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Der Unrechtsausgleich in Geld bei Verletzungen der Person

Eine Untersuchung anhand von Rechtsquellen des sächsisch-magdeburgischen Rechtskreises aus dem 13. und 14. Jahrhundert

von Thomas Markpert (Autor:in)
©2019 Dissertation 366 Seiten

Zusammenfassung

Der Unrechtsausgleich im mittelalterlichen Recht ist Folge einer Verletzung von Rechtsgütern der Person, insbesondere des Lebens, der körperlichen Integrität, der Ehre und der Freiheit. Im Zentrum steht die Buße, die im Täter-Opfer-Verhältnis in verschiedenen Formen unter unterschiedlichen Voraussetzungen angeordnet war. Die Untersuchung umfasst – vergleichend – fünf Rechtsquellen des Spätmittelalters, darunter der Sachsenspiegel als bedeutendstes Rechtsbuch des Mittelalters. Der Autor geht auf die Arten des Unrechtsausgleichs sowie die mit ihm verbundenen Funktionen der Bußzahlung ein, die vor allem im Ausgleich des durch die Verletzung eingetretenen Unrechts bestehen. Daneben beleuchtet er, ob der Unrechtsausgleich im Spätmittelalter durch das peinliche Strafrecht verdrängt worden war.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Ãœber das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Kapitel 1: Einführung
  • I. Fragestellung
  • II. Zielsetzung
  • (1) Ausgangslage
  • (2) Forschungsstand
  • (3) Untersuchungsgegenstand
  • III. Quellen
  • (1) Auswahl der Quellen
  • (2) Die Quellen im Einzelnen
  • IV. Methode und Gang der Untersuchung
  • Kapitel 2: Formen des Unrechtsausgleichs
  • I. Begriff der Buße
  • (1) Buße als Zahlung an die Opferseite
  • (2) Wergeld als Sonderform der Buße
  • II. Funktionen der Buße und Abgrenzung zur Strafe
  • III. Höhe der Wergelder und Bußen
  • (1) Landrecht: Abstufungen bei Wergeld und Buße
  • (2) Stadtrecht: Einheitliche Bemessung von Buße und Wergeld
  • (3) Zusammenfassung
  • IV. Gewette des Richters
  • (1) Gewette als allgemeines Strafgeld
  • (2) Gewette als Folge der Zahlung der Buße
  • (3) Höhe des Gewettes
  • (4) Ausschluss von doppeltem Gewette
  • V. Ergebnisse
  • Kapitel 3: Wergeld und Wergeldbruchteile
  • I. Volles Wergeld (Tötung)
  • (1) Abgrenzung zu peinlichen Strafen
  • (2) (Ausschließliche) Zahlung des Wergeldes bei Totschlag
  • (3) Rechtsfolgen bei Tötung eines Kindes
  • (4) Rechtsfolgen bei Tötung durch ein Kind
  • (5) Zusammenfassung
  • II. Wergeldbruchteile (Schwere Verletzungen)
  • (1) Festsetzung nach der Art der Verletzung
  • (2) Mehrmalige Verletzungen
  • (3) Zahlung des Wergeldbruchteils oder peinliche Strafe?
  • (4) Zusammenfassung
  • III. Exkurs: Ablösung von peinlicher Strafe
  • (1) Aussagen der Quellen
  • (2) Funktion und Verhältnis zur compositio
  • IV. Ergebnisse
  • Kapitel 4: Buße für Verletzungen an Leib, Ehre und Freiheit
  • I. Buße für Verletzungen des Körpers
  • (1) Schläge und leichte Wunden
  • (2) Beteiligung mehrerer Täter – Straffunktion
  • (3) Sonderfall – zweifache Buße und zweifaches Gewette
  • (4) Schlagen eines Knechtes – doppelte Buße
  • (5) Verletzung eines Kindes – Züchtigungsrecht
  • (6) Zusammenfassung
  • II. Buße bei Verletzung der Ehre
  • (1) Beleidigung
  • (2) Ungebührliches Verhalten vor Gericht
  • (3) Zusammenfassung
  • III. Buße bei Verletzung der Freiheit
  • (1) Sachsenspiegel und Meißener Rechtsbuch
  • (2) Görlitzer Stadtrecht und Görlitzer Rechtsbuch
  • (3) Verhältnis zur Sachsenbuße
  • IV. Buße bei Bedrohung eines anderen
  • (1) Waffenzücken/Nachfolge
  • (2) Schwert-/Messerzücken
  • (3) Bedrohung an Leib und Leben
  • (4) Hausfriedensbruch
  • (5) Exkurs: Buße und Wergeld des Hauses
  • V. Ergebnisse
  • Kapitel 5: Unrechtsausgleich bei Verletzung von Nutztieren und -pflanzen
  • I. Bußen der Nutztiere
  • (1) Festlegung des Wergeldes nach der Art der Tiere
  • (2) Wergeld und Wergeldbruchteile – mit und ohne Buße
  • (3) Kombination von Wertersatz und Buße
  • (4) Töten eines Tieres in not/nodwer
  • II. Bußen für die Verletzung von Nutzpflanzen
  • (1) 30-Schilling-Buße
  • (2) Abgrenzung zur Verletzung fremden Eigentums
  • III. Ergebnisse
  • Kapitel 6: Schlussbetrachtung
  • I. Arten des Unrechtsausgleichs
  • II. Funktionen der Buße
  • III. Abhängigkeiten
  • Verzeichnis der verwendeten Quellen
  • Verzeichnis der verwendeten Literatur

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Kapitel 1: Einführung

I. Fragestellung

Ob und inwieweit das mittelalterliche Recht ein Schuldstrafrecht enthielt, ist auch nach nunmehr weit über 100 Jahren rechtsgeschichtlicher Forschungen und Diskussionen auf diesem Gebiet eine nach wie vor höchst umstrittene und nicht abschließend geklärte Frage. Dabei werden die Kontroversen sowohl für die sogenannten Volksrechte der frühmittelalterlichen Zeit, die leges, als auch noch für die ebenfalls zahlreich überlieferten Rechtsquellen des Spätmittelalters geführt. Die gegensätzlichen Auffassungen reichen dabei von einer reinen Erfolgshaftung, die jedes rechtliche Einstehenmüssen aufgrund einer am rechtswidrig verursachten Schadenseintritt anknüpfenden Zurechnung ohne Berücksichtigung von Schuld bezeichnet,1 bis hin zu einem angeblich dem germanischen Recht immanenten Gedanken eines Schuldstrafrechts.2

In Teilfragen sind zwar auch vermittelnde Auffassungen vertreten worden.3 In der rechtsgeschichtlichen Diskussion wurde aber auch darauf hingewiesen, die diesbezüglich vorliegenden Forschungsarbeiten litten daran, dass das Ergebnis, Erfolgshaftung oder Schuldstrafrecht,4 bereits vorausgesetzt wurde und von den jeweiligen Autoren anschließend diejenigen Anhaltspunkte argumentativ verwertet worden seien, die die für richtig erachtete Auffassung stützten. Schildt hat in diesem Zusammenhang kritisiert, dass sich insgesamt eher der Eindruck aufdränge, „als würde das Problem zu einer Glaubensfrage, deren jeweilige Beantwortung dann Quellenauswahl, Quelleninterpretation und Argumentationsweise bestimmt.“5

Eng verbunden mit der Frage nach der Erfolgshaftung oder einem Schuldstrafrecht steht die in jüngerer Vergangenheit wieder entflammte wissenschaftliche Diskussion nach der Entstehung des öffentlichen Strafrechts, die interdisziplinär von Geschichtswissenschaftlern und Rechtshistorikern gleichermaßen bearbeitet wird.6 Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Untersuchungen steht dabei vor ←19 | 20→allem auch die Frage nach dem Verhältnis von Buße und Strafe.7 Die Forschungen greifen damit auch die Frage auf, wann das vor allem auf einen Täter-Opfer-Ausgleich ausgerichtete Kompositionensystem, das sich durch Zahlung von festgelegten Bußtaxen an das Opfer auszeichnete, durch eine „echte“, sittlich fundierte Strafe abgelöst wurde, die allein die durch die Verletzungshandlung eingetretene Störung der Rechtsordnung beseitigen sollte und an die Schuld des Täters im Sinne einer individuellen Vorwerfbarkeit anknüpfte.8

Auch im Hinblick auf die Erforschung der Entstehung von öffentlicher Strafe ist die traditionelle dogmengeschichtliche Orientierung der bisherigen deutschen Forschung stark kritisiert worden.9 In dem im Jahre 1992 an die Deutsche Forschungsgemeinschaft gerichteten Antrag wurde daher die Forderung nach einer vorurteilsfreien, von den hergebrachten Dogmen unbeeinflussten neuen Bestandsaufnahme laut: „Was bisher noch aussteht, ist […] eine konsequente Historisierung des ganzen Forschungsgegenstandes, eine durchgehende Interpretation der Quellen im historischen Längsschnitt, welche dem Prozeßcharakter historischer Abläufe Rechnung trägt. Ein solches Vorgehen hätte, soweit wie möglich und sinnvoll, auf strafrechtsdogmatische Begrifflichkeit, Kategorien und Fragestellungen zu verzichten, um die mittelalterlichen, möglicherweise ganz anders gearteten Problemlagen erkennen zu können.“10 In diesem Sinne ist – „gegenüber dem Anspruch moderner juristischer Begrifflichkeit“ – eine „Entdogmatisierung der Strafrechtsgeschichte“ gefordert worden.11

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Für die „Neuerforschung“ des mittelalterlichen Rechts ist daher die Befreiung von den überkommenen, ergebnisorientierten Untersuchungen und eine „unbefangene“ Hinwendung zu den Aussagen der Quellen zu fordern. Für das Frühmittelalter liegt für den Bereich des Unrechtsausgleichs eine umfassende Untersuchung anhand der Texte der Volksrechte nunmehr vor.12

II. Zielsetzung

Die vorliegende Arbeit will daran anknüpfen und für ausgewählte normative Quellen aus dem Bereich des Spätmittelalters einen Beitrag zu den geforderten Ansätzen leisten.13 In diesem Sinne versteht sie sich als Grundlage für weitere Diskussionen im Hinblick auf die Frage nach dem Unrechtsausgleich als Folge der Verletzung der Person einschließlich seiner Funktionen und in diesem Zusammenhang auch – in einem begrenzten Umfang – für die Frage nach der Entstehung des öffentlichen Strafrechts.

(1) Ausgangslage

Den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung bildet die Feststellung, dass in den hier betrachteten Rechtsquellen unterschiedliche Folgen für Verletzungen von Personen vorgesehen sind. Einerseits sind peinliche Strafen, also Lebens- und Verstümmelungsstrafen für schwere Rechtsverletzungen festgelegt; andererseits enthalten die Quellen aber auch Bestimmungen darüber, dass das durch schwere Rechtsverletzungen eingetretene Unrecht durch Zahlung einer bestimmten Geldsumme ausgeglichen werden kann. So stellt der Sachsenspiegel in Ssp. II 13 einen umfassenden Katalog von Strafen auf (Nu vernemet umme ungerichte, welch gerichte dar ubir ge.), der vom Hängen des Diebes14 über das Rädern des Mörders15 und das Köpfen des Totschlägers und Vergewaltigers16 bis hin zum Verbrennen auf ←21 | 22→dem Scheiterhaufen17 reicht. Damit sind die Todesstrafen angesprochen, die für besonders schwere Rechtsverletzungen gelten und dem sogenannten peinlichen Strafrecht zuzuordnen sind.

Daneben sieht der Sachsenspiegel in Ssp. III 45 aber einen umfassenden Wergeld- und Bußenkatalog vor (Von allirlute wergelde unde buze. Wer ane wergelt si.), der für unterschiedliche Personen jeweils verschiedene Beträge fixiert, die im Falle von Tötungen oder Verletzungen von dem Täter zu zahlen sind. Damit ist das bereits in den Volksrechten des Frühmittelalters18 etablierte Kompositionensystem angesprochen, das für einen Unrechtsausgleich durch die Festlegung der Zahlung eines Geldbetrages von der Täter- an die Opferseite steht.19 Bei der compositio handelt es sich um eine ritualisierte, außergerichtliche oder vor Gericht getroffene Einigung zwischen der Täter- und der Opferseite, die darin besteht, den durch die Rechtsverletzung, also das Unrecht, eingetretenen Konflikt dadurch zu lösen, dass die Opferseite auf Rache und Fehde20 verzichtet und die Täterseite das Unrecht durch die Zahlung einer Geldsumme ausgleicht.21 Dabei ist die compositio nicht lediglich auf die Zahlung dieser Geldsumme als Sühne22 beschränkt, sondern umfasst daneben auch den dieser Zahlung zugrunde liegenden Sühnevertrag zwischen der Täterseite und der Opferseite.23 Der Sachsenspiegel selbst geht davon aus, dass Sühneverträge, mit denen die Fehde beendet werden kann, existent sind und dass diese bewiesen werden können (Ssp. I 8, 3: Sone adir orvede, de der man vor gerichte tut, gezuget man mit deme richter unde mit zwen mannen. Gezuget her ←22 | 23→si abir ane gerichte, her muz gezugen selbe sobende der, den man de sone adir orvede tete.).

Nach dem Recht des Sachsenspiegels gibt es somit Lebens- und Körperstrafen ebenso wie den mit dem Kompositionensystem etablierten Unrechtsausgleich in Geld. Regelungen dazu, wie sich diese „Institute“ zueinander verhalten, finden sich im Sachsenspiegel jedoch nicht, insbesondere sieht der Strafenkatalog des Ssp. II 13 keine Bestimmung vor, wonach die darin aufgezählten Lebens- und Körperstrafen – unter welchen Voraussetzungen auch immer – abdingbar sein sollen.24 Zwar legt der Sachsenspiegel in Ssp. III 50 fest, dass eine Bußzahlung nicht zu erfolgen hat, wenn eine Lebens- oder Verstümmelungsstrafe verwirkt wird:

Wor der dudische man sinen lip adir sine hant verwerkit mit ungerichte, her lose sie adir en tu, her en darf da gewette noch buze geben.

Umgekehrt lassen sich daraus aber keine Erkenntnisse gewinnen, unter welchen Voraussetzungen die erfolgte Rechtsverletzung eine peinliche Strafe nach sich zieht oder ein Unrechtsausgleich durch Zahlung eines Geldbetrages erfolgt.

(2) Forschungsstand

In der älteren Forschung wurde das Kompositionensystem unter den Begriff der „Strafe“ gefasst, mithin als Bestandteil eines vermeintlichen übergeordneten Strafensystems begriffen.25 Darstellungen dazu lag die Erwägung zugrunde, die Sühneleistungen in ein System einordnen zu wollen, das vom Strafbegriff ausgeht.26 Damit einher ging auch stets die Sichtweise, dass peinliche Strafen und Sühneleistungen gleichermaßen als „Strafe“ einzuordnen seien,27 wobei zwischen beiden Instituten eine enge Beziehung bestehen sollte. Ausgehend von diesem Verständnis zeigten bereits am Ende des 19. Jahrhunderts Untersuchungen auf, dass der Sachsenspiegel für den Unrechtsausgleich nicht mehr allein ein Kompositionensystem, das heißt ein auf festen Bußtaxen beruhendes System von Ausgleichszahlungen des Täters an den Verletzten,28 enthielt. Vielmehr sei diese Ausgleichszahlung durch die öffentliche Strafe ersetzt worden.29 Teilweise wurde auch behauptet, dass ←23 | 24→die in Ssp. II 13 aufgezählten peinlichen Strafen „die Regel“ gewesen seien, wohingegen der „Zahlung des Wergeldes nur noch ausnahmsweise bei einer Tödtung aus Nothwehr, aus Unachtsamkeit, durch ein Kind, durch Thiere u.s.w.“ Bedeutung zugekommen sein soll.30 Auch noch im 20. Jahrhundert hat die Sichtweise bestanden, dass das Kompositionensystem ein „Strafensystem [bezeichne], das sich auf Wergeld und Buße aufbaute“.31

Neuere Abhandlungen zum Verhältnis von Kompositionensystem und (Entstehung) öffentlicher Strafe als Ausgleich für erlittenes Unrecht32 gelangen zu dem Ergebnis, dass die Rechtswirklichkeit bis in das 16. Jahrhundert hinein davon geprägt war, dass – auch im Bereich von schweren Delikten – „das alte Sühneverfahren mit materiellem Schadensausgleich“ gegolten habe.33 Auf der einen Seite habe das System der Einigung zwischen Verletzer und Verletztem und auf der anderen Seite das System der durch die Gewalt der Gerichte ausgeübten öffentlichen Strafe über einen großen Zeitraum nebeneinander bestanden.34 Im Hinblick ←24 | 25→auf die Entstehung eines öffentlichen Strafrechts wird teilweise angenommen, dass es im 13. Jahrhundert zu einem Umbruch gekommen sei.35 Insgesamt habe aber der Eindruck bestanden, dass das durch das Kompositionensystem geprägte Sühneverfahren den Vorrang genossen habe36 und Ausgleichszahlungen „vor allem bei Gewaltdelikten in vielen Rechtskreisen bis zum Ende des Mittelalters dominant“ gewesen waren.37

Die neueren Forschungsansätze fußen auf einer Loslösung von dem überkommenen Gedanken eines „übergeordneten Strafensystems“,38 in das peinliche Strafen ebenso eingeordnet werden wie der in Form des Kompositionensystems vorliegende Ausgleich von Unrecht durch die Zahlung einer Geldsumme. Vielmehr wird das Kompositionensystem als eine „institutionell selbständige, eigen geartete Vorgeschichte der Strafrechtsgeschichte“ aufgefasst.39 Will man sich dem Institut ←25 | 26→der compositio als einer im Mittelalter etablierten Art, geschehenes Unrecht zu sühnen, das heißt einen „Ausgleich“ des Unrechts vorzunehmen, nähern, muss das Kompositionensystem zunächst von anderen Formen des Unrechtsausgleichs abgegrenzt werden. Namentlich kommen in den Rechtsquellen des Mittelalters als Reaktionen40 auf eine Rechtsverletzung auch die erlaubte Selbsthilfe mittels Rache, die öffentliche Strafe, die Privatstrafe sowie der Ersatz des materiellen oder immateriellen Schadens vor.41 Schwierigkeiten bereitet die Einordnung des Kompositionensystems vor allem deshalb, weil zu den anderen Typen des Ausgleichs von Unrecht teilweise Überschneidungen vorliegen.42 Die Bußzahlung verfolgt zwar in erster Linie den Zweck, den durch das Unrecht entstandenen materiellen oder immateriellen Schaden zu kompensieren, womit ihr primär Ausgleichsfunktion zukommt.43 Neben dem weiteren Ziel, mit der Bußzahlung zwischen der Täter- und Opferseite den Frieden wiederherzustellen, also die Parteien zu befrieden, kann die Bußzahlung aber auch strafende Funktionen beinhalten.44 Insgesamt kann die compositio als Kombination mit anderen Formen des Unrechtsausgleichs, vor allem der öffentlichen Geldstrafe, der Privatstrafe und dem Schadensersatz auftreten, alternativ zu diesen bestehen oder aber sogar mit ihnen identisch sein.45

Umfassende Untersuchungen des Unrechtsausgleichs und der Funktionen der Bußzahlung anhand der Quellentexte selbst liegen nunmehr für die frühmittelalterlichen Rechte vor.46 Für das Spätmittelalter in dem hier betrachteten Zeitraum fehlt bislang eine zusammenhängende Darstellung anhand der Quellentexte selbst,47 und der Forschungsstand im Hinblick auf den Unrechtsausgleich in Geld ←26 | 27→und seiner Funktion(en) kann noch immer als im Fluss angesehen werden. Vor allem scheint bislang eine zufriedenstellende Einordnung des Kompositionensystems nicht gelungen zu sein,48 und auch die verschiedenen Funktionen der Bußzahlung sind, insbesondere für spätmittelalterliche Quellen, noch nicht abschließend erfasst.49

(3) Untersuchungsgegenstand

Die vorliegende Untersuchung knüpft an diesen Forschungsstand an, will aber vor allem anhand der Aussagen der Quellen selbst weitere Ausgangspunkte für die Erforschung des Verhältnisses von Unrechtsausgleich in der Täter-Opfer-Beziehung einerseits und der Entstehung eines öffentlichen Systems von Strafe andererseits liefern. Sie will sich anhand der untersuchten Quellen zwei von der Forschung aufgeworfenen Fragen nähern: Erstens, in welchem Verhältnis stehen Kompositionensystem und öffentliche Strafe zueinander?50 Ist das Kompositionensystem im Spätmittelalter tatsächlich weitgehend durch öffentliche Strafen zurückgedrängt oder gar ersetzt worden? Zweitens, welche Funktionen verfolgt das Kompositionensystem als Bestandteil des Ausgleichs von Unrecht und lassen sich auch insoweit Aussagen über sein Verhältnis zur „Strafe“ treffen?

←27 | 28→

Die Untersuchung wird anhand einer Darstellung ausgewählter Rechtsquellen des sächsisch-magdeburgischen Rechtskreises aus dem 13. und 14. Jahrhundert aufzeigen, dass – neben den enthaltenen Leibes- und Todesstrafen – das Kompositionensystem im sächsischen Recht auch noch in spätmittelalterlichen Quellen verankert ist und dort noch immer stark im Vordergrund steht.51 Die Thesen vor allem der älteren Forschung, das Kompositionensystem sei von den peinlichen Strafen abgelöst worden und das peinliche Strafrecht die Regel gewesen, lassen sich mit den hier untersuchten Quellentexten nicht in Einklang bringen.52 Die peinlichen Strafen scheinen nach den Aussagen der Quellen selbst vielmehr eine nur untergeordnete Rolle zu spielen. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Untersuchung auch als Ansatz für weitere Forschungen auf dem Gebiet des Unrechtsausgleichs53 einschließlich der Entstehung und Entwicklung der öffentlichen Strafe.

Über die tatsächlich gelebte Rechtspraxis wissen wir nur sehr wenig.54 Ob und gegebenenfalls wie lange das System der compositio, das heißt die Festsetzung von Bußtaxen abhängig von Art und Schwere der Verletzung und der Stellung des Opfers,55 neben oder anstelle eines „öffentlichen Strafrechts“ tatsächlich praktiziert wurde, bildet nicht den Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Vielmehr soll hier anhand einer Analyse der normativen Texte herausgearbeitet werden, dass auch in den spätmittelalterlichen Quellen das Kompositionensystem nach wie vor schriftlich fixiert ist. Allerdings haben bereits mehrere wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, dass gerade auch im Spätmittelalter und noch im 16. Jahrhundert Sühneverträge, das heißt Ausgleichsvereinbarungen zwischen Täter und Opfer oder dessen Familie vorkamen,56 so dass jedenfalls ein Nebeneinander von ←28 | 29→Kriminalstrafen, Täter-Opfer-Ausgleich in Sühnevereinbarungen und kirchlichen Bußen als überwiegend wahrscheinlich zu gelten hat.57

Im Vordergrund der vorliegenden Arbeit steht somit der spätmittelalterliche Unrechtsausgleich in Geld. Es werden diejenigen Bestimmungen untersucht, die sich mit der Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter und den dafür vorgesehenen Rechtsfolgen befassen. Gegenstand der Untersuchung ist es, anhand der in den Regelungen angeordneten Geldzahlungen darzustellen, welche Funktionen diesen zukommen, insbesondere ob die compositio Ausgleichsfunktion hat oder daneben – alternativ oder gegebenenfalls verschiedene Funktionen kombinierend – auch Elemente einer privaten oder öffentlichen Strafe oder eines materiellen oder immateriellen Schadensersatzes aufweist. Anhand einer Betrachtung der Funktionen des Unrechtsausgleichs sollen sodann auch Aussagen dazu getroffen werden, ob die Regelungen zum Unrechtsausgleich ein System bilden und, wenn ja, ob sich auch Aussagen dazu treffen lassen, in welchem Verhältnis dieses System zur Strafe steht.

Die Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter ist weit zu verstehen. Sie erfasst daher grundsätzlich jedwede Beeinträchtigung der Rechtssphäre eines anderen. Die Arbeit untersucht diejenigen Bestimmungen, die einen Unrechtsausgleich in den Fällen von Verletzungen an der Person vorsehen. Zwar enthalten die Quellen darüber hinaus auch Tatbestände, die eine „Haftung“ im Rahmen einer zwischen Personen bestehenden Sonderverbindung statuieren und unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls die Zahlung einer Geldsumme anordnen.58 Diese Bestimmungen, die allgemein als im weitesten Sinne vertragliche Haftung bezeichnet werden können, sind von der vorliegenden Untersuchung ausgenommen. Der Unrechtsausgleich in Geld soll nur für diejenigen Fälle dargestellt werden, für die ←29 | 30→er Folge eines eine andere Person schädigenden Ereignisses ist, ohne dass zwischen Schädiger und Verletztem ein besonderes (Rechts-) Verhältnis besteht.

Mittelalterliches Rechtsdenken entspricht nicht dem heutigen; umgekehrt unterscheiden sich die heutigen Sichtweisen sehr stark von den mittelalterlichen. Aus diesem Grunde ist es unerlässlich, sich in der Herangehensweise von dem heutigen Rechtsdenken zu lösen und sich auf die Quellen einzulassen. So behandeln die Quellen Menschen und Tiere einheitlich, indem sie sowohl für den Menschen als auch für die verschiedenen Tiere gleichermaßen ein „Wergeld“ festlegen; für den Sachsenspiegel ist in diesem Zusammenhang auf Ssp. III 45 einerseits, der Wergeld und Buße der Menschen festsetzt, und auf Ssp. III 51 andererseits zu verweisen, der das Wergeld für Tiere bestimmt. Bereits aus der jeweiligen Überschrift (Ssp. III 45: Von allirlute wergelde unde buze.“ und Ssp. III 51: „Von vogele unde tiere wergelde.) und der jeweiligen Einleitung der Bestimmungen (Ssp. III 45, 1: Nu vernemet allir lute wergelde unde buze. und Ssp. III 51, 1: Nu vernemet umme vogele unde tiere wergelt.) ergibt sich, dass Aufbau und Diktion der Regelungen nahezu identisch sind.59 Ähnlich verhält es sich auch mit den Nutzpflanzen. Auch hier ist festzustellen, dass diese in das mittelalterliche Unrechtsausgleichssystem eingebunden sind. Auch für sie sieht der Sachsenspiegel vor, dass eine Verletzung der Nutzpflanzen die Zahlung eines bestimmten festen Geldbetrages zur Folge hat (Ssp. II 28,2: […] howt her holtz, daz gesatzt iz, adir fruchtbare bowme, adir bricht her obiz […], her muz dri(zig) schillinge gebin.). Für die Nutzpflanzen gilt daher ebenfalls, dass ihre Verletzung als Unrecht begriffen wird, das durch die Zahlung einer festgelegten Geldsumme ausgeglichen werden soll.

Die Regelungen zur Verletzung von Menschen, Tieren und Nutzpflanzen können auf eine gleichartige Sichtweise zurückgeführt werden, die darin besteht, dass im Recht des Mittelalters alle vorgenannten Lebewesen einheitlich behandelt wurden und eine Abgrenzung von der Beschädigung unbelebter Sachen vorgenommen wird.60 Weil es hier also augenfällige Parallelen zu Verletzungen von Personen gibt, sind – im Sinne des mittelalterlichen Denkens – auch Verletzungen anderer Lebewesen, mithin der Tiere und Nutzpflanzen, einzubeziehen. Die vorliegende Untersuchung geht daher auch auf Bußzahlungen ein, die bei „Verletzungen“ von Tieren und Nutzpflanzen vorgesehen sind.

Hinsichtlich der Folgen von Verletzungen der Person ordnen die Quellen eine Ausgleichszahlung in Geld an, die – jedenfalls für die hier verwendeten Texte – allgemein unter dem Begriff „Buße“ zusammengefasst werden kann. Besonderes Augenmerk gilt vor allem den Regelungen, die einen Ausgleich in Geld bei Tötung und Körperverletzung vorsehen und dafür die Zahlung von Wergeld, Wergeldbruchteilen und Bußen festsetzen. Während andere mittelalterliche Aufzeichnungen den Ausdruck „Buße“ in verschiedenartigen Zusammenhängen erwähnen, das ←30 | 31→heißt mit diesem Begriff die Zahlung sowohl an den Verletzten als auch an die öffentliche Gewalt erfassen,61 gebrauchen der Sachsenspiegel und die Magdeburger Quellen den Ausdruck bote oder busse nur im Sinne einer Leistung an den Verletzten.62

Die Untersuchung soll unter den zuvor genannten Prämissen sowohl für Landrechte63 als auch für Stadtrechte erfolgen, die gegenüber den Landrechten eigene selbstständige Rechtskreise bildeten.64 Dabei wird herauszuarbeiten sein, ob und inwieweit zwischen den Regelungen der Landrechte einerseits und der Stadtrechte andererseits Unterschiede oder Gemeinsamkeiten bestehen und ob sich dies auf die Funktionen der Ausgleichszahlung auswirkt.

III. Quellen

(1) Auswahl der Quellen

Für die Untersuchung wurden mehrere Rechtsquellen aus dem sächsisch-magdeburgischen Rechtskreis herangezogen, wobei der oben aufgeworfenen Fragestellung am Beispiel von zwei Landrechtsbüchern, zwei Stadtrechtsbüchern sowie einem Rechtsbuch nachgegangen werden soll, das Landrecht und Stadtrecht gleichermaßen enthält. Der Unrechtsausgleich in Geld wird demnach im Wesentlichen anhand von fünf spätmittelalterlichen Rechtsquellen dargestellt, die etwa zwischen 1225 und 1387 aufgezeichnet worden sind. In chronologischer Reihenfolge handelt es sich dabei um den Sachsenspiegel, das Görlitzer Rechtsbuch, das Görlitzer Stadtrecht, das Zwickauer Rechtsbuch und das Meißener Rechtsbuch. Hauptanliegen der Arbeit soll dabei sein, die Regelungen über die Verletzung von absolut geschützten Rechtsgütern und die diese ausgleichende Geldleistung in den verwendeten Quellen zu systematisieren, sie einer Analyse zu unterziehen und sie miteinander zu vergleichen.

Die Auswahl der hier verwendeten Quellen erfolgte anhand von Aspekten der Bedeutung der Rechtsquellen, ihrer Verbreitung und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass unter ihnen gewisse Abhängigkeiten bestehen, auf die die Arbeit ebenfalls eingeht.

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Die vorliegende Arbeit berücksichtigt zunächst, dass der Sachsenspiegel das bedeutendste Rechtsbuch des Spätmittelalters ist,65 auf den andere Rechtsquellen zurückgegriffen haben.66 Als zugleich älteste spätmittelalterliche Rechtsaufzeichnung ist der Sachsenspiegel als Ausgangspunkt der Untersuchung daher unverzichtbar. Er ist ebenso wie das Görlitzer Rechtsbuch den sogenannten Rechtsbüchern zuzuordnen. Darunter werden nach einer verbreiteten Auffassung67 in deutscher Sprache verfasste Aufzeichnungen des spätmittelalterlichen Rechts verstanden, die als Privatarbeiten rechtskundiger Männer entstanden sind, ohne dass der Aufzeichnung ein amtlicher Auftrag zugrunde lag.68 Die Rechtsbücher ←32 | 33→erheben den Anspruch, das geltende Recht ihrer Zeit und ihres Gebiets aufzuzeichnen.69 Obwohl sie selbst nicht Recht setzten, sind sie für die Epoche des Spätmittelalters, insbesondere für die weitere Ausformung des deutschen Rechts von herausragender Bedeutung, vor allem deshalb, weil sie als Abbild, als „Spiegel“70 der Rechtswirklichkeit galten.71 Den Rechtsbüchern kommt zwar keine Gesetzeskraft zu, doch erlangten sie durch ihren Gebrauch im Gericht und in der Administration Autorität.72 Darüber hinaus enthalten sie aber auch persönliche Wertungen und rechtsschöpferische Anschauungen ihres jeweiligen Verfassers,73 was für die Fortentwicklung des Rechts ebenfalls von großer Bedeutung war. Hinsichtlich ihres Inhalts sind die Rechtsbücher in Land- und Lehnrechtsbücher, Stadtrechtsbücher und Rechtsgang- oder Prozessrechtsbücher zu unterscheiden.74

Für die vorliegende Untersuchung wurden aufgrund seiner herausragenden Bedeutung zunächst der Landrechtsteil des Sachsenspiegels verwendet sowie ein weiteres Landrechtsbuch, das Görlitzer Rechtsbuch. Dieses Rechtsbuch bildet eine Sonderform zum Sachsenspiegel.75 Es wurde hier deshalb ausgewählt, weil es zu dem Sachsenspiegel in einem besonderen Verhältnis steht, insbesondere soll es sich um eine Übersetzung der lateinischen Urfassung des Sachsenspiegels handeln.76 Schon im 18. Jahrhundert bestand in der wissenschaftlichen Literatur die Auffassung, dass es sich bei dem landrechtlichen Teil des Görlitzer Rechtsbuchs um eine vom Sachsenspiegel unabhängige Sammlung alten Landrechts handele, ←33 | 34→die das sächsische Landrecht wiedergibt und möglicherweise älter als der Sachsenspiegel sei.77

Mit dem Sachsenspiegel und dem Görlitzer Rechtsbuch wird der Unrechtsausgleich in Landrechtsbüchern untersucht. Das in ihnen enthaltene Recht bezieht sich auf die Bevölkerung auf dem Lande.78 Die vorliegende Arbeit will daneben aber auch untersuchen, ob und inwieweit Unterschiede zwischen Landrecht und Stadtrecht bestehen. Sie bezieht deshalb vergleichend Stadtrechte mit ein, für die kennzeichnend ist, dass sie sich, ein eigenes spezifisch städtisches Recht aufweisend, vom umliegenden Land und damit vom Landrecht unterscheiden.79 Seit Ende des 12. Jahrhunderts wurden auch stadtrechtliche Regelungen in längeren Katalogen schriftlich fixiert. Dies kam in verschiedenen Formen vor, etwa als privilegiale Bestätigung des Königs oder Stadtherren, als Rechtsauskunft an sogenannte Tochterstädte oder aber als interne Sammlungen für die eigene Stadt.80 Eine derartige ←34 | 35→Rechtsauskunft durch eine Mutterstadt ist das hier verwendete Görlitzer Stadtrecht, das durch die Stadt Magdeburg im Jahre 1304 in einer Urkunde übermittelt wurde. Es wurde vorliegend deshalb ausgewählt, weil an ihm einerseits die Unterschiede zwischen Land- und Stadtrecht im Allgemeinen, andererseits aber auch die Unterschiede zu dem in dieser Region geltenden Landrecht des Görlitzer Rechtsbuchs dargelegt werden können. Beide Quellen stammen zudem aus dem Jahre 1304.

Schließlich werden vergleichend zwei weitere, für den sächsisch-magdeburgischen Rechtskreis sehr bedeutende Quellen für die vorliegende Untersuchung herangezogen. Dabei handelt es sich zunächst um das Zwickauer Rechtsbuch, das als vermutlich im Auftrag des Rates der Stadt Zwickau entstandenes81 Stadtrechtsbuch eine Sonderform zwischen den Landrechtsbüchern und den Stadtrechten einnimmt. Unter dem Einfluss der Rechtsbücher, die eine starke Anregung zu einer umfassenden schriftlich fixierten und gegliederten Darstellung des städtischen Rechts gaben, entstanden im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts vermehrt Stadtrechtsbücher.82 Auch diese sind – wie die Landrechtsbücher – in deutscher Sprache verfasste Privataufzeichnungen, die neben der Fixierung städtischen Rechts oft auch auszugsweise andere Rechtsquellen, wie den Sachsenspiegel, den Schwabenspiegel, den Frankenspiegel und insbesondere das Magdeburger Recht verarbeiten.83 Die Bestimmungen des Zwickauer Rechtsbuchs zum Unrechtsausgleich in Geld sollen daher auch unter dem Blickwinkel etwa bestehender Abhängigkeiten zum Sachsenspiegel und den Görlitzer Rechtsquellen betrachtet werden.

Das Zwickauer Rechtsbuch diente zudem gemeinsam mit anderen Quellen als Vorlage für das Meißener Rechtsbuch,84 das als besonders weit verbreitetes und daher von seinem Wirkungskreis sehr einflussreiches Rechtsbuch gilt. Das Meißener Rechtsbuch greift in seinen Regelungen unter anderem auf das Landrecht des Sachsenspiegels und das Magdeburger Weichbildrecht zurück.85 Es weist die Besonderheit auf, dass in ihm vergleichend die Bestimmungen des Stadt- und Landrechts gegenübergestellt werden.86 Die Untersuchung der in dem Meißener Rechtsbuch enthaltenen Regelungen wird auch auf die Unterschiede im Bereich des Land- und Stadtrechts eingehen und sich zu Gemeinsamkeiten mit dem Zwickauer Rechtsbuch verhalten.

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Insgesamt befasst sich die Untersuchung mit dem Unrechtsausgleich in Rechtsaufzeichnungen, die Landrecht, Stadtrecht sowie, im Falle des Meißener Rechtsbuchs, beides enthalten. Die verwendeten Quellen stammen aus einem Zeitraum, der sich über etwa 150 Jahre erstreckt, so dass vorliegend auch gegebenenfalls vorhandene Entwicklungen innerhalb eines „überschaubaren“ zeitlichen Rahmens beleuchtet werden können. Beginnend in dem Zeitraum um 1225, der Entstehung des Sachsenspiegels, wird die Arbeit den Unrechtsausgleich in Geld auch anhand von Texten darstellen, die etwa 80 Jahre später entstanden waren (Görlitzer Stadtrecht und Görlitzer Rechtsbuch). Schließlich bezieht die Arbeit Regelungen ein, die das Stadt- und Landrecht nach einem weiteren Zeitraum von etwa 50 bis 80 Jahren abbilden (Zwickauer Rechtsbuch und Meißener Rechtsbuch).

Bei diesen fünf verwendeten spätmittelalterlichen Rechtsquellen liegen gegenseitige Abhängigkeiten vor, die anhand der vorliegenden Untersuchung herausgearbeitet werden. Dabei ist festzustellen, dass insbesondere der Landrechtsteil des Görlitzer Rechtsbuches an die Regelungen des Sachsenspiegels angelehnt ist. Das Stadtrecht von Görlitz basiert hingegen im Wesentlichen auf Magdeburger Recht87 aus dem 13. Jahrhundert und weist nur einige wenige – vor allem in dessen zweiten Teil – Parallelstellen zum Sachsenspiegel auf. Im Zwickauer Rechtsbuch können ebenfalls Gemeinsamkeiten mit dem Sachsenspiegel erkannt werden, die sich im Meißener Rechtsbuch fortsetzen.

Die für die vorliegende Untersuchung ausgewählten Quellen eignen sich für die Arbeit aufgrund ihrer gegenseitigen Abhängigkeiten und für einen Vergleich zwischen dem Landrecht einerseits und dem Stadtrecht andererseits besonders. Die bestehenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den hier betrachteten Rechtsquellen sollen im Rahmen des Untersuchungsgegenstandes dargelegt und ausgewertet werden. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass Aussagen zu den Abhängigkeiten der vorliegend untersuchten Quellen untereinander nur mit der Maßgabe getroffen werden können, dass sie keinen in jeder Hinsicht zwingenden Schluss zulassen. So können die in diesem Zusammenhang gewonnenen Erkenntnisse nicht uneingeschränkt gelten, weil es sich bei den verwendeten Texten nicht in allen Fällen um das jeweilige Original handelt: Nicht alle Handschriften, die den für die vorliegende Arbeit benutzten Editionen zugrunde liegen, stammen aus der Zeit der Aufzeichnung der Rechtsquellen. In welchen Zeitraum die für die Untersuchung verwendeten Handschriften fallen, wird nachfolgend bei den entsprechenden Rechtsquellen angegeben.

(2) Die Quellen im Einzelnen

Die Quellen werden im Folgenden in chronologischer Reihenfolge kurz vorgestellt.

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1. Sachsenspiegel

Der Sachsenspiegel des ostsächsischen Ministerialen Eike von Repgow88 ist das älteste und zugleich bedeutendste89 Rechtsbuch des Mittelalters.90 Seine Entstehungszeit kann mit großer Sicherheit auf die Jahre zwischen 1220 bis 1235 eingegrenzt werden.91 Diese Eingrenzung ist unter anderem anhand historischer Ereignisse gelungen, die entweder im Sachsenspiegel bereits verarbeitet wurden oder aber noch keinen Eingang in ihn gefunden hatten.92 Im Übrigen ist bis heute eine genauere Datierung der Entstehung, auf die sich die Wissenschaft einigen kann, nicht gelungen, obschon eine „Festlegung“ überwiegend auf die Zeit zwischen 1221 und 1227 erfolgt.93 Auch zum Ort der Entstehung des Sachsenspiegels – als mögliche Orte wurden insbesondere die Stiftsbibliothek Quedlinburg und die Zisterzienserabtei Altzelle genannt – konnten die wissenschaftlichen Untersuchungen, auch jüngeren Datums, keine im Ergebnis belastbaren Erkenntnisse gewinnen.94 Ob insoweit eine Festlegung je erfolgen können wird, ist auch angesichts der in Bezug auf die Vorlagen bestehenden Unsicherheiten als offen zu bezeichnen; möglicherweise wird dies für immer ungewiss bleiben.95 Weitgehend Einigkeit besteht aber darin, dass eine Abfassung des Sachsenspiegels in Quedlinburg96 ausgeschlossen scheint.97

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Der Sachsenspiegel ist in zahlreichen Handschriften überliefert;98 bei der Dresdener, der Wolfenbütteler, der Heidelberger und der Oldenburger handelt es sich um die vier vorhandenen berühmten Bilderhandschriften, darüber hinaus existieren zwei illuminierte Codices, über 300 weitere Handschriften und 100 Fragmente.99 Er ist mehrfach editiert und ins Hochdeutsche übertragen worden.100 Für die vorliegende Arbeit wurde die Textedition von Friedrich Ebel verwendet;101 ihr liegt die Handschrift Merseburg, Domstiftsarchiv, Hs. 70102 aus dem 14. Jahrhundert in mitteldeutsch zugrunde.103

Der Inhalt des Sachsenspiegels ist zunächst in zwei Teile gegliedert, einen Landrechtsteil und einen Lehnrechtsteil. Das hier interessierende Landrechtsbuch enthält Regelungen zum Privat- und Strafrecht, Gerichtsverfahren und Gerichtsverfassung sowie zum öffentlichen Recht, wobei es nach heutigem Verständnis unstrukturiert scheint und ein „vertrautes Ordnungsdenken“ nur schwer ausfindig zu machen ist.104 Gleichwohl kann sein Inhalt grob in Erbrecht, Ehegut, Gericht, Unrecht, Strafprozess und Verfassungsrecht eingeteilt werden;105 ebenso ist eine Aufgliederung der Regelungen in Gruppen möglich.106

Der Sachsenspiegel fand Verbreitung und Anwendung auch in etlichen Regionen außerhalb des sächsischen Gebiets, schwerpunktmäßig in Nord-, Mittel- und Ostdeutschland, darüber hinaus in slawischen Provinzen des sächsischen Rechts und Epizentren wie Siebenbürgen und die Niederlande.107 Ergänzt durch andere Quellen wird dem Sachsenspiegel zugesprochen, Grundlage unter anderem des ←38 | 39→hier verwendeten Görlitzer Rechtsbuchs und des Meißener Rechtsbuchs sowie auch der Magdeburger Stadtrechtsfamilie zu sein.108

2. Görlitzer Stadtrecht

Das Görlitzer Stadtrecht beruht auf dem Magdeburger Recht und ist dem sächsisch-magdeburgischen Rechtskreis zuzuordnen. Für die Stadt Görlitz wird angenommen, dass diese schon seit dem Zeitpunkt ihrer Entstehung als Stadt mit dem Recht von Magdeburg bewidmet worden war.109 Als Stadtanlage wurde Görlitz etwa um die Wende 1200 erbaut,110 so dass bereits seit diesem Zeitraum Magdeburger Recht zur Anwendung gelangte.111

Zu Beginn des 14. Jahrhunderts ließ sich die Stadt Görlitz die Anwendung des Magdeburger112 Rechts in ihrem Gebiet in Schriftform bestätigen. Zeitlich zwischen der die Gültigkeit des Magdeburger Rechts bestätigenden Urkunde vom 28. November 1303113 und dem – vermutlich – ersten Stadtbuch aus dem Jahre 1305114 liegt die vorliegend verwendete Magdeburg-Görlitzer Rechtsweisung, in der die Schöffen von Magdeburg der Stadt Görlitz das Recht der Stadt Magdeburg ←39 | 40→mitteilen.115 Sie ist eine von insgesamt drei urkundlich überlieferten Rechtsmitteilungen, die unmittelbar von Magdeburg erteilt wurden.116

Die Urkunde stammt vom 1. November 1304 und wurde nicht als einfacher Schöffenbrief, sondern in Form eines Codex117 nach Görlitz übermittelt. Die Rechtsmitteilung ist abgedruckt bei Gustav Adolf Tzschoppe und Gustav Adolf Stenzel,118 wobei der Text aus dem damaligen, im Archiv der Stadt Görlitz vorhandenen Original wiedergegeben ist.119 Sie ist aber heute im Original nicht mehr vorhanden. Die Urkunde bestand aus 45 Blatt in kleinem Folioformat auf Pergamentpapier und war in mit rotem Leder überzogene Holzdeckel eingebunden. Die Überschriften der einzelnen Artikel waren Rubra, die Initialen abwechselnd rot und blau gemalt.120

Die Rechtsmitteilung umfasst insgesamt 140 Artikel, die Regelungen verschiedener Rechtsquellen enthalten.121 Die Artikel können in insgesamt fünf Abschnitte unterteilt werden: Art. 1–42, Art. 43–62, Art. 63–80, Art. 81–121 und Art. 122–140. Der erste und dritte Abschnitt stimmt mit einer Breslauer Handschrift überein, der zweite Abschnitt entspricht dem Magdeburg-Breslauer Recht aus dem Jahre 1295 und der vierte Abschnitt ist dem Sachsenspiegel entnommen.122 Die Artikel des fünften Abschnitts lassen sich keiner bestimmten Quelle zuordnen; ihr Ursprung ist somit nicht näher bekannt. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass es sich ←40 | 41→bei diesen Bestimmungen um eine „selbstständige Zuthat“ der Magdeburger Schöffen handelt.123

Die Regelungen enthalten überwiegend das Magdeburger Recht,124 dessen Inhalt allerdings im Einzelnen nicht bekannt ist, weil Aufzeichnungen über das Recht der Stadt Magdeburg nicht überliefert sind.125 Offizielle Aufzeichnungen fehlen zwar,126 erhalten ist das Magdeburger Recht aber durch die Rechtsmitteilungen oder -weisungen aus Städten seines Rechtskreises.127 Angesichts der Verwendung von vollständigen Artikeln des Sachsenspiegels in den Rechtsmitteilungen aus Magdeburg ist davon auszugehen, dass das Magdeburger Recht dem sächsischen Landrecht des Sachsenspiegels vergleichsweise ähnlich gewesen war.128

Mit der Urkunde vom 1. November 1304, die für die vorliegende Arbeit als Görlitzer Stadtrecht bezeichnet wird, liegt eine bedeutende Quelle aus dem Bereich des ←41 | 42→Magdeburger Rechts vor. Der Wirkungsbereich des Magdeburger Rechts erstreckt sich, abgesehen von geringfügigen „Ausläufern“ nach Westen, auf weite Teile Osteuropas. Seine Verbreitung in den Städten ist nicht nur auf die anhaltischen Gebiete, die Mark Brandenburg, Kursachsen, Teile Thüringens, die Lausitz, Schlesien, Böhmen und Mähren bis nach Polen und Galizien nachgewiesen,129 sondern darüber hinaus auch bis ins Baltikum, die Slowakei und Ungarn.130

3. Görlitzer Rechtsbuch

Als weitere Rechtsquelle wird vorliegend das Görlitzer Rechtsbuch herangezogen, dessen Verfasser unbekannt ist.131 Es gilt als die älteste örtliche Sonderform des Sachsenspiegels,132 so dass die Frage nach bestehenden Gemeinsamkeiten oder Unterschieden für die vorliegende Darstellung von besonderem Interesse ist.

Das Görlitzer Rechtsbuch enthält insgesamt 47 Kapitel,133 innerhalb derer die Regelungen in einzelne Paragraphen gefasst sind. Die ersten 30 Kapitel enthalten das Lehnrecht; die Kapitel 31 bis 47 umfassen die landrechtlichen Regelungen. Das Görlitzer Rechtsbuch enthält hingegen kein Stadtrecht, so dass seine Einordnung als Stadtrechtsbuch134 abzulehnen ist.135 Das Görlitzer Rechtsbuch existiert einzig in der geschriebenen Handschrift der Varia 8 des Ratsarchivs Görlitz.136 Bei ihr handelt es sich um einen 23 Zentimeter hohen und 16,5 Zentimeter breiten Pergamentcodex, der zusammen mit dem aus mit Leder überzogenem Holzdeckel ←42 | 43→bestehenden Einband 3,5 Zentimeter dick ist.137 Für die vorliegende Arbeit wurde die Ausgabe von Carl Gustav Homeyer verwendet.138

Die Entstehungszeit des Görlitzer Rechtsbuchs wird auf etwa 1300 datiert,139 zum Teil auch allgemeiner in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts gelegt.140 Es ist für die vorliegende Untersuchung deshalb von Interesse, weil einerseits sein Entstehungszeitpunkt in den Zeitraum des als Rechtsmitteilung überlieferten Görlitzer Stadtrechts fällt, so dass landrechtliche Regelungen und Stadtrecht verglichen und gegenübergestellt werden können. Andererseits wurde das Görlitzer Rechtsbuch aus dem Grunde für die Arbeit ausgewählt, weil die – nicht unumstrittene – Auffassung vertreten wird, dass es sich bei ihm um die lateinische Urfassung des (landrechtlichen Teils des) Sachsenspiegels handelt.141 Ausgehend von der stark umstrittenen Ansicht, dass der lehnrechtliche Teil des Görlitzer Rechtsbuchs (Art. 1–30) eine wortgetreue ungereimte Übersetzung des Auctor vetus de beneficiis142 ins Mitteldeutsche ist,143 ließe sich auch von seinen landrechtlichen Artikeln (Art. 31–47) auf ein in lateinischer Sprache abgefasstes Landrecht schließen, in dem möglicherweise die lateinische Urfassung des Sachsenspiegels zu sehen ist.144 ←43 | 44→Diese These wurde in der rechtsgeschichtlichen Forschung insbesondere145 aus der sowohl im Auctor vetus de beneficiis146 als auch im Görlitzer Rechtsbuch147 enthaltenen Volljährigkeitsgrenze von 24 Jahren entwickelt. Dem steht gegenüber, dass die deutsche Fassung des Sachsenspiegels davon abweichend 21 Jahre für den Eintritt der Volljährigkeit vorsieht (Ssp. I 42 § 1: […] Ubir ein unde zwenzig iar, so ist der man zu sinen tagen komen, alse her vormunden haben sal).148 Zwar erhob sich gegen diese Annahme auch Widerspruch,149 jedoch scheint sich die Auffassung von einer im Görlitzer Rechtsbuch aufgefundenen lateinischen Urfassung des Sachsenspiegels durchzusetzen.150

Details

Seiten
366
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631784419
ISBN (ePUB)
9783631784426
ISBN (MOBI)
9783631784433
ISBN (Paperback)
9783631781159
DOI
10.3726/b15523
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Buße Wergeld Wergeldbruchteil Strafschadensersatz Wertersatz Kombination peinliches Strafrecht Wette Gewette Brüche in Not Notwehr warlosunge
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2019. 366 S.

Biographische Angaben

Thomas Markpert (Autor:in)

Thomas Markpert ist Rechtsanwalt für Bau-, Immobilien- und Vergaberecht. Er studierte Rechtswissenschaften an der Alma Mater Lipsiensis in Leipzig. Dort und an der Georg-August-Universität in Göttingen, wo er auch mit der vorliegenden Arbeit promovierte, war er als Mitarbeiter tätig.

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Titel: Der Unrechtsausgleich in Geld bei Verletzungen der Person
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