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Kollisionsrechtseinheit und Sachrechtsvielfalt im Binnenmarkt

Internationales Lauterkeitsrecht nach Artikel 6 Rom II-Verordnung

von Thilo Schmidt (Autor:in)
©2021 Dissertation 434 Seiten

Zusammenfassung

Die unionsautonome Auslegung des kollisionsrechtlichen Begriffs „unlauteres Wettbewerbsverhalten" in Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO ist problematisch, da sich – trotz eines einheitlichen Binnenmarktes – die nationalen Lauterkeitsrechte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union teilweise fundamental unterscheiden. Die Arbeit identifiziert mittels des Kriteriums der „hinreichenden Kerntatbestandsnähe" die lauterkeitsrechtlichen Teile internationaler, europäischer und nationaler Sachrechte und zeigt, dass sie sich insbesondere bei der Berücksichtigung ethischer Werte und hinsichtlich der Sanktionssysteme unterscheiden. Auf der kollisionsrechtlichen Ebene plädiert sie für ein weites Verständnis des Anknüpfungsgegenstandes unter Einbeziehung von Verbraucher- und Sozialinteressen (Schutzzwecktrias).

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Einführung in das Thema
  • B. Gang der Untersuchung
  • Teil I: Kollisionsrechtseinheit im Binnenmarkt
  • A. Entwicklung und travaux préparatoires
  • I. Historische Ausgangslage der Vereinheitlichung des internationalen Privatrechts im Binnenmarkt
  • II. Divergierende Lösungsvorschläge für das internationale Lauterkeitsrecht
  • 1. Grundkonzept der Anknüpfungsregeln
  • a) Flexibilität der Anknüpfungsregeln
  • b) Internationalprivatrechtliche Interessen und besondere Schutzanliegen
  • 2. Berücksichtigung des Herkunftslandprinzips
  • a) Herkunftslandprinzip außerhalb der Rom II-VO
  • b) Herkunftslandprinzip in der Rom II-VO
  • 3. Sonderanknüpfung für Streudelikte
  • 4. Sonderanknüpfung für unlauteres Wettbewerbsverhalten
  • III. Zusammenfassung und Ergebnis
  • B. Gemeinschaftskompetenz zur Vereinheitlichung des internationalen Lauterkeitsrechts
  • I. Kompetenzgrundlage: Artt. 61 lit. c), 65 lit. b) alt. 1 EGV
  • 1. Binnenmarktförderung
  • a) Binnenmarktrelevanz lauterkeitskollisionsrechtlicher Maßnahmen
  • aa) Präzisierung der Voraussetzungen des europäischen Binnenmarktes
  • (1) Gewährleistung des Marktzugangs
  • (2) Herstellung der Markteinheit
  • bb) Präzisierung der Binnenmarktrelevanz lauterkeitskollisionsrechtlicher Maßnahmen
  • (1) Grundfreiheiten und Kollisionsrecht
  • (2) Grundfreiheiten und Lauterkeitsrecht
  • cc) Präzisierung der notwendigen Förderwirkung
  • dd) Zwischenergebnis zur Binnenmarktrelevanz lauterkeitskollisionsrechtlicher Maßnahmen
  • b) Ob: Binnenmarktförderung durch die Vereinheitlichung des Lauterkeitskollisionsrechts als solche
  • aa) Vorhersehbarkeit und Einheitlichkeit der gerichtlichen Sachentscheidung im Zuständigkeitsregime der EuGVO
  • (1) Förderung des Marktzugangs durch die Vorhersehbarkeit und die Einheitlichkeit der gerichtlichen Sachentscheidung
  • (2) Förderung der Markteinheit durch die Einheitlichkeit der gerichtlichen Sachentscheidung
  • bb) Freizügigkeit der gerichtlichen Entscheidung im Anerkennungs- und Vollstreckungsregime der EuGVO
  • cc) Zwischenergebnis zur Binnenmarktförderung durch die Vereinheitlichung des Lauterkeitskollisionsrechts als solche
  • c) Wie: Binnenmarktangemessenheit der Marktortanknüpfung
  • aa) Grundfreiheiten als Kollisionsnormen mit abweichenden Anknüpfungsmerkmalen
  • bb) Grundfreiheiten als Abwägungstopoi
  • (2) Vorrang der klassischen Kollisionsrechtsinteressen auch im Binnenmarkt
  • cc) Exkurs: Kollisionsrechtlicher Zuweisungsgehalt des sekundärrechtlichen Herkunftslandprinzips und Art. 27 Rom II-VO
  • (1) Herkunftslandprinzip als „Kollisionsnorm“ im Sinne von Art. 27 Rom II-VO
  • (2) Anwendungsvorrang als sachrechtlicher Günstigkeitsvergleich
  • dd) Zwischenergebnis zur Binnenmarktförderung durch die Anknüpfung an den Marktort
  • d) Was: Binnenmarktförderung durch die Einbeziehung von Sachverhalten mit Drittstaatenbezug
  • aa) Notwendige Unterscheidung von Geltungsbereich („wo“) und Regelungsgegenstand („was“)
  • bb) Drittstaatenensachverhalte und inhaltliche Gestaltung
  • (1) Binnenmarktneutralität speziell der Marktortanknüpfung
  • (2) Notwendigkeit der Einbeziehung von Drittstaatensachverhalten in die inhaltliche Gestaltung
  • cc) Drittstaatensachverhalte und Vereinheitlichung als solche
  • (1) Notwendigkeit der Einbeziehung von Drittstaatensachverhalten in die Vereinheitlichung
  • (2) Lauterkeitsrechtliche Fallkonstellationen mit Drittstaatenbezug
  • (i) Beschränkung der Binnenmarktbelegenheit auf den Sitz nur eines Mitbewerbers und den maßgeblichen Markt
  • (ii) Beschränkung der Binnenmarktbelegenheit auf den Sitz der streitenden Mitbewerber
  • (iii) Beschränkung der Binnenmarktbelegenheit auf den Sitz nur eines Mitbewerbers
  • (iv) Beschränkung der Binnenmarktbelegenheit auf den maßgeblichen Markt
  • (v) Beschränkung der Binnenmarktbelegenheit auf die internationale Zuständigkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts gemäß Art. 23 EuGVO
  • dd) Zwischenergebnis zur Binnenmarktförderung durch die Einbeziehung von Sachverhalten mit Drittstaatenbezug
  • 2. Sachlicher Umfang
  • 3. Umsetzungsinstrument
  • II. Subsidiarität angesichts der Möglichkeit von völkerrechtlichen Übereinkommen der Mitgliedstaaten
  • III. Verhältnismäßigkeit angesichts der Möglichkeit der Vereinheitlichung des Sachrechts
  • IV. Zusammenfassung und Ergebnis
  • Teil 2: Sachrechtsvielfalt und Anknüpfungsgegenstand
  • A. Qualifikation
  • I. Gegenstand der Qualifikation
  • 1. Erster Schritt: Primäre Qualifikation (als Merkmal des Tatbestandes)
  • 2. Zweiter Schritt: Sekundäre Qualifikation (als Merkmal der Rechtsfolge)
  • II. Statut der Qualifikation
  • 1. Einheitliche Anwendung des Anknüpfungsgegenstandes
  • a) Beschränkung auf die einheitliche Anwendung
  • b) Begriffsinhalt nach der lex causae
  • c) Begriffsinhalt nach der lex fori
  • 2. Unionsautonome Bestimmung des Begriffsinhalts
  • B. Unlauteres Wettbewerbsverhalten in vielfältigen Sachrechten
  • I. Relevanz des Sachrechts für die kollisionsrechtliche Begriffsbestimmung
  • II. Autonome Identifikation der lauterkeitsrechtlichen Sachrechtsteile
  • 1. Unbestimmtheit des Wortlauts
  • a) „Wettbewerb“
  • b) „unlauter“
  • 2. Bedeutung der historischen Entwicklung
  • a) Gemeinsame Wurzel: Lauterkeitsrecht als individualschützendes „Recht der Konkurrenz“
  • aa) Dogmengeschichtlicher Ausgangspunkt: notwendige Regulierung der Gewerbefreiheit
  • bb) Individualrechtsschutz: Schutz der Interessen eines bestimmten Wettbewerbers im Horizontalverhältnis
  • cc) Kerntatbestände: Schutz vor Herkunftstäuschung, vor Anschwärzung und von Betriebsgeheimnissen
  • b) Hauptdivergenzen: Lauterkeitsrecht als sozialinteressenschützendes „Recht des Marktes“?
  • aa) Integration eines lauterkeitsrechtlichen Verbraucherschutzes in eine sonderprivatgesetzliche Schutzzwecktrias
  • bb) Segregation eines öffentlichen Verbraucherschutzes vom allgemeindeliktischen Mitbewerberschutz
  • 3. Unbestimmtheit teleologischer Erwägungen
  • a) Unbestimmtheit der betroffenen Interessen
  • aa) Interessen der Mitbewerber
  • bb) Interessen der Marktgegenseite
  • cc) Interessen der Allgemeinheit
  • b) Unbestimmtheit des Kriteriums der Wettbewerbsfunktionalität
  • 4. Identifikationsproblematik der Rechtsvergleichung
  • 5. Alternativer Ansatz: Autonome Identifikation aufgrund hinreichender Sachnähe zum traditionellen Mitbewerberschutz (Kerntatbestandsnähe)
  • a) Kerntatbestandsnähe als historisch gesicherter Ausgangspunkt
  • b) Horizontalbezug der Schutzrichtungselemente als wesentliches Merkmal der Kerntatbestandsnähe
  • III. Rechtsvergleichende Schutzzweckanalyse kerntatbestandsnaher Rechtsquellen
  • 1. Internationale Rechtsquellen
  • a) Art. 10bis PVÜ
  • aa) Entwicklung
  • bb) Ableitung allgemeiner lauterkeitsrechtlicher Wertungen
  • b) TRIPS
  • aa) Schutz von geographischen Angaben
  • bb) Schutz von Geschäftsgeheimnissen
  • cc) Genuine Lauterkeitszugehörigkeit und induktive Ableitung allgemeiner lauterkeitsrechtlicher Wertungen
  • c) Zwischenergebnis: Traditioneller Mitbewerberschutz bei sonstiger Werte- und Sanktionsoffenheit
  • 2. Rechtsquellen des Unionsrechts
  • a) Zieldivergenzen zwischen dem Unions- und dem materiellen Lauterkeitsrecht
  • b) Primäres Unionsrecht
  • aa) Grundfreiheiten
  • bb) Wettbewerbsregeln
  • c) Sekundäres Unionsrecht
  • aa) Harmonisierungsbestrebungen mit Auswirkungen auf das Lauterkeitsrecht
  • bb) Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken
  • (1) Regelungsgehalt: Schutz der Verbraucher vor unlauteren Geschäftspraktiken
  • (i) Sachgegenständlicher Regelungsbereich: „Geschäftspraktiken“
  • (ii) Bewertungsmaßstab: „Unlauterkeit“
  • (iii) Offenheit der Sanktionsinstrumente
  • (2) Genuine Lauterkeitszugehörigkeit des materiellen Regelungsgehalts aufgrund eines hinreichenden Horizontalbezuges
  • cc) Richtlinie 2006/114/EG über irreführende und vergleichende Werbung
  • (1) Regelungsgehalt: Schutz vor irreführender und vergleichender Werbung
  • (i) Sachgegenständlicher Regelungsbereich: Irreführende und vergleichende Werbung
  • (ii) Bewertungsmaßstab: Irreführung und Vergleich
  • (iii) Offenheit der Sanktionsinstrumente
  • (2) Genuine Lauterkeitszugehörigkeit des materiellen Regelungsgehalts aufgrund eines hinreichenden Horizontalbezuges
  • dd) Zusammenfassung, Lückenfüllung und Ableitung eines kompletten Lauterkeitssekundärrechts
  • (1) Zusammenfassung der lauterkeitsrechtlichen Fragmente der Richtlinien 2005/29/EG und 2006/114/EG
  • (i) Sachverhalte im Regelungsbereich beider Richtlinien
  • (ii) Bewertungskriterien beider Richtlinien
  • (2) Abgeleitete Auswirkungen auf das unionsautonome Referenzmodell vom Lauterkeitsrecht
  • (i) Lauterkeitsrechtliche Relevanz richtlinienexterner Sachverhalte
  • (ii) Lauterkeitsrechtliche Relevanz richtlinienexterner Bewertungkriterien
  • d) Zwischenergebnis: Einbeziehung wettbewerbsbezogener Verbraucherinteressen bei sonstiger Werte- und Sanktionsoffenheit
  • 3. Rechtsquellen auf Ebene der Mitgliedstaaten
  • a) Integrationsmodell Deutschlands
  • aa) Schutzzwecktrias und Generalklausel
  • bb) Wettbewerbsfunktionale oder ethische Schutzzweckbestimmung?
  • cc) Dominanz der zivilgerichtlichen Durchsetzung
  • b) Segregationsmodell Frankreichs
  • aa) Concurrence Déloyale
  • (1) Fehlerhaftes Verhalten (Faute
  • (2) Schaden (Préjudice) und ursächlicher Zusammenhang (Lien de Causalité)
  • bb) Code de la Consommation
  • (1) Materieller Verbraucherschutz
  • (2) Erweiterte Durchsetzungsbefugnisse
  • c) Negationsmodell Großbritanniens
  • aa) Zivilrechtliche Klagemöglichkeiten des Fallrechts (Torts)
  • (1) Passing-Off
  • (2) Sonstige Economic Torts
  • bb) Straf- und verwaltungsrechtliches Gesetzesrecht
  • (1) Consumer Protection from Unfair Trading Regulations 2008
  • (2) Business Protection from Misleading Marketing Regulations 2008
  • (3) Weitgehend behördliche Durchsetzung
  • cc) Werbeselbstkontrolle
  • d) Zwischenergebnis: Unterschiede bei der Berücksichtigung ethischer Werten und der Befugnis zur Durchsetzung von Sanktionen
  • 4. Zusammenfassung und Ergebnis: Sachrechtsvielfalt als Sanktionsvielfalt
  • C. Unlauteres Wettbewerbsverhalten im einheitlichen Kollisionsrecht
  • I. Modernes wettbewerbsfunktionales Konzept der herrschenden Meinung
  • II. Kritik am herrschenden Konzept aufgrund der nationalen Sachrechtsvielfalt
  • 1. Wortlaut von Art. 6 Rom II-VO und Erwägungsgrund 21
  • 2. Systematische Einordnung des lauterkeitsrechtlichen Schutzes marktfunktionaler Verbraucherinteressen und ethischer Werte bei der primären Qualifikation
  • a) Zivil- und Handelssachen bei einzelnen Sanktionen durch private Organisationen und öffentliche Stellen
  • aa) Sanktionsmittel privater Verbraucherverbände
  • (1) Zivilrechtliche Unterlassungsklagen
  • (2) Zivilrechtliche Adhäsionsklagen
  • bb) Sanktionsmittel öffentlicher Stellen
  • (1) Zivilrechtliche Unterlassungsklagen
  • (2) Strafrechtliche Sanktionsmittel
  • (3) Verwaltungsrechtliche Sanktionsmittel
  • b) Eingriffsnormen im Bereich des lauterkeitsrechtlichen Verbraucherschutzes
  • aa) Lauterkeitsrechtlicher Schutz durch Eingriffsnormen
  • (1) Besonderes öffentliches Interesse am Schutz marktfunktionaler Verbraucherinteressen
  • (2) Besonderes öffentliches Interesse am Schutz ethischer Werte
  • bb) Eingriffsnormen einer ausländischen lex causae
  • 3. Binnenmarktfördernder Zweck der Vereinheitlichung des Lauterkeitskollisionsrechts
  • a) Sinnlosigkeit der Kollisionsrechtsvereinheitlichung aufgrund des bereits harmonisierten Sachrechts?
  • b) Binnenmarkthemmende Rechtsunsicherheit aufgrund der kollisionsrechtlichen Integration des lauterkeitsrechtlichen Schutzes ethischer Werte?
  • c) Binnenmarkthemmende Anwendungsprobleme bei der kollisionsrechtlichen Integration des lauterkeitsrechtlichen Schutzes von Verbraucherinteressen?
  • aa) Normenmangel
  • bb) Normenhäufung
  • 4. Zusammenfassung und Ergebnis: Internationalprivatrechtliche Unbedenklichkeit der „öffentlichen“ bzw. „kollektiven“ Sanktionierung
  • III. Eigenständigkeit der Sonderanknüpfung des europäischen internationalen Lauterkeitsrechts
  • Zusammenfassung und Ergebnisse
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

A. Einführung in das Thema

Die Grenzen von Staaten bilden nicht die Grenzen der Wirtschaft. Getragen von dem wachsenden Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien entfalten sich weltweit grenzüberschreitende Wirtschaftsräume. Vor allem das Internet wirkt als Katalysator. Zum einen bieten Unternehmen ihre Waren oder Dienstleistungen zunehmend nicht nur in ihrem Herkunftsstaat an. Immer häufiger werden Produkte grenzüberschreitend vermarktet. Zum anderen richten auch die Nachfrager den Blick immer häufiger in das Ausland. In einem Wirtschaftsraum konkurrieren damit Anbieter aus unterschiedlichen Staaten um Kunden, die ebenfalls in verschiedenen Staaten sitzen. Besonders das Gebiet der Europäischen Union entwickelt sich zu einem grenzüberschreitenden Wirtschaftsraum. Innerhalb der Union werden Handelshemmnisse abgebaut und der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen gefördert, um den europäischen Binnenmarkt weiterzuentwickeln.

Doch selbst dem weitgehend einheitlichen Wirtschaftsraum des europäischen Binnenmarktes entspricht kein einheitlicher Rechtsraum. Grundsätzlich regelt jeder Mitgliedstaat selbst, welchen rechtlichen Rahmen er wirtschaftlichem Handeln setzt. Dabei beschränkt er sich nicht auf privatrechtliche Vorschriften, etwa aus dem allgemeinen Vertrags- und Deliktsrecht sowie aus spezielleren Vorschriften des Kartell-, Lauterkeits-, Urheber- und Markenrechts; die Regelungen entstammen auch dem öffentlichen Recht, wie etwa dem Gewerbe-, Wirtschaftsverwaltungs-und Strafrecht. Diese Vorschriften unterscheiden sich von Rechtsordnung zu Rechtsordnung. Insbesondere lauterkeitsrechtliche Fragen sind in den Mitgliedstaaten trotz einzelner Angleichungsmaßnahmen wie der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken weiterhin verschiedenartig geregelt. Vor allem die Divergenzen zwischen den nationalen Rechtsordnungen rechtfertigen es, den einheitlichen Wirtschaftsraum in separate nationale Märkte zu zergliedern. Daher besteht auch der Binnenmarkt aus nationalen Teilmärkten.

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Überschreitet wirtschaftliches Handeln Staatsgrenzen, wird es nicht nur mit einer Vielzahl von Vorschriften lediglich einer, sondern mehrerer Rechtsordnungen konfrontiert. Um die Regelungshoheit konkurrieren insbesondere die Rechtsordnungen des Herkunfts- und des Marktstaates. Die Entscheidung darüber, welche Rechtsordnung auf welche Teilaspekte eines Falles anzuwenden ist, trifft das Kollisionsrecht (auch internationales Privatrecht genannt)1, welches im Staat des international zuständigen Gerichts herrscht. Diese Kollisionsrechte können sich unterscheiden und denselben Fallaspekt jeweils einer anderen Rechtsordnung zuweisen. Daraus resultiert die Gefahr einer Entscheidungsvielfalt, die besonders im europäischen Binnenmarkt droht, da dort in der Regel für denselben Fall Gerichte in unterschiedlichen Staaten international zuständig sind. Gemäß Art. 5 Nr. 3 EuGVO2 bestimmt die Tatortregel, dem Kläger bei unerlaubten Handlungen die Wahl zwischen den Gerichten am Handlungs- oder am Erfolgsort zu belassen3. Die Tatortregel gilt auch für Lauterkeitsdelikte. In jedem Fall steht dem Kläger nach Art. 2 Abs. 1 EuGVO daneben der allgemeine Gerichtsstand am Sitz des Beklagten offen. In der Folge können die international zuständigen Gerichte denselben Fall unter Zugrundelegung jeweils unterschiedlicher Kollisionsrechte nach unterschiedlichen Sachrechten unterschiedlich beurteilen.

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In der drohenden Entscheidungsvielfalt wurde ein Entwicklungshemmnis für den europäischen Binnenmarkt gesehen. Nachdem dem europäischen Gesetzgeber durch den Vertrag von Amsterdam4 in den Artt. 61 lit. c), 65 lit. b) alt. 1 EGV die Kompetenz zugewiesen wurde, unter bestimmten Voraussetzungen Maßnahmen auf dem Gebiet des Kollisionsrechts zu treffen, erließ dieser auf der Grundlage der neuen Kompetenz am 11. Juli 2007 die Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“)5 (siehe dazu Teil 1: A.: Entwicklung und travaux préparatoires). Zeitlich erfasst sie schadensbegründende Ereignisse ab dem 11. Januar 20096. Sachlich vereinheitlicht sie unter anderem das internationale Lauterkeitsrecht. Dazu bestimmt im Wesentlichen Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO, auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus unlauterem Wettbewerbsverhalten das Recht des Staates anzuwenden, in dessen Gebiet die Wettbewerbsbeziehungen oder die kollektiven Interessen der Verbraucher beeinträchtigt worden sind oder wahrscheinlich beeinträchtigt werden. Künftig entwickelt sich das Lauterkeitskollisionsrecht damit nur noch auf europäischer Ebene7 – es herrscht Kollisionsrechtseinheit.

Ob das Verhalten der Marktbeteiligten lauter ist, wird dagegen unverändert von nationalen Sachrechtsordnungen reguliert, die sich in großen Teilen fundamental unterscheiden können. Auf dem Gebiet des sogenannten Lauterkeitsrechts bzw. des Rechts gegen den unlauteren Wettbewerb gibt es keine einheitlichen Sachnormen, wie sie etwa die Wettbewerbsregeln nach den Art. 101 ff. AEUV (ex. Art. 81 ff. EGV) für das Kartellrecht zur Verfügung stellen. Der traditionelle Lauterkeitsschutz des horizontalen Wettbewerbsverhältnisses zwischen Mitbewerbern wurde vom europäischen Gesetzgeber bislang nicht ausgestaltet. Das Vertikalverhältnis zur Marktgegenseite und insbesondere zum Verbraucher ist lediglich in Teilen durch Richtlinien angeglichen. Sie überlassen den Mitgliedstaaten aber weitreichende Freiheiten im Bereich der Rechtsdurchsetzung. Demgemäß ist der Verbraucherschutz mal öffentlich-rechtlich geregelt und unterliegt der Aufsicht von Behörden, mal ist er dagegen Teil des zivilrechtlich ausgestalteten Lauterkeitsschutzes und kann auch von Mitbewerbern durchgesetzt werden – es herrscht Sachrechtsvielfalt.

B. Gang der Untersuchung

Die neue Kollisionsrechtseinheit provoziert eine Reihe grundlegender Fragen. Problematisch ist bereits, ob das neue Lauterkeitskollisionsrecht den Voraussetzungen der Kompetenzgrundlage genügt. Die Untersuchung dieser Frage bildet den ersten Hauptteil der vorliegenden Arbeit (siehe dazu Teil 1: B.: Gemeinschaftskompetenz zur Vereinheitlichung des internationalen Lauterkeitsrechts). Insbesondere ist dabei zu prüfen, inwieweit die Vereinheitlichung in Form der Anknüpfung an den Marktort unter der umfassenden Einbeziehung von Sachverhalten mit Drittstaatenbezug kompetenzgemäß den Binnenmarkt fördert. Dabei ist auch der Umgang mit dem sogenannten Herkunftslandprinzip zu klären.

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Zudem führt die Sachrechtsvielfalt, die das Kollisionsrecht erst notwendig macht, bei der Bildung von einheitlichen Anknüpfungsgegenständen zu einem Auslegungsproblem. Die Auslegung des Begriffs „unlauteres Wettbewerbsverhalten“ bildet den zweiten Hauptteil der vorliegenden Arbeit (siehe dazu Teil 2: Sachrechtsvielfalt und Anknüpfungsgegenstand). Der Gesetzgeber hat den Begriff des unlauteren Wettbewerbsverhaltens nicht definiert. Damit muss er von Wissenschaft und Rechtsprechung konkretisiert werden. Ist es bereits schwierig, innerhalb nur einer Rechtsordnung das Lauterkeitsrecht gegenüber benachbarten Rechtsgebieten abzugrenzen, vervielfachen sich die Probleme, wenn der einheitlichen Auslegung mehrere Rechtsordnungen mit jeweils unterschiedlichem Lauterkeitsverständnis zugrunde gelegt werden müssen. Das Dilemma besteht darin, dass einerseits die Kollisionsrechtsvereinheitlichung nur deswegen notwendig ist, weil sich die nationalen Sachrechte maßgeblich voneinander unterscheiden, andererseits gerade diese Unterschiede die funktionale Qualifikation auf der supranationalen Ebene erheblich erschweren8.

Die Auslegung erfolgt in drei Schritten. Zunächst wird abstrakt geklärt, was als Gegenstand der Qualifikation unter den kollisionsrechtlichen Begriff des unlauteren Wettbewerbsverhaltens subsumiert wird und ob als einheitlicher Auslegungsmaßstab möglicherweise eine Qualifikationsverweisung auf die lex fori oder die lex causae ausreichend und angemessen ist (siehe dazu Teil 2: A.: Qualifikation). Danach wird rechtsvergleichend die sachrechtliche Bedeutung des Lauterkeitsbegriffs dargestellt und aus den lauterkeitsrechtlichen Teilen internationaler, europäischer und nationaler Sachrechte ein unionsautonomes Referenzmodell vom Lauterkeitsrecht gebildet (siehe dazu Teil 2: B.: Unlauteres Wettbewerbsverhalten in vielfältigen Sachrechten). Dabei ist besonders die Identifikationsproblematik bei der Isolierung der lauterkeitsrechtlichen Teile der jeweiligen Sachrechtsordnungen zu beachten, da sich ein unionsautonomes Bild vom Lauterkeitsrecht nur aus denjenigen Vorschriften ergeben kann, die nach einem unionsautonomen Verständnis einen lauterkeitsrechtlichen Gehalt aufweisen.

In einem dritten Schritt wird der Begriffsinhalt schließlich für die Ebene des Kollisionsrechts erschlossen (siehe dazu Teil 2: C.: Unlauteres Wettbewerbsverhalten im einheitlichen Kollisionsrecht). Vor dem Hintergrund der Sachrechtsvielfalt wird das Selbstverständnis der herrschenden Meinung kritisch untersucht, die der Auslegung des Anknüpfungsgegenstandes eine Schutzzwecktrias unter Einschluss des Verbraucherschutzes zugrundelegt. Dabei ist besonders auf Konflikte einzugehen, die sich aus dem sachrechtlichen Nebeneinander von hoheitlichen und privatrechtlichen Sanktionsmitteln ergeben können.

Mit den Begriffen Binnenmarkt, Kollisionsrecht und Lauterkeitsrecht sind die relevanten Problemfelder schlagwortartig benannt. Sie entstammen unterschiedlichen Rechtsgebieten und werden wissenschaftlich aus unterschiedlichen Blickwinkeln gewürdigt. Bei der Untersuchung des internationalen Lauterkeitsrechts nach Art. 6 Rom II-VO spielen sie jedoch alle eine tragende Rolle. Bereits vor über 20 Jahren bemerkte Remien zum europäischen Kollisionsrecht treffend: „Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht kann man nicht mehr nur als Rechtsvergleicher, Europarechtler, Kollisionsrechtler oder Privat- und Wirtschaftsrechtler betreiben, alle diese Eigenschaften müssen zusammenkommen. Einfacher macht dies die Dinge indes nicht.“9 Die nachfolgende Untersuchung muss Schwerpunkte setzten. Sie nähert sich der Problemballung aus der Perspektive des internationalen Privatrechts und der Rechtsvergleichung.


1 Vergl. zum Begriff Kropholler, IPR, § 1 I; von Hoffmann/Thorn u. a., IPR, § 1 Rn. 34.

2 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 12/1 v. 16.1.2001.

3 EuGH v. 30.11.1976, Rs. C-21/76 (Handelskwekerij G. J. Bier v. Mines de Potasse), Slg. 1976, 1735.

4 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, ABl. C 340/1 v. 11.7.1997, in Kraft getreten am 1.5.1999.

5 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“), ABl. L 199/40 v. 31.7.2007.

6 Der Beginn des zeitlichen Anwendungsbereiches wurde wegen redaktioneller Unstimmigkeiten zwischen Art. 31 und 32 Rom II-VO von Teilen der Literatur bereits auf den zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt und damit auf den 20. August 2007 gelegt; vergl. zur Diskussion Dickinson, Rome II, Rn. 3.315 ff.; Dickinson, Temporal Application; Bücken, IPRax 2009, 125 ff.; Glöckner, IPRax 2009, 121 ff.; von Hein, ZEuP 2009, 6, 10 f.; Schulze, IPRax 2011, 287 f.; der EuGH hat nunmehr nach einem Vorlagebeschluss des englischen High Court (Homawoo v GMF Assurance SA & Ors [2010] EWHC 1941 (QB)) in Übereinstimmung mit den Schlussanträgen des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 6.9.2011 (Rs. C-412/10 (Homawoo), noch nicht in Slg.) entschieden, dass die Verordnung erst auf schadensbegründende Ereignisse anzuwenden sei, die ab dem 11. Januar 2009 eingetreten sind, EuGH v. 17.11.2011, Rs. 412/10 (Homawoo); EuZW 2012, 35 ff., noch nicht in Slg.

7 Vergl. Wagner, G., IPRax 2008, 1 („damit bricht eine neue Zeit an“).

8 Sonnenberger, in: FS Kropholler, S. 240.

9 Remien, RabelsZ 62 (1998), 627, 628.

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Teil I: Kollisionsrechtseinheit im Binnenmarkt

Die Rom II-VO vereinheitlicht das Kollisionsrecht nicht nur im, sondern insbesondere auch für den Binnenmarkt. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit das internationale Lauterkeitsrecht nach Art. 6 Rom II-VO dem Binnenmarkt gerecht wird. Begonnen wird mit einem Blick auf die historische Entwicklung der Sonderkollisionsnorm in ihrem sachlichen Kontext, um ein grundlegendes Bild vom europäischen Lauterkeitskollisionsrecht zu gewinnen (A). Zum relevanten Kontext gehören insbesondere die Überlegungen, die zum Grundkonzept der gesamten Verordnung geführt haben, sowie die Vorstellungen der beteiligten Kreise zum Umgang mit dem Herkunftslandprinzip und Streudelikten. Das Resultat muss auf einer ausreichend breiten Gemeinschaftskompetenz ruhen (B).

A. Entwicklung und travaux préparatoires

I. Historische Ausgangslage der Vereinheitlichung des internationalen Privatrechts im Binnenmarkt

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Die Wurzeln der Rom II-VO lassen sich bis in das Jahr 1967 zurückverfolgen10. Damals verhandelten die Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf der Grundlage des damaligen Art. 220 EWG11 ein Übereinkommen, um untereinander in Zivil- und Handelssachen die gerichtlichen Zuständigkeiten zu vereinheitlichen und die grenzüberschreitende Vollstreckung richterlicher Entscheidungen zu vereinfachen. Die Verhandlungen führten zum Übereinkommen von Brüssel (EuGVÜ)12, dessen Regelungen nunmehr in der EuGVO13 (auch Brüssel I-VO genannt14) fortbestehen. Zwar war das Kollisionsrecht kein Gegenstand der damaligen Verhandlungen, was auch nicht verwundert, da Art. 220 EWG das Kollisionsrecht nicht aufführte15; die Regierungen Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs vertraten aber bereits damals die Auffassung, dass auch das Kollisionsrecht dringend zu harmonisieren sei16. Am 8. September 1967 forderte daher Joseph Van Der Meulen als Ständiger Vertreter Belgiens die Kommission im Namen der Beneluxstaaten auf, das Kollisionsrecht in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu vereinheitlichen17.

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In der Folge ließ die Kommission18 durch eine Gruppe von Regierungssachverständigen untersuchen, welche Auswirkungen die Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Kollisionsrechte hätte. Naheliegend ergab sich vor allem ein Vorteil: der Gewinn an Rechtssicherheit19. Solange das Kollisionsrecht nicht vereinheitlicht sei20, hinge der Ausgang eines Rechtsstreits davon ab, bei welchem Gericht ihn die Parteien anhängig machen. Verschiedene Gerichte würden ihren jeweiligen unterschiedlichen Kollisionsregeln zu unterschiedlichen Sachrechten folgend denselben Rechtsstreit unterschiedlich entscheiden. Das Übereinkommen von Brüssel vereinheitliche zwar die Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit, lasse dabei aber in vielen Fällen die Parteien das Gericht und insoweit auch das anwendbare Kollisionsrecht frei wählen21. Der Ausgang eines Rechtsstreits könne aber nicht von dieser Wahl abhängen; ein Forum-Shopping sei zu verhindern22. Die Kollisionsrechtsharmonisierung sei bereits aus diesem Grund die „natürliche Fortsetzung“ des Übereinkommens von Brüssel23. Daneben komme hinzu, dass das Übereinkommen von Brüssel neben der Zuständigkeit auch die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen zwischen den Vertragsstaaten sichere24, so dass Urteile auch zur Gewährleistung ihrer Anerkennung nach möglichst einheitlichen (Kollisions)-regeln getroffen werden sollten25. Diese Kernargumente für eine europäische Vereinheitlichung des Kollisionsrechts wurden im späteren Entwicklungsverlauf aufgegriffen und immer wieder angeführt26.

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Begonnen werden sollte die Harmonisierung mit den wirtschaftlich wichtigsten Bereichen des Kollisionsrechts; mit denen, die man als besonders wichtig für das gute Funktionieren des gemeinsamen Marktes erachtete, bei denen „die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsordnungen und das Fehlen einheitlicher Kollisionsnormen den Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten ohne jeden Zweifel beeinträchtigen“27. Zu diesen Bereichen wurden insbesondere das Kollisionsrecht der körperlichen und unkörperlichen Gegenstände, das der vertraglichen und außervertraglichen Schuldverhältnisse sowie das der Form von Rechtsgeschäften und des Beweises gezählt. Hier sollte das Kollisionsrecht der Mitgliedstaaten in einem Übereinkommen mit universellem Geltungsbereich vollständig vereinheitlicht werden28.

Die Gruppe der Regierungssachverständigen konzentrierte sich zunächst auf den Bereich der vertraglichen und außervertraglichen Schuldverhältnisse. Hierfür formulierte sie einen ersten Vorentwurf eines Übereinkommens, den die Kommission 1972 veröffentlichte29. Umgesetzt wurde der Vorentwurf nicht. 1973 traten den Europäischen Gemeinschaften im Zuge der Norderweiterung das Vereinigte Königreich, Dänemark und Irland bei. Die neuen Mitgliedstaaten entsandten jeweils ihre Regierungssachverständigen in die Gruppe. Sie benötigten Zeit, um den Vorentwurf in ihren Regierungen und interessierten Kreisen zu beraten. Im März 1978 beschloss die Gruppe, das Übereinkommen „aus Zeitgründen“ ausschließlich auf vertragliche Schuldverhältnisse zu beschränken und zunächst diesen Teil fertig zu stellen30. Das Ergebnis ist das Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (EVÜ), aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 im Rom31. Das Projekt zur Harmonisierung des Kollisionsrechts der außervertraglichen Schuldverhältnisse ruhte derweil.

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Hinsichtlich des außervertraglichen Teils wurde das Verheinheitlichungsvorhaben erst mit der Vergemeinschaftung der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen durch den Vertrag von Amsterdam32 wieder aufgenommen. Erst der Vertrag von Amsterdam schuf mit seinem Inkrafttreten am 1. Mai 1999 mit den Artt. 61 lit. c), 65 lit. b) alt. 1 EGV die Gemeinschaftskompetenz für Maßnahmen im internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht33, indem er die Materie aus der zwischenstaatlichen dritten Säule der EU34 in einen Titel IV des dritten Teils des EGV („Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr“) in die Gemeinschaftspolitik überführte35. Bereits die Aussicht auf die Kompetenz motivierte den Rat der Europäischen Union. Ohne das Inkrafttreten abzuwarten, einigte man sich unter der österreichischen EU-Präsidentschaft im Rat kurz nach der Unterzeichnung des Vertrages von Amterdam auf eine Entschließung, die die „Aufnahme der Beratungen über die Erforderlichkeit und die Möglichkeit der Ausarbeitung eines Übereinkommens über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II)“ vorsah36. Ein knappes Jahr später folgte der Wiener Aktionsplan des Europäischen Rates (Justiz und Inneres) und der Kommission, der festlegte, wie die neuen Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags über den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bestmöglich umzusetzen seien37. Gemäß dem Aktionsplan sollte binnen zweier Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam ein Rechtsakt „betreffend das auf die außervertraglichen Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II)“ erstellt werden38. Das Ziel wurde erst wesentlich später erreicht.

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II. Divergierende Lösungsvorschläge für das internationale Lauterkeitsrecht

Die Rom II-VO entwickelte sich über eine Reihe von Entwürfen39, die in der rechtswissenschaftlichen Literatur und von den betroffenen Wirtschaftskreisen intensiv diskutiert wurden. Auf den ersten Vorentwurf der Gruppe der Regierungssachverständigen von 197240 folgten:

- der Entwurf der Group européen de droit international privé (GEDIP) von 199841,

- ein früher interner Ratsentwurf von 199942,

- der Vorentwurf der Kommission von 200243,

- der offiziell das Rechtsetzungsverfahren einleitende44 Vorschlag der Kommission von 200345,

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- der nach einem Bericht des Rechtsausschusses unter der Berichterstatterin Diana Wallis46 umfassend abweichende47 Alternativvorschlag des Europäischen Parlaments von 200548,

- der auf ihrem ursprünglichen Konzept verweilende49 Vorschlag der Kommission von 200650,

- der größtenteils auf dem Konzept der Kommission beruhende51 Gemeinsame Standpunkt des Rates von 200652

- sowie schließlich der im Vermittlungsausschuss erzielte Kompromiss von 200753.

Die Entwürfe machen Lösungsvorschläge, die allgemein für das internationale Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse und speziell für das internationale Lauterkeitsrecht inhaltlich teilweise grundlegend divergieren. So war insbesondere das formelle Gesetzgebungsverfahren zwischen den Jahren 2003 und 2007 durch eine Kontoverse geprägt, die vor allem zwischen der Kommission und dem Rat auf der einen und dem Parlament auf der anderen Seite ausgetragen wurde54. Für das Lauterkeitskollisionsrecht wesentlich von Bedeutung sind die besonders umstrittenen Standpunkte zum strukturellen Grundkonzept der Anknüpfungsregeln (1), zum Beitrag der Verordnung für die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes und zur Berücksichtigung des Herkunftslandprinzips (2) sowie zur Schaffung von Sonderanknüpfungen für Streudelikte (3) und unlauteres Wettbewerbsverhalten (4).

1. Grundkonzept der Anknüpfungsregeln
←37 | 38→

Umstritten war bereits das strukturelle Grundkonzept der Verordnung. Im Verlauf der Entwicklung kristallisierten sich früh zwei grundsätzlich unterschiedliche Ansichten zur Offenheit der kollisionsrechtlichen Anknüpfung und dem dabei zu gewährenden Ermessensspielraum heraus55. Die Vorschläge unterschieden sich danach, ob und inwieweit das Kollisionsrecht der Verordnung der traditionellen IPR-Methode im klassischen Verständnis Savignys56 entsprechen oder sich statt dessen an modernen anglo-amerikanischen Ansätzen orientieren sollte wie etwa dem „policy weighting“ des Restatement Second57.

Dem klassischen Verständnis entspricht es, nach rein internationalprivatrechtlichen Kriterien unbeeinflusst von materiellrechtlichen Erwägungen die räumlich angemessenste Sachrechtsordnung zu wählen, was im Interesse der Vorhersehbarkeit in einer festen Grundanknüpfung konkret normiert wird, von der lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen abgewichen werden darf. Daneben bestehen spezielle Kollisionsnormen für besondere Deliktstypen. Dem folgten nicht nur der erste Vorentwurf der Sachverständigengruppe von 1972, sondern vor allem die Vorschläge von Kommission und Rat58. Gemäß der Grundanknüpfung sollten deliktische Schuldverhältnisse an den Erfolgsort und ausnahmsweise den Ort des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts angeknüpft werden, wobei auf einen anderen Ort mit wesentlich engerer Verbindung ausgewichen werden konnte, insbesondere bei einem bereits bestehenden Rechtsverhältnis zwischen den Parteien. Speziell Lauterkeitsdelikte sollten an den Marktort angeknüpft werden.

←38 | 39→

Das moderne Konzept erhebt dagegen lediglich abstrakt die „engste Verbindung“ zum wesentlichen Anknüpfungsmerkmal, um eine ausreichende Flexibilität im Einzelfall zu gewährleisten, wobei die engste Verbindung für bestimmte Fälle durch – teilweise ebenfalls sehr abstrakte – Vermutungen konkretisiert wird. Diesen Ansatz verfolgte bereits die GEDIP, die von der Kommission zu einer Studie für ein Übereinkommen59 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht angeregt worden war60. Deren Vorschlag lehnte sich an das Anknüpfungssystem für vertragliche Schuldverhältnisse unter dem EVÜ an61. Darin diente das Prinzip der engsten Verbindung („les liens les plus étroit“) als wesentliche Grundanknüpfung. Das Prinzip wurde bei deliktischen Schuldverhältnissen durch widerlegbare Vermutungen62 zugunsten des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsorts oder des Tatortes konkretisiert. Zudem wurden spezielle Vermutungen für spezielle Deliktstypen aufgestellt. Neben Verletzungen des Persönlichkeitsrechts und der Umwelt gehörte dazu unlauterer Wettbewerb („concurrence déloyale“). In den Fällen unlauteren Wettbewerbs wurde vermutet, dass das Schuldverhältnis mit dem Ort am engsten verbunden sei, an dem der betroffene Markt sich befindet („le pays dont le marché est concerné“). Im Gesetzgebungsverfahren bevorzugte auch das Europäische Parlament eine flexible Kodifikation nach dem Prinzip der engsten Verbindung63. Der Parlamentsentwurf nannte nach US-amerikanischem Vorbild64 eine Reihe von weiteren Gesichtspunkten, die abschließend eine offensichtlich engere Verbindung begründen. Dazu zählten nicht nur der gemeinsame gewöhnliche Aufenthaltsort und ein bereits zwischen den Parteien bestehendes Verhältnis, sondern auch teils vage65 oder sachrechtspolitische66 Kriterien wie „das Erfordernis der Sicherheit, Vorhersehbarkeit und Einheitlichkeit des Ergebnisses“, „der Schutz legitimer Erwartungen“ und „die dem anzuwendenden ausländischen Recht zugrunde liegende Politik und die Konsequenzen der Anwendung dieses Rechts“67. Insbesondere Fälle des unlauteren Wettbewerbs sollten darunter fallen.

Die Entscheidung zwischen beiden Konzepten wirkt sich vor allem darauf aus, wie flexibel die Anwendung im Einzelfall sein kann (a) und inwieweit neben den reinen internationalprivatrechtlichen Interessen andere Schutzanliegen berücksichtigt werden können (b).

a) Flexibilität der Anknüpfungsregeln
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Beide Konzepte stehen exemplarisch für das unterschiedliche Maß der notwendigen Flexibilität bei der Anknüpfung im Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit68. Das traditionelle System fester Kollisionsregeln konkretisiert die Anknüpfungsmerkmale für eine Reihe von Anknüpfungsgegenständen; dagegen überlässt das moderne Konzept die Präzisierung der engsten Verbindung weitgehend dem Rechtsanwender im Einzelfall.

Eine Entscheidung zwischen beiden Methoden kann nur nach Abwägung ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile getroffen werden. Für ein offenes Anknüpfungskonzept spricht zunächst eine Reihe guter Gründe. Vor allem ermöglicht es ein hohes Maß an Gerechtigkeit auch im Einzelfall. Deswegen feierten Teile der Literatur insbesondere den Vorschlag der GEDIP als ein Meisterstück europäischer Kollisionsrechtsschöpfung69. Der Vorschlag sei „elegant, durchdacht und flexibel“70 und balanciere insbesondere das Verhältnis zwischen Anpassungsfähigkeit und Rechtssicherheit beinahe perfekt aus71. Starre Anknüpfungszwänge können demgegenüber im Einzelfall zu unpassenden Ergebnissen führen. Teilweise werden darin Hemmnisse für den Binnenmarkt gesehen, die dem grenzüberschreitenden Handel sogar mehr schadeten als eine angeblich hinzunehmende Rechtsunsicherheit72. Daneben bieten flexible Anknüpfungsmöglichkeiten auch andere Vorteile. Sie verringern die Möglichkeit zur Manipulation der für die Anknüpfungsmerkmale relevanten faktischen Gegebenheiten und können den Opferschutz stärken, der gerade bei Aufgabe des Ubiquitätsprinzips geschwächt wird73. In der Praxis können flexible Anknüpfungsmöglichkeiten sogar zu mehr Rechtssicherheit führen als starre Regelungen74. Denn durch die von vornherein bestehende Flexibilität wird verhindert, dass Gerichte im Einzelfall rechtsschöpfend tätig werden, um unerträgliche Ergebnisse zu vermeiden, die bei sturer Befolgung der starren Regel auftreten können75.

←40 | 41→

Das System einer festen Grundanknüpfung, der im Interesse sachgerechter Ergebnisse für spezielle Deliktstypen spezielle Anknüpfungen zur Seite gestellt werden, führt zudem nicht automatisch zu mehr Rechtssicherheit. Denn dabei muss geklärt werden, welche Delikte unter die Sonderanknüpfungen fallen und wie die einzelnen Sonderanknüpfungen voneinander abzugrenzen sind76. Das gilt erst recht bei einer Verordnung, die autonom auszulegen ist, bei der aufgrund ihrer Neuheit jedoch auf wenig Erkenntnisse zurückgegriffen werden kann, die insoweit Sicherheit und Orientierung bieten könnten. Insbesondere mit Blick auf den Begriff des unlauteren Wettbewerbsverhaltens erscheint fraglich, ob der Anknüpfungsgegenstand mit der notwendigen Sicherheit definiert werden kann77. Eine offene und flexible Regelung würde zumindest das Qualifikationsproblem entschärfen.

Bei der Anwendung von offenen Vermutungsregeln ändert sich dagegen an der Beurteilung der eigentlichen Abgrenzungsprobleme nichts78. Eine flexible Regelung löst das Qualifikationsproblem nicht, sondern verlagert es lediglich auf den Rechtsanwender. Denn selbst wenn auf ausdrücklich ausformulierte Sonderregeln verzichtet wird, müssten die sachgerechten Sonderanknüpfungen für Sonderdelikte eben im Rahmen der offenen Ausweichklausel gegen die allgemeine Erfolgsortanknüpfung durchgesetzt werden79. Insbesondere weisen die speziellen Fälle der Lauterkeitsdelikte kollisionsrechtlich Besonderheiten auf, die bei der Anknüpfung zu würdigen sind. Diese Abgrenzungsarbeit kann der Gesetzgeber selbst vornehmen, indem er die Sonderregeln für spezielle Deliktstypen von vornherein ausformuliert80. Die Schematisierung ist kein besonderes Problem des Kollisionsrechts; es stellt sich in der gesamten Rechtsordnung81. Auch methodisch ist es nicht einsichtig, warum eine Ausweichklausel, die ihrer Natur nach gerade für besondere Ausnahmefälle konzipiert ist, im Gegensatz dazu eine ganze Reihe von speziellen, aber dennoch standardisierbaren Deliktstypen fassen soll82.

←41 | 42→

Im Ergebnis hat man sich daher zu Recht nicht an den offenen angloamerikanischen Ansätzen orientiert83. Dort führte der Ansatz selbst bei der gemeinsamen Grundlage des Common Law zu einem kollisionsrechtlichen Chaos84. Bereits die Kommission erkannte, dass die in Europa angestrebte Rechtssicherheit damit nicht erreicht worden wäre85. In rechtskultureller Hinsicht stehen sich die Mitgliedstaaten noch wesentlich ferner als die Gliedstaaten der USA86. Das vorrangige Ziel der Rom II-VO besteht jedoch gerade darin, das Funktionieren des Binnenmarktes durch mehr Rechtssicherheit zu verbessern. Rechtssicherheit wird mit einer Verordnung, die in vielen unterschiedlichen Rechtsordnungen angewendet wird, jedoch nur dann geschaffen, wenn bereits der Gesetzgeber möglichst detaillierte Regelungen aufstellt und die notwendige Konkretisierung im Einzelfall nicht dem unterschiedlich geprägten Rechtsanwender überlässt. Auch der EuGH hätte wegen der Restriktion des Vorlageverfahrens gemäß Art. 68 Abs. 1 EGV87 sowie allgemein der Langwierigkeit von Vorabentscheidungsverfahren allenfalls in ferner Zukunft für Klärung sorgen können88. Insoweit muss es begrüßt werden, wenn sich letztendlich das System der festen Grundanknüpfungen durchgesetzt hat89. Das wird sogar von den Anhängern des offenen Anknüpfungskonzepts eingeräumt90. Auch das Parlament akzeptierte schließlich im Vermittlungsverfahren eine feste Grundanknüpfung mit Ausnahme- und Ausweichmöglichkeit91 in dem ←42 | 43→ Wortlaut, wie er sich letztendlich in Art. 4 Rom II-VO niedergeschlagen hat92. Im Rahmen der allgemeinen Ausweichklausel bleibt in begrenzten Ausnahmefällen93 genügend Spielraum, um von der Grundanknüpfung abzuweichen94. Damit kann dem Bedürfnis nach einer angemessenen Einzelfallbehandlung Rechnung getragen werden, ohne das Ziel der Verordnung zu konterkarieren, der Praxis im Interesse der Rechtssicherheit präzise Rechtsanwendungsregeln zu überlassen95.

b) Internationalprivatrechtliche Interessen und besondere Schutzanliegen

Die Offenheit der Anknüpfung betrifft nicht nur das Verhältnis von Flexibilität und Einzelfallgerechtigkeit, sondern daneben auch die Frage, inwieweit neben den reinen internationalprivatrechtlichen Interessen auch andere Erwägungen bei der Anknüpfung eine Rolle spielen dürfen96. Gerade die sehr offenen Vermutungsregeln („Ermessensleitlinien“97, bloße „Approaches“98) zur Konkretisierung der „engsten Verbindung“, zu denen nach den Vorstellungen des Parlaments auch äußerst abstrakte Gesichtspunkte gehören sollten, würden es dem Rechtsanwender ermöglichen, in die argumentative Abwägung für oder gegen die Anwendung einer bestimmten Rechtsordnung neben die reinen kollisionsrechtlichen Interessen auch solche materiellrechtlicher Art zu stellen und damit nicht nur die räumlich, sondern auch die sachlich „beste“ Norm zu wählen99.

←43 | 44→

Der Gesetzgeber hat sich jedoch bewusst gegen den „better-law“ approach entschieden: weder die Politik, die dem anzuwendenden nationalen Recht zugrunde liegt, noch die Konsequenzen seiner Anwendung sollen kollisionsrechtlich von Relevanz sein100. Wurde eine entsprechende Regelung vom Parlament noch ausdrücklich vorgeschlagen101, ist sie von Kommission102 und Rat103 abgelehnt worden, was vom Parlament letztendlich akzeptiert wurde104.

Damit entspricht die Rom II-VO dem klassischen Verständnis vom Kollisionsrecht und ruht insoweit auf einer den Mitgliedstaaten gemeinsamen europäischen Tradition105, wie sie von Savigny begründet worden war106. Insbesondere wird deutlich, dass die „ratio legis principalis“107 des Anknüpfungssystems weiterhin im Prinzip der engsten Verbindung liegt, welches auch die Spezialanknüpfungen als typisierte engste Verbindungen repräsentieren108. Dem anwendbaren Sachrecht gegenüber verhält sich die Anknüpfung neutral. Bis auf wenige Ausnahmevorschriften109 soll nicht auf das materiell-inhaltlich beste, sondern auf das in räumlich-funktionaler Hinsicht angemessenste Recht abgezielt werden110. In diesem Bestreben folgt die Rom II-VO auch der Leitidee vom internationalen Entscheidungseinklang111.

←44 | 45→
2. Berücksichtigung des Herkunftslandprinzips

Mit dem sogenannten Herkunftslandprinzip112 wurde in unterschiedlicher Ausgestaltung mehrfach versucht, innerhalb der Union den grenzüberschreitenden Handel zu fördern und damit den Binnenmarkt weiterzuentwickeln. Ausgangspunkt war immer die Zielsetzung der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit: Gemäß der Rechtsprechung des EuGH113 sollen die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellten und in Verkehr gebrachten Produkte in alle anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden können, auch wenn dadurch Vorschriften im Bestimmungsland verletzt werden114. Dementsprechend wurde versucht, binnenmarkthemmende Vorschriften des Bestimmungslandes (nicht nur öffentlich-rechtlicher, sondern auch privatrechtlicher Natur) durch die Regelungen des Herkunftslandes zu überlagern. Dabei wurde das Herkunftslandprinzip teilweise direkt aus den Produktfreiheiten abgeleitet, überwiegend jedoch lediglich in bestimmten Sekundärrechtsakten gesehen. Umstritten ist vor allem die genaue Wirkungsweise der unter dem Stichwort „Herkunftslandprinzip“ diskutierten Instrumente. Der gewünschte „Überlagerungseffekt“ wird in Abstufungen als vollständige kollisionsrechtliche Verdrängung des Bestimmungslandrechts bis hin zu lediglich dessen sachrechtlicher Anpassung an das Herkunftslandrecht im Einzelfall interpretiert. Nach der Darstellung der Sekundärrechtsakte, die bereits vor der Rom II-VO das Herkunftslandprinzip etablierten (a), werden die Vorschläge beschrieben, die im Rahmen der Rom II-VO zum Umgang mit dem Herkunftslandprinzip gemacht worden sind (b). Das Verhältnis des Herkunftslandprinzips zur Marktortanknüpfung wird weiter unten bei der Untersuchung der Binnenmarktfunktionalität der Rom II-VO untersucht115.

a) Herkunftslandprinzip außerhalb der Rom II-VO
←45 | 46→

Im Sekundärrecht wurde das Herkunftslandprinzip in einzelnen zivilrechtlichen Bereichen jeweils unterschiedlich ausgeformt116. Im Detail unterscheiden sich die Ausformungen vor allem in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich, der auf jeweils unterschiedliche Produkte beziehungsweise Medien sowie Rechtsgebiete beschränkt ist. Am weitesten geht insoweit das Herkunftslandprinzip der Richtlinie 2000/31/EG über den elektronischen Geschäftsverkehr117. Es erfasst im Grundsatz jede zivil-, öffentlich- und strafrechtliche Regelung118, die die Online-Tätigkeit berührt119. Damit wirkt es sich insbesondere auf das Gebiet des Lauterkeitsrechts aus120. Gemeinsam ist den sekundärrechtlichen Ausformungen des Herkunftslandprinzips121 dagegen im Wesentlichen der Regelungsgehalt122. Aus Perspektive der Mitgliedstaaten sind zwei Regeln typisch: Erstens kontrolliert jeder Mitgliedstaat die bei ihm niedergelassenen Anbieter selbst anhand seines eigenen Sachrechts. Zweitens darf er Anbieter aus anderen Mitgliedstaaten nicht in der ihnen jeweils garantierten Verkehrsfreiheit beschränken, weswegen Importverbote unzulässig sind. Aus Sicht der Anbieter ist damit sichergestellt, dass ihre Tätigkeit im Anwendungsbereich des Herkunftslandprinzips ausschließlich dem Recht des Herkunftslands unterliegt.

←46 | 47→

Da der Regelungsgehalt darin liegt, einen Sachverhalt nach räumlichen Kriterien einer bestimmten Rechtsordnung zuzuordnen, scheint auf den ersten Blick eine Regel des Kollisionsrechts vorzuliegen123. Dennoch ist es insbesondere hinsichtlich der Richtlinie 2000/31/EG über den elektronischen Geschäftsverkehr höchst umstritten, ob und wie der Verweis auf die Rechtsordnung des Herkunftslandes kollisions- oder sachrechtlich gestaltet ist124. Entsprechend unterschiedlich wurde er in den nationalen Rechtsordnungen umgesetzt125. Während die eine Ansicht im Herkunftslandprinzip des Art. 3 Richtlinie 2000/31/EG in unterschiedlichen Schattierungen126 eine Kollisionsnorm erblickt127, wirkt es nach der Gegenansicht lediglich auf der Ebene des Sachrechts, indem es das kollisionsrechtlich anwendbare Recht des Bestimmungslandes immer dann beschränkt, wenn es strenger als das Recht des Herkunftslandes ist128. Nach einem Vorabentscheidungsersuchen durch den BGH129 hat der EuGH nunmehr die kollisionsrechtliche Interpretation des Herkunftslandprinzips zurückgewiesen130. Art. 3 Richtlinie 2000/31/EG untersage es den Mitgliedstaaten lediglich, den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft einzuschränken und verlange keine Umsetzungen in Form einer speziellen Kollisionsregel.

b) Herkunftslandprinzip in der Rom II-VO
←47 | 48→

Über die Berücksichtigung des Herkunftslandprinzips im Rahmen der Rom II-VO gingen die Wünsche auseinander. Insbesondere die Vertreter der Wirtschaft richteten bereits früh Bedenken gegen die allgemeine Anknüpfung an den Erfolgsort131 und sprachen sich stattdessen für die Hinwendung der Rom II-VO zu einem kollisionsrechtlichen Herkunftslandprinzip aus132. Innerhalb der Kommission war es zwischen den Generaldirektionen heftig umstritten, wie und ob die Verordnung das Herkunftslandprinzip berücksichtigen solle133. In der Literatur wurde die Grundanknüpfung an den Erfolgsort allgemein begrüßt134 und nahezu135 einhellig ←48 | 49→ der Standpunkt vertreten, auf der kollisionsrechtlichen Ebene die traditionelle Anknüpfung an die engste Verbindung nicht durch ein rechtspolitisch fragwürdiges136 und rechtsdogmatisch unklares Herkunftslandprinzip zu beeinflussen137.

Alle konkreten Vorschläge für eine Rom II-VO gingen auf Ebene des Kollisionsrechts entsprechend dem Grundkonzept vordergründig von der traditionellen Bestimmung der engsten Verbindung und damit grundsätzlichen Geltung des Bestimmungslandprinzips aus und knüpften demgemäß zum Beispiel an den Erfolgsort oder den Marktort an. Die Bestimmungslandanknüpfung an den Marktort ist jedoch nicht nur das Gegenteil einer kollisionsrechtlichen Herkunftslandanknüpfung138, sondern widerspricht zumindest faktisch auch einer sachrechtlichen Berücksichtigung des Herkunftslandrechts139. Damit entstand zwischen der traditionellen Ausgestaltung des Kollisionsrechts der Rom II-VO und dem binnenmarktfunktionalen Herkunftslandprinzip ein Spannungsverhältnis. Die Spannung wurde zwar gesehen, aber nicht zufriedenstellend aufgelöst. Versucht wurde die Klärung des Verhältnisses zwischen Kollisionsrecht und Herkunftslandprinzip, indem letzterem versteckt über eine Vorrangregelung ein Vorrang vor dem Kollisionsrecht zugestanden und insoweit eine gewisse Geltung verliehen wurde140. Zwar unterschieden sich die Vorschläge für eine Vorrangregelung in ihrem Wortlaut und ihrer systematischen Einbettung in die Rom II-VO. Sie glichen sich jedoch darin, dass die Art des Vorrangs und seine Wirkungsweise immer unklar blieben. Keine der Vorrangregelungen benannte das Herkunftslandprinzip als Kollisionsnorm, sondern beschränkte sich entsprechend der unklaren Rechtsnatur des Herkunftslandprinzips vorsichtig auf unbestimmte Umschreibungen141.

←49 | 50→

Im Verlauf der Entwicklung der Rom II-VO wurde das Herkunftslandprinzip immer weiter zurückgedrängt. Den weitestgehenden Geltungsanspruch billigten dem Herkunftslandprinzip sowohl der Vorentwurf142 als auch der Vorschlag der Kommission von 2003143 zu. Die Vorschläge gingen zwar grundsätzlich vom traditionellen Bestimmungslandprinzip aus, bevorzugten aber zumindest für bestimmte Bereiche ein wohl kollisionsrechtlich zu verstehendes Herkunftslandprinzip. Danach sollten von der Verordnung unberührt bleiben: „Gemeinschaftsrechtsakte für besondere Bereiche, die in dem jeweils koordinierten Bereich die Erbringung von Dienstleistungen und die Lieferung von Waren den nationalen Bestimmungen unterwerfen, die im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats anwendbar sind, in dem der Dienstleistende niedergelassen ist, und die in dem koordinierten Bereich eine Beschränkung des freien Verkehrs von Dienstleistungen und Waren aus einem anderen Mitgliedstaat gegebenenfalls nur unter bestimmten Bedingungen erlauben.“144 Für weitere Einzelheiten und zur Erläuterung wurde auf die binnenmarktspezifischen Grundsätze der „gegenseitigen Anerkennung“ und der „Herkunftslandkontrolle“ verwiesen145. Dennoch wurde die Regelung zum Verhältnis zwischen den Kollisionsregeln der Rom II-VO und dem Herkunftslandprinzip als unklar kritisiert146.

Auch das Parlament bevorzugte zunächst einen Vorrang des Herkunftslandprinzips vor dem Bestimmungslandprinzip. Es formulierte den Vorrang zwar breiter und beschränkte ihn nicht mehr auf Waren und Dienstleistungen, beanspruchte aber auch nicht mehr mit der vorangegangenen Klarheit, ihn auf der Ebene des Kollisionsrechts durchzusetzen147. Gemäß dem Entwurf von 2005 sollte die Verordnung Rechtsakte der Gemeinschaften nicht berühren, „die Vorschriften enthalten, durch die ein Beitrag zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts geleistet werden soll, soweit sie nicht zusammen mit dem Recht angewendet werden können, das sich nach den Bestimmungen des internationalen Privatrechts ergibt.“148 Ein zusätzlicher Erwägungsgrund begründete die Regelung damit, dass es „im Interesse der Kohärenz des Gemeinschaftsrechts geboten“ sei, die „Grundprinzipien des Binnenmarkts“ nicht zu berühren149. Bezogen wurde die Regelung vor allem auf die Richtlinien „Fernsehen ohne Grenzen“ und „Elektronischer Geschäftsverkehr“150.

←50 | 51→

Die Änderungen wurden von der Kommission in ihrem modifizierten Vorschlag vollständig übernommen151.

Seit dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates wurde die Regelung für den Umgang mit dem Herkunftslandprinzip jedoch in die Erwägungsgründe verdrängt152. Zwar stellte der Rat ausdrücklich fest, dass die von Parlament und Kommission vorgeschlagene Regelung zum Vorrang der Binnenmarktförderbestimmungen inhaltlich nicht zu beanstanden sei153. Dennoch strich er den entsprechenden Artikel und formulierte lediglich den Erwägungsgrund in die heutige Form des Erwägungsgrunds 35 (allerdings ohne Nennung der Richtlinie 2000/31/EG) um154. Das sei ausreichend, um die Vorstellungen von Parlament und Rat hinsichtlich des Vorrangs des Herkunftslandprinzips inhaltlich abzudecken155. Die Kommission sah dagegen in der Neuregelung durch den Rat einerseits eine erhebliche Abweichung vom ursprünglichen Vorschlag, der das Verhältnis zu den Binnenmarktförderbestimmungen anderer Gemeinschaftsrechtsakte sehr viel ausdrücklicherer bestimmt habe, hielt eine solch detaillierte Bestimmung aber auf der anderen Seite auch nicht länger für erforderlich156. Das Parlament zeigte sich standhafter und beharrte auch in seiner zweiten Lesung auf der ausführlichen Regelung insbesondere im eigentlichen Verordnungstext, da es von ausschlaggebender Bedeutung sei, dass die Verordnung nicht das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtige157.

←51 | 52→

Der endgültige Verordnungstext normiert zumindest ausdrücklich keinen kollisionsrechtlichen Vorrang des Herkunftslandprinzips vor den Anknüpfungsregeln der Rom II-VO158. Stattdessen folgt die Verordnung dem klassischen Vorbild vom Kollisionsrecht nach Savigny. Art. 27 Rom II-VO schreibt lediglich allgemein den Vorrang von Vorschriften des Gemeinschaftsrechts fest, „die für besondere Gegenstände Kollisionsnormen für außervertragliche Schuldverhältnisse enthalten.“ Das Herkunftslandprinzip der Richtlinie 2000/31/EG wird in Erwägungsgrund 35 nur noch als Beispiel für „Bestimmungen“ genannt, „die zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts beitragen sollen“ und in anderen Rechtsakten enthalten sind, deren Anwendung von der Rom II-VO nicht ausgeschlossen werden soll, „soweit sie nicht in Verbindung mit dem Recht angewendet werden können, auf das die Regeln dieser Verordnung verweisen.“159 Unklar ist, was die Formel konkret bedeutet. In ihr manifestiert sich ein politischer Kompromiss, der jedoch letztlich inhaltsleer bleibt160. Der Verordnungsgeber unterlässt es, das Verhältnis zwischen Herkunftsland- und Marktortprinzip rechtsdogmatisch zu klären, obwohl beiden Prinzipien völlig unterschiedliche Wertungen und Konzepte zugrunde liegen161.

Details

Seiten
434
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631849620
ISBN (ePUB)
9783631849637
ISBN (MOBI)
9783631849644
ISBN (Hardcover)
9783631814055
DOI
10.3726/b18157
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Marktortanknüpfung Schutzzwecktrias Unlautere Geschäftspraktiken Irreführende Werbung Vergleichende Werbung Passing-Off Code de la Consommation Concurrence Déloyale
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 434 S.

Biographische Angaben

Thilo Schmidt (Autor:in)

Thilo Schmidt war nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Berlin und Amsterdam und dem Referendariat als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Internationales Privatrecht, Internationales Zivilverfahrensrecht und Rechtsvergleichung an der Freien Universität in Berlin tätig, wo auch seine Promotion erfolgte. Mittlerweile arbeitet er als Syndikusrechtsanwalt auf den Gebieten der nationalen, europäischen und internationalen Standardisierung und technischen Regelsetzung.

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Titel: Kollisionsrechtseinheit und Sachrechtsvielfalt im Binnenmarkt
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