt zwar eine größere wirtschaftliche Bedeutung und damit eine steigende wissenschaftliche Aufmerksamkeit erwarten.24 Jedoch liegt in der Praxis der Schwerpunkt der verhängten Bußgelder auf dem Tatbestand nach Art. 23 Abs. 2 S. 1 Buchstabe a) VO 1/2003.25 So wurden seit 2005 ca. 70 Kartellverfahren wegen Verstößen gegen Art. 23 Abs. 2 S. 1 Buchstabe a) VO 1/2003 abgeschlossen. Demgegenüber wurden insgesamt nur drei Verfahren nach Art. 23 Abs. 1 VO 1/2003 beendet.26 Auch die Kommission betont immer, dass die Verfolgung von materiellen Kartellverstößen insbesondere durch ← 28 | 29 → klassische Kartelle im Zentrum ihrer Politik stehe.27 Aus diesem Grund konzentriert sich diese Arbeit auf den Bußgeldtatbestand wegen Verstoßes gegen materielles Kartellrecht, Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003.
Auch Art. 14 FKVO enthält in Abs. 1 Bußgeldtatbestände wegen Verstoßes gegen verfahrensrechtliche Vorschriften, die ein Bußgeld bis zu 1 % des Gesamtumsatzes im Sinne von Art. 5 FKVO nach sich ziehen können. Nach Art. 14 Abs. 2 FKVO kann dagegen ein Bußgeld bis zu 10 % des Gesamtumsatzes im Sinne von Art. 5 FKVO verhängt werden, wenn ein Zusammenschluss vor seinem Vollzug nicht ordnungsgemäß angemeldet wird (Buchstabe a), wenn ein Verstoß gegen das Vollzugsverbot vorliegt (Buchstabe b), wenn ein Zusammenschluss trotz Unvereinbarerklärung vollzogen wird bzw. den angeordneten Maßnahmen nicht nachgekommen wird (Buchstabe c) oder wenn einer auferlegten Bedingung oder Auflage zuwidergehandelt wird (Buchstabe d). Auch in der Fusionskontrolle spielen die Bußgeldtatbestände wegen Verstoßes gegen verfahrensrechtliche Vorschriften nach Art. 14 Abs. 1 FKVO keine Rolle.28 Im Falle des Art. 14 Abs. 2 FKVO sind allerdings bereits zwei Bußgeldentscheidungen der Kommission mit empfindlichen Bußgeldern ergangen.29 Mithin werden in dieser Arbeit nur die schwerwiegenden Verstöße nach Art. 14 Abs. 2 FKVO untersucht. Aufgrund der in den wesentlichen Punkten identischen Auslegung der beiden Bußgeldvorschriften30 gelten die Ausführungen zu Art. 23 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 im Folgenden auch für Art. 14 Abs. 2 FKVO. Nur bei spezifischen Besonderheiten soll Art. 14 FKVO ausdrücklich behandelt werden. ← 29 | 30 →
Die durch die Kommission verhängte Geldbuße darf nach Art. 23 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 „(…) 10 % (…) [des] Gesamtumsatzes nicht übersteigen“. Die Unionsgerichte interpretieren diese Begrenzung als „Kappungsgrenze“.31 Danach dürfe nur der endgültig verhängte Bußgeldbetrag die Grenze von 10 % nicht überschreiten. Ein Übersteigen dieser Grenze im Bemessungsverfahren der Geldbuße und in Zwischensummen sei hingegen zulässig.32 Die Kommission ist daher in der Festsetzung der Geldbuße nicht gehalten, dessen Höhe in Abhängigkeit von der Schwere der Tat an der Obergrenze auszurichten. Die Höhe der Geldbuße kann nach durchaus unterschiedlichen Maßstäben in ein Verhältnis zur Schwere der Tat gesetzt werden. Nur im letzten Schritt muss die Kommission die Buße in Höhe von 10 % des Gesamtumsatzes kappen. Damit beeinflusst die Obergrenze des Art. 23 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 das Bemessungsverfahren der Geldbuße nicht; es steht vollkommen im Entscheidungsspielraum der Kommission.33
Die europäische Rechtsprechung begründet dies mit dem Zweck des Art. 23 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003. Durch die Begrenzung der Bußgeldhöhe solle eine finanzielle Überforderung der Unternehmen verhindert werden.34 Durch die Ausgestaltung als Prozentsatz solle zudem die Belastungsgleichheit zwischen Unternehmen mit unterschiedlich hohen Umsätzen gesichert werden.35 ← 30 | 31 →
Details
- Seiten
- 466
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631780763
- ISBN (ePUB)
- 9783631780770
- ISBN (MOBI)
- 9783631780787
- ISBN (Paperback)
- 9783631772171
- DOI
- 10.3726/b15235
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (Mai)
- Schlagworte
- Kartellrecht Geldbußen Ökonomische Theorie der Rechtsdurchsetzung Preisaufschlag Entdeckungswahrscheinlichkeit Bußgeldrahmen
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 465 S., 11 Tab., 10 Diagr.