Gefahrbegriff und zeitliche Grenzen der Verkäuferhaftung im UN-Kaufrecht
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort
- Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis
- Einführung
- Erster Teil: Allgemeines Gefahrtragungsrecht
- Kapitel 1: Gefahrbegriff und Gefahrverwirklichung: Artikel 66 1. Halbsatz CISG und Artikel 36 Abs. 1 CISG
- I. Gefahrbegriff und Zufall
- 1. Der Gefahrbegriff nach herrschender Meinung
- 2. Die verschuldensunabhängige Verkäuferhaftung nach den Artikeln 45 ff. CISG
- a) Der Verschuldensbegriff aus rechtsvergleichender Perspektive
- (1) Das Verschulden im Vertragsrecht des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB)
- (2) Das Verschulden im Vertragsrecht des englischen und US-amerikanischen Common Law
- (3) Das Verschulden im Vertragsrecht des französischen Code Civil
- (4) Zwischenergebnis: Verschuldenshaftung als Sorgfaltshaftung
- b) Die Haftung des Verkäufers für Vertragsverletzungen gemessen am Maßstab der Sorgfaltshaftung
- (1) Die Erhaltungspflicht des Verkäufers nach Artikel 85 CISG
- (2) Allgemeine vertragsrechtliche Integritätshaftung des Verkäufers
- (3) Die Haftungsbefreiung des Verkäufers nach Artikel 79 I CISG
- c) Zwischenergebnis: Die Haftung des Verkäufers als eine vom Verschuldenskriterium unabhängige Erfolgshaftung
- 3. Artikel 66 CISG als Instrument der Haftungsbegrenzung
- 4. Eine Neubestimmung des Gefahrbegriffs
- 5. Nicht körperliche Sachbeeinträchtigungen
- II. Die Rechtsfolgen des Gefahrübergangs bei rechtsbehelfsbezogener Betrachtungsweise
- 1. Die im Kontext des allgemeinen Gefahrtragungsrechts relevanten Rechtsbehelfe des Käufers
- a) Nachbesserungsanspruch, Ersatzlieferungsanspruch und Minderungsrecht (Artikel 46 Abs. 2 und 3 CISG, Artikel 50 CISG)
- b) Das Vertragsaufhebungsrecht aus Artikel 49 Abs. 1 CISG
- c) Der allgemeine Erfüllungsanspruch aus Artikel 46 Abs. 1 CISG
- d) Der Schadensersatzanspruch aus Artikel 45 Abs. 1 lit. b) CISG i.V.m. Artikel 74 CISG
- e) Das Zurückbehaltungsrecht aus Artikel 58 Abs. 1 Satz 1 CISG
- f) Die Käuferrechte bei antizipiertem Vertragsbruch
- g) Das Vertragsaufhebungsrecht beim Sukzessivlieferungsvertrag
- h) Zusammenfassung
- 2. Der Zusammenhang von Gefahrübergang und gegenleistungsbezogenen Rechtsbehelfen des Käufers im Einzelnen
- a) Vertragsaufhebung
- b) Minderung
- 3. Der Zusammenhang von Gefahrübergang und leistungsbezogenen Rechtsbehelfen des Käufers im Einzelnen
- a) Der allgemeine Erfüllungsanspruch gerichtet auf Lieferung
- b) Ersatzlieferung und Nachbesserung
- 4. Der Zusammenhang von Gefahrübergang und dem Schadensersatzanspruch des Käufers im Einzelnen
- III. Zusammenfassung der Ergebnisse
- Kapitel 2: Gefahrtragung des Verkäufers nach Gefahrübergang
- I. Artikel 36 Abs. 2 CISG
- 1. Der Tatbestand des Artikels 36 Abs. 2 1. Alternative CISG
- a) Pflichtverletzung und Vertragswidrigkeit
- b) Pflichtverletzungen nach Gefahrübergang
- 2. Die Rechtsfolge des Artikels 36 Abs. 2 CISG vor dem Hintergrund der einzelnen Käuferrechte
- a) Vertragsaufhebung
- b) Minderung
- c) Die leistungsbezogenen Rechtsbehelfe des Artikels 46 CISG
- d) Schadensersatz
- 3. Insbesondere: Versteckter Mangel und Verpackungsmangel
- II. Artikel 66 2. Halbsatz CISG
- 1. Der Tatbestand des Artikels 66 2. Halbsatz CISG
- a) Pflichtverletzung als Zurechnungskriterium
- b) Vertragsbezogene Pflichtverletzung als Zurechnungskriterium
- c) Vertragsverletzung als Zurechnungskriterium
- (1) Einleitung
- (2) Die Bedeutung der historischen Interpretation in der Methodenlehre einzelner nationaler Rechtsordnungen
- (3) Implikationen für das internationale Einheitsrecht
- (4) Implikationen für die Auslegung des Artikels 66 2. Halbsatz CISG
- d) Ergebnis
- 2. Die Rechtsfolge des Artikels 66 2. Halbsatz CISG vor dem Hintergrund der einzelnen Käuferrechte
- III. Artikel 70 und 82 CISG
- 1. Der Tatbestand des Artikels 70 CISG
- a) Das Bestehen eines „rechtsbehelfsbeeinträchtigenden Ereignisses“ als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal
- b) Erforderlicher Zusammenhang zwischen Rechtsbehelf und rechtsbehelfsbeeinträchtigendem Ereignis
- 2. Artikel 70 CISG auf der Rechtsfolgenseite – Normativer Zusammenhang und Anwendungsbereich bei rechtsbehelfsbezogener Betrachtungsweise
- a) Gegenleistungsbezogene Rechtsbehelfe
- (1) Vertragsaufhebung
- (a) Der Begriff des „Beruhens“ in Artikel 82 Abs. 2 lit. a) CISG
- (b) Artikel 70 CISG im Anwendungsbereich des Artikels 82 Abs. 1 CISG
- (c) Artikel 70 CISG bei Unanwendbarkeit des Artikels 82 CISG
- i) Eintritt des rechtsbehelfsbeeinträchtigenden Ereignisses vor Übergang der tatsächlichen Sachherrschaft
- ii) Rechtsbehelfsbeeinträchtigendes Ereignis nach Erklärung der Vertragsaufhebung
- (d) Analoge Anwendung des Artikels 70 CISG bei nicht wesentlicher Vertragsverletzung des Verkäufers
- (2) Minderung
- b) Leistungsbezogene Rechtsbehelfe
- (1) Allgemeiner Erfüllungsanspruch gerichtet auf Lieferung aus Artikel 46 Abs. 1 CISG i.V.m. Artikel 31 CISG
- (2) Ersatzlieferungsanspruch
- (3) Nachbesserungsanspruch
- c) Schadensersatz
- (1) Weitergehende Beschädigung der Kaufsache durch das zweite Ereignis
- (2) Vollständige Zerstörung der Kaufsache durch das zweite Ereignis
- 3. Insbesondere: Gefahrtragung während der Nachbesserung
- a) Vertragsaufhebung und Ersatzlieferung
- b) Minderung und Schadensersatz
- 4. Ergebnis
- IV. Zusammenfassung der Ergebnisse
- Zweiter Teil: Besonderes Gefahrtragungsrecht
- Kapitel 3: Das Recht und die Praxis des internationalen Gütertransports als Hintergrund des besonderen Gefahrtragungsrechts
- I. Seefrachtrecht
- II. Straßentransportrecht
- III. Eisenbahnfrachtrecht
- IV. Luftfrachtrecht
- V. Zusammenfassender Vergleich
- Kapitel 4: Das System des besonderen Gefahrtragungsrechts und der Anwendungsbereich der Artikel 67 bis 69 CISG
- I. Einführung in die Problematik
- II. Grammatikalische und systematische Auslegung der Artikel 67 bis 69 CISG
- 1. Artikel 67 Abs. 1 CISG
- 2. Artikel 68 CISG
- 3. Artikel 69 CISG
- 4. Zwischenergebnis
- III. Rechtsvergleichende Auslegung
- 1. „periculum est emptoris“ im schweizerischen Obligationenrecht
- 2. „res perit domino“ im französischen und englischen Recht
- 3. Das Traditionsprinzip im deutschen Recht
- 4. Die einzelfallbezogene Regelung im US-amerikanischen Uniform Commercial Code
- 5. Zwischenergebnis
- IV. Historische Auslegung
- 1. Überblick über den Entstehungsprozess des CISG
- 2. Vom EKG zum Genfer Entwurf
- a) Die Regelung des Gefahrübergangs im EKG
- b) Das Gutachten des UNCITRAL Generalsekretariats zur Lieferpflicht
- c) Die Diskussion des Konzepts der Lieferung auf der Dritten und Vierten Sitzung der Arbeitsgruppe
- d) Die Analyse des Generalsekretariats zu den Kapiteln IV bis VI EKG und die fünfte Sitzung der Arbeitsgruppe
- e) Die Stellungnahme Norwegens und deren Bewertung durch das Generalsekretariat
- 3. Vom Genfer Entwurf zum New Yorker Entwurf
- a) Der Genfer Entwurf
- b) Die Stellungnahmen Deutschlands und Norwegens zum Genfer Entwurf
- c) Die Überarbeitung durch die UNCITRAL Generalversammlung und der New Yorker Entwurf
- 4. Vom New Yorker Entwurf zur endgültigen Fassung des CISG: die Beratungen auf der Diplomatischen Konferenz
- 5. Zwischenergebnis
- a) Ergebnisse der historischen Auslegung im Hinblick auf das Konzept des besonderen Gefahrtragungsrechts in seiner Gesamtheit
- b) Ergebnisse der historischen Auslegung im Hinblick auf die Auslegung der einzelnen Gefahrtragungstatbestände
- V. Der mit den Vorschriften des besonderen Gefahrtragungsrechts verfolgte Zweck
- 1. Überblick über die im besonderen Gefahrtragungsrecht relevanten Zweckerwägungen
- 2. Die für den Gefahrübergang relevanten Zweckerwägungen im Einzelnen
- a) Schutz der Kaufsache vor Schaden
- b) Versicherung
- c) Schadensabwicklung
- d) Streitvermeidung bzw. Vermeidung von Beweisaufnahmen
- (1) Vermeidung außervertraglicher Haftungsprozesse
- (2) Vermeidung von Beweisaufnahmen über den Zeitpunkt des Schadenseintritts
- e) Ersatzansprüche gegen den Frachtführer
- f) wirtschaftlicher Nutzen
- g) Erfüllung
- 3. Zwischenergebnis
- a) Methode der teleologischen Auslegung und deren Implikationen für das besondere Gefahrtragungsrecht allgemein
- b) Implikationen der untersuchten Zweckerwägungen für die einzelnen Gefahrtragungstatbestände im Besonderen
- VI. Auslegungsergebnis und Abgrenzung der Tatbestände des besonderen Gefahrtragungsrechts untereinander
- 1. Der Grundtatbestand des Versendungskaufs in Artikel 67 Abs. 1 Satz 1 CISG
- 2. Der qualifizierte Tatbestand des Versendungskaufs in Artikel 67 Abs. 1 Satz 2 CISG
- 3. Der qualifizierte Tatbestand des Versendungskaufs in Artikel 68 CISG
- 4. Die Gefahrtragungsregel des Artikels 69 Abs. 2 CISG
- 5. Artikel 69 Abs. 1 CISG als Auffangtatbestand des besonderen Gefahrtragungsrechts.
- 6. Die Gefahrtragung beim Streckengeschäft als Anwendungsbeispiel
- VII. Implikationen für die Auslegung von Parteivereinbarungen
- 1. Zwei Regeln für die Vertragsauslegung
- 2. Das Urteil des OLG Karlsruhe, 15 U 29/92, als Anwendungsbeispiel
- Kapitel 5: Die Auslegung der Gefahrtragungstatbestände im Einzelnen
- I. Versendungskauf: Artikel 67 Abs. 1 CISG
- 1. Zuweisung des Verladerisikos und Übergabebegriff
- 2. Gefahrtragung bei Einschaltung eines Spediteurs
- 3. Abnahmeverzug und sonstige Vertragsverletzungen des Käufers
- 4. Individualisierung und Individualisierungsanzeige
- 5. Massengüter / Bulk Verträge
- II. Verkauf eingelagerter Ware und allgemeiner Auffangtatbestand: Artikel 69 CISG
- 1. Übernahmebegriff und Zuweisung des Verladerisikos bei Artikel 69 Absatz 1 CISG
- 2. Zur Verfügung Stellen der Ware und Bereitschaftsanzeige bei Abnahmeverzug und beim Verkauf eingelagerter Ware
- 3. Sonstige Vertragsverletzungen des Käufers
- 4. Individualisierung und Individualisierungsanzeige
- 5. Massengüter / Bulk Verträge
- III. Verkauf reisender Ware: Artikel 68 CISG
- 1. Voraussetzungen des rückwirkenden Gefahrübergangs nach Artikel 68 Satz 2 CISG
- 2. Gefahrübergang bei Bösgläubigkeit des Verkäufers, Artikel 68 Satz 3 CISG
- a) Maßstab der Bösgläubigkeit
- b) Anwendbarkeit des Artikels 68 Satz 3 CISG auch auf den Regelfall des Gefahrübergangs bei Vertragsschluss
- c) Verschärfte Haftung des Verkäufers für Sachbeeinträchtigungen, hinsichtlich derer er nicht bösgläubig war
- 3. Vertragsverletzungen des Käufers
- 4. Individualisierung und Massengüter / Bulk Verträge
- IV Zusammenfassung der Ergebnisse
- Dritter Teil: Leistungsgefahr und Schadensersatz
- Kapitel 6: Leistungsgefahr
- I. Leistungsgefahr und Konkretisierung
- II. Leistungsgefahr bei der Stückschuld
- III. Die Zuordnung der Leistungsgefahr im UN-Kaufrecht
- 1. Stellungnahme zum Meinungsstreit
- 2. Der Umfang der analogen Anwendung der Vorschriften des IV. Kapitels
- Kapitel 7: Schadensersatz
- Vierter Teil: Schlussbetrachtung
- Literaturverzeichnis
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die Gefahrtragung in Verträgen, die dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf (im Folgenden „UN-Kaufrecht“ oder „CISG“) unterliegen. Unter Gefahrtragung versteht man im Kaufrecht gemeinhin die Zuweisung des durch Untergang oder Beschädigung der Kaufsache in einem Zeitpunkt zwischen Vertragsschluss und endgültiger Vertragserfüllung entstandenen wirtschaftlichen Nachteils1.
Der Begriff des Nachteils hat im Recht des internationalen Warenkaufs eine ganz spezifische Bedeutung, was wiederum wichtige Implikationen für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand mit sich bringt. Das UN-Kaufrecht ist ausschließlich auf den grenzüberschreitenden Warenkauf anwendbar2. Bei solchen Exportgeschäften ist die Ware in aller Regel gegen Lager- und Transportschäden versichert3. Die Gefahrverwirklichung hat also meist nicht zur Folge, dass die gefahrbelastete Partei tatsächlich den in der Ware verkörperten Wert verliert. Der angesprochene wirtschaftliche Nachteil besteht vielmehr insbesondere in der Last, die Ware zu versichern und – in einem geringeren Umfang – in der Aufgabe, sich im Schadensfall mit dem Versicherer auseinanderzusetzen und gegebenenfalls die beschädigte Ware am Markt zu verwerten bzw. die zerstörte Ware zu entsorgen4. Insbesondere der Aspekt der Versicherung, der von den Parteien bereits bei Vertragsschluss bedacht werden sollte, zeigt, dass der Schaffung von Rechtssicherheit im Gefahrtragungsrecht des CISG im Ergebnis eine größere Bedeutung beizumessen ist als einer den Geboten der Gerechtigkeit und Billigkeit entsprechenden Lastenzuweisung im tatsächlich eingetretenen Schadensfall. Nur wenn bei Vertragsschluss eindeutig feststeht, ab welchem Zeitpunkt der Verkäufer für die Ware nicht mehr verantwortlich ist und – spiegelbildlich ←21 | 22→dazu – die Verantwortlichkeit des Käufers beginnt, wird eine wirtschaftlich sinnlose doppelte Versicherung der Kaufsache oder, das ist der gravierendere Fall, das Entstehen einer „Versicherungslücke“, in der dann doch wieder der gesamte Sachwert auf dem Spiel stünde, vermieden. Es ist eines der Anliegen der sich anschließenden Erörterungen, die Rechtssicherheit im skizzierten Bereich durch die Ausarbeitung einer verbindlichen und systematisch stimmigen Interpretation der Gefahrtragungsregeln des UN-Kaufrechts zu erhöhen5.
Bei der zu diesem Zweck vorgenommenen Analyse sind eine Reihe von Charakteristika zu berücksichtigen, die einmal dem spezifischen tatsächlichen Hintergrund des internationalen Handelskaufs, des Weiteren aber auch dem Rechtscharakter des UN-Kaufrechts als internationalem Einheitsrecht geschuldet sind. Eine für die Auslegung besonders relevante praktische Erwägung ist der bereits angesprochene Zusammenhang von Gefahrtragung und Versicherung. Des Weiteren gilt es den häufig spekulativen Charakter von Exportgeschäften6 zu berücksichtigen. Die gehandelte Ware ist in aller Regel nur ihrer Gattung nach bestimmt. Dieser Umstand und die lange Transportdauer, insbesondere beim Überseegeschäft, ermöglichen es dem Verkäufer, bereits auf dem Transport befindliche Ware an einen anderen Empfänger als den Käufer umzuleiten und den Kaufvertrag dann mit einem auf dem Markt erst noch zu beschaffenden Substitut zu erfüllen. Der Verkäufer wird ein solches Vorgehen immer dann erwägen, wenn er von sinkenden Preisen auf dem betreffenden Markt – meist wird es sich um Rohstoffe oder andere Massengüter wie beispielsweise Getreide (im Englischen wird zusammenfassend der Begriff „commodities“ verwendet, für den es in der deutschen Sprache kein aussagekräftiges Äquivalent gibt) handeln – ausgeht. Ein weiterer bei der Analyse des Gefahrtragungsrechts relevanter Aspekt ist die Üblichkeit des so genannten multimodalen Transports und, damit zusammenhängend, der Verwendung von Containern. Da Exportgeschäfte ohne Warentransport nicht denkbar sind, gilt es ferner die Spezifika des Transportrechts zu berücksichtigen, die zwar nicht unmittelbarer Regelungsgegenstand des UN-Kaufrechts sind, aber erkennbar auf dessen Regelungen zu Gefahrübergang und Inhalt der Lieferpflicht ausstrahlen.
Schließlich gilt es die große Bedeutung von Handelsklauseln wie beispielsweise den von der internationalen Handelskammer herausgegebenen (und in ←22 | 23→regelmäßigen Abständen aktualisierten7) INCOTERMS bei der Auseinandersetzung mit dem Gefahrtragungsrecht des CISG im Auge zu behalten. Solche Standardklauseln beinhalten so gut wie immer eine vergleichsweise detaillierte Regelung zum Gefahrübergang. Es werden zudem Aspekte wie Transportmodalitäten und Versicherungsschutz berücksichtigt und zu den jeweiligen Gefahrtragungsregeln ins Verhältnis gesetzt8. Obwohl sich die Verfasser des UN-Kaufrechts der Bedeutungen der Handelsklauseln im Exporthandel selbstverständlich bewusst waren, haben sie sich, anders als beispielsweise die Verfasser des US-amerikanischen Uniform Commercial Code, nicht damit zufrieden gegeben, Auslegungsregeln für die wichtigsten in der Praxis verwendeten Handelsklauseln nebst eines allgemeinen Auffangtatbestands bereitzustellen. Das Gefahrtragungsrecht des UN-Kaufrechts soll den Gefahrübergang vielmehr für alle in der Praxis möglicherweise auftretenden Fallkonstellationen abschließend interessengerecht regeln, ohne dass es ergänzend des Rückgriffs auf eine etwaige Parteivereinbarung bedarf. Dieser Ansatz ist im Grundsatz begrüßenswert. Es sollte die Aufgabe jeder Kodifikation, auch im Bereich des internationalen Einheitsrechts, sein, die ihren Rechtssätzen zugrunde liegende Wirklichkeit umfassend abzubilden.
Die vorliegende Untersuchung befasst sich primär mit dem dispositiven Gefahrtragungsrecht des CISG. Auf einzelne Handelsklauseln ist nur insoweit einzugehen, wie dies zur Auslegung der gesetzlichen Regelungen erforderlich ist. Insbesondere das Verhältnis von Handelsklauseln und Gesetzesrecht ist nicht unmittelbarer Gegenstand der Untersuchung. Die insoweit ganz herrschende Ansicht, dass tatsächlich von den Parteien vereinbarte Handelsklauseln das dispositive Gefahrtragungsrecht in ihrem konkreten Regelungsbereich nach Maßgabe des Artikels 6 CISG verdrängen ohne die Anwendbarkeit des UN-Kaufrechts in seiner Gesamtheit auszuschließen9, soll hier nicht in Frage gestellt werden. Ebenso ist mit der herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum davon auszugehen, dass die Handelsklauseln nicht als Handelsbrauch ←23 | 24→im Sinne von Artikel 9 Abs. 2 CISG zu qualifizieren sind10. Das ist zum einen bereits durch die Vielgestalt der zur Verfügung stehenden Klauseln11 und den Umstand indiziert, dass auch gleichlautende Handelsklauseln in verschiedenen Teilen der Welt durchaus unterschiedlich ausgelegt werden12. Im Übrigen machte die Annahme eines Handelsbrauchs das Gefahrtragungsrecht des CISG in seiner Gesamtheit obsolet, ein Umstand, der ganz offensichtlich dem mit der Kodifikation verfolgten Zweck nicht entspricht.
Ungeachtet der Vielzahl praktischer Umstände, die im Gefahrtragungsrecht zwangsläufig eine Rolle spielen müssen, bleibt die Frage nach dem Zeitpunkt des Gefahrübergangs im Grunde genommen abstrakt. Traditionell hat man sich dem Problem eher von einer theoretisch dogmatischen als von einer auf den Einzelfall bezogenen pragmatischen Ausgangsposition genähert. Die den einzelnen unvereinheitlichten nationalen Rechtsordnungen zu Grunde liegenden Konzepte unterscheiden sich zumindest im Ansatz erheblich. Der Gefahrübergang kann an den Zeitpunkt des Vertragsschlusses oder an den Eigentumsübergang geknüpft werden. Andere Rechtsordnungen sehen vor, dass der Verkäufer zu entlasten ist, sobald er alles seinerseits zur Erfüllung des Vertrags Erforderliche getan hat. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den einzelnen nationalen Rechtsordnungen besteht in der rechtlichen Bewertung der in Deutschland so genannten Frage nach der Zuordnung der Leistungsgefahr. Den Rechtsordnungen des anglo-amerikanischen Rechtskreises ist bereits der Begriff der Leistungsgefahr fremd. Das mag daran liegen, dass auch der Erfüllungs- bzw. Lieferanspruch, über dessen rechtliches Schicksal die Zuordnung der Leistungsgefahr im Ergebnis ja entscheidet, in diesen Rechtsordnungen nur ganz ausnahmsweise geltend gemacht werden kann13. Anders insbesondere im deutschen, aber auch im österreichischen Recht. Im CISG ist die Zuordnung der Leistungsgefahr nicht ausdrücklich geregelt. Die Stellungnahmen im Schrifttum hierzu sind dabei bedauerlicher Weise stark durch den Blickwinkel des Heimatrechts des jeweiligen Autors bestimmt. Während englischsprachige Publikationen die Problematik der Leistungsgefahr in der Regel überhaupt nicht erwähnen, ←24 | 25→sprechen deutschsprachige Veröffentlichungen meist von einer Regelungslücke, die es im Wege der Analogie zu schließen gilt.
Methodisch erschließt sich die anschließende Untersuchung das Gefahrtragungsrecht des CISG unter Verwendung der aus dem deutschen Recht geläufigen Differenzierung zwischen Allgemeinem und Besonderem; es wird insoweit im Folgenden also von allgemeinem und besonderem Gefahrtragungsrecht die Rede sein. Die in den Artikeln 67 bis 69 CISG geregelten hier so genannten Gefahrtragungstatbestände machen das besondere Gefahrtragungsrecht aus. Die genannten Vorschriften definieren für verschiedene Sachverhaltskonstellationen den konkreten Zeitpunkt des Gefahrübergangs – Artikel 68 CISG bestimmt beispielsweise, dass beim so genannten Verkauf reisender Ware die Gefahr im Zeitpunkt des Vertragsschlusses übergeht. Dem allgemeinen Gefahrtragungsrecht sind spiegelbildlich all diejenigen Normen zuzuordnen, die auf alle denkbaren Fallkonstellationen des Handelskaufs Anwendung finden. Eine Frage des allgemeinen Gefahrtragungsrechts ist es beispielsweise, wie sich Pflicht- bzw. Vertragsverletzungen des Verkäufers auf den Gefahrübergang auswirken.
Bei der Auslegung der einzelnen Vorschriften des Gefahrtragungsrechts ist ferner dem Umstand Rechnung zu tragen, dass internationales Einheitsrecht autonom, also ohne Rückgriff auf das Heimatrecht des Anwenders bzw. das sich aus der betreffenden Rechtsordnung ergebende Rechtsverständnis, auszulegen ist14. Mit dem Gebot der autonomen Auslegung internationalen Einheitsrechts korrespondiert das Erfordernis der rechtsvergleichenden Auslegung. Gerade zentrale Begrifflichkeiten wie beispielsweise der Verschuldensbegriff, der im CISG selbst nur eine untergeordnete Rolle spielt, erschließen sich erst mit Blick auf das in einzelnen nationalen Rechtsordnungen vorherrschende Verständnis. Auch wenn Stellenwert und Nutzen der rechtsvergleichenden Auslegung internationalen Einheitsrechts durchaus umstritten sind15, wird im Folgenden häufig auf rechtsvergleichende Erwägungen zurückgegriffen werden. Dabei werden grundsätzlich das deutsche Recht als Vertreter der Rechtsordnungen des germanischen Rechtskreises, das französische Recht als Vertreter der Rechtsordnungen ←25 | 26→des romanischen Rechtskreises sowie das englische und U.S.-amerikanische Recht als Vertreter der Rechtsordnungen des anglo-amerikanischen Rechtskreises untersucht. Das englische Recht findet insoweit ungeachtet der Tatsache Berücksichtigung, dass das Vereinigte Königreich das UN-Kaufrecht bis zum heutigen Tage nicht ratifiziert hat16. Dies ist zum einen der großen Bedeutung geschuldet, die das englische Recht auch für andere Rechtsordnungen des Common Law Rechtskreises, insbesondere diejenigen der ehemaligen englischen Kolonien bzw. nunmehrigen Commonwealth Staaten wie beispielsweise Australien, Indien sowie zahlreiche afrikanische Staaten hat17. Es spricht ferner viel dafür, die rechtsvergleichende Auslegung „universal gedachten“ internationalen Einheitsrechts bereits aus ganz grundsätzlichen Erwägungen nicht auf die betreffenden Unterzeichnerstaaten zu beschränken18.
Details
- Seiten
- 360
- Erscheinungsjahr
- 2020
- ISBN (PDF)
- 9783631817872
- ISBN (ePUB)
- 9783631817889
- ISBN (MOBI)
- 9783631817896
- ISBN (Hardcover)
- 9783631817858
- DOI
- 10.3726/b16785
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2020 (September)
- Schlagworte
- Gefahrübergang Leistungsgefahr Exporthandel Versendungskauf Transportversicherung Containerverkehr Rückfall der Gefahr Verschuldenshaftung Historische Auslegung Internationales Einheitsrecht
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 360 S.