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Verbandsschiedsgerichtsbarkeit zwischen Schattenjustiz und Parteiautonomie

Eine Untersuchung von Argumenten für und gegen die Verbandsschiedsgerichtsbarkeit am historischen Beispiel der Kartellschiedsverfahren des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats

von Lisa Dorothee Becker (Autor:in)
©2021 Dissertation 248 Seiten

Zusammenfassung

Seit geraumer Zeit steht die Verbandsschiedsgerichtsbarkeit in der Öffentlichkeit mehr und mehr in der Kritik. Die Autorin greift Argumente für und gegen die Verbandsschiedsgerichtsbarkeit auf. Anhand von Kartellschiedsverfahren des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats untersucht sie exemplarisch Verfahrensregeln, Verfahrensabläufe und Steuerungstendenzen durch Bezahlung der Schiedsrichter, die Hintergründe der Implementierung eines Schiedsgerichts sowie die Funktionen schiedsgerichtlicher Verfahren innerhalb bestehender Vertragsbeziehungen. Die Arbeit soll sowohl einen Beitrag zur Forschung über die interne Organisation des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats als auch zur Debatte über die Verbandsschiedsgerichtsbarkeit im Allgemeinen leisten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Ausgangsüberlegungen und Untersuchungsgegenstand
  • B. Fragestellung
  • C. Methode und Gang der Darstellung
  • 1. Kapitel Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat
  • A. Vorgeschichte und Gründung des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats
  • B. Aufbau und Struktur des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats ab 1893
  • I. Organe
  • II. Marktregelnde Tätigkeit
  • III. Vertragsstrafe und Geltungsdauer des Syndikatsvertrages
  • C. Entwicklung des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats bis 1914
  • I. Vertragsänderungen
  • II. Die „Handelsfrage“
  • III. Rechtliche Rahmenbedingungen in der Zeit von 1893 bis 1914
  • 1. Rechtsprechung
  • 2. Gesetzgeberische Tätigkeit
  • D. Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat im Ersten Weltkrieg
  • I. Bundesratsverordnung Juli 1915, Übergangssyndikat und Dauersyndikat
  • II. Bundesratsverordnung Februar 1917
  • E. Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat in der Weimarer Republik
  • I. Sozialisierung der Kohlenwirtschaft und Änderung des Syndikatsvertrags 1919
  • II. Erneuerung des Syndikatsvertrages 1922
  • III. Ruhrbesetzung, Verlängerung und Erneuerung 1924
  • IV. Neuordnung 1925
  • V. Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat in der Weltwirtschaftskrise
  • F. Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat ab 1933
  • G. Zwischenfazit
  • 2. Kapitel Rechtliche Rahmenbedingungen der Schiedsverfahren
  • A. Schiedsverfahrensrecht der ZPO und Syndikatsverträge
  • I. Entwicklung der zivilprozessualen Vorschriften zur Schiedsgerichtsbarkeit
  • 1. Das Schiedsverfahrensrecht der Civilprozeßordnung 1877
  • 2. Die Novelle 1898
  • 3. Die Novelle 1924
  • 4. Die Novelle 1930 und Entwurf 1931
  • 5. Die Novelle 1933 und weitere Entwicklung bis 1945
  • II. Zulässigkeit und Grenzen der Kartellschiedsgerichtsbarkeit
  • 1. Generelle Zulässigkeit
  • 2. Allgemeine Wirksamkeitsvoraussetzungen
  • 3. Zusammensetzung des Schiedsgerichts
  • 4. Zuständigkeit für die Verhängung von „Verbandsstrafen“
  • III. Entwicklung des syndikatsvertraglichen Schiedsrechts
  • 1. 30. September 1903 – 31. Dezember 1915
  • 2. 1. Januar 1916 – 26. September 1919; Limitierung des Anwendungsbereichs
  • 3. 1. Oktober 1924 – 1. Juli 1930; Wiederaufnahme der Schiedsklausel
  • a) Verweisung und Anwendungsbereich der Vorschriften der Zivilprozessordnung
  • b) Schiedsrichter
  • c) Verfahrensvorschriften
  • d) Schiedsspruch
  • 4. 1. Juli 1930 – 5. September 1945
  • a) Verweisung und Anwendungsbereich der Vorschriften der Zivilprozessordnung
  • b) Schiedsverfahrensrecht 1933
  • B. Materiell-rechtliche Grundlagen schiedsgerichtlicher Entscheidungen
  • I. Verhältnis des Kohlenwirtschaftsgesetzes zur Kartellverordnung
  • II. Die Bindung des Schiedsgerichts an das materielle Recht
  • III. Insbesondere: Treu und Glauben als Prinzip des Bürgerlichen Gesetzbuches
  • IV. Insbesondere: Treuepflicht der Kartellmitglieder
  • C. Zwischenfazit
  • 3. Kapitel Die Schiedsklausel als Instrument des Kohlensyndikats
  • A. Aufnahme der Schiedsklausel in Folge der übermächtigen Stellung des Kohlensyndikats im Verhältnis zu seinen Mitgliedern
  • B. Schnelle Entscheidung durch Sachkundige
  • C. Nichtöffentlichkeit und Freiheit von staatlicher Interessendurchsetzung
  • I. Nichtöffentlichkeit von Verfahren
  • II. Freiheit von staatlicher Interessendurchsetzung
  • D. Zwischenfazit
  • 4. Kapitel Besetzung der Schiedsgerichte und schiedsrichterliche Unabhängigkeit
  • A. Diskussion schiedsrichterlicher Unabhängigkeit
  • B. Übergewicht des Kohlensyndikats bei der Bildung des Schiedsgerichts
  • C. Verhandlung und Bezahlung des Schiedsrichterhonorars
  • D. Höhe des Honorars
  • E. Zwischenfazit
  • 5. Kapitel Verfahren vor den Schiedsgerichten und Schiedskammern
  • A. Allgemeine Verfahrensvoraussetzungen
  • B. Rechtliches Gehör
  • C. Ermittlungen des Schiedsgerichts
  • D. Zwischenfazit
  • 6. Kapitel Schiedssprüche der Schieds- gerichte und Schiedskammern
  • A. Formalia und Begründungserfordernis
  • B. Rechtsgrundlagen und Begründungsmuster der Entscheidungen
  • C. Zwischenfazit
  • 7. Kapitel Funktionen schiedsgerichtlicher Verfahren im Syndikat
  • A. Druckmittel der Mitgliedszechen
  • B. Mittel zum Interessenausgleich
  • C. Präjudiz und Fortbildung des Syndikatsrechts
  • D. Zwischenfazit
  • Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

A. Ausgangsüberlegungen und Untersuchungsgegenstand

Das Schiedsrecht hat in Deutschland eine jahrhundertelange Tradition. Es ist also nicht etwa eine Folge grenzüberschreitender Geschäftsbeziehungen in einer globalisierten Welt, auch wenn die Inanspruchnahme nationaler und internationaler privater Schiedsgerichtsbarkeit in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen ist.1 Die außergerichtliche Streitbeilegung im Wege schiedsgerichtlicher Verfahren als vergleichsweise altes Phänomen ist daher wiederholt Gegenstand gesetzgeberischer Tätigkeit, zahlreicher Entscheidungen und umfassender Aufarbeitung in der Rechtswissenschaft geworden.2 Dennoch scheint sich insbesondere in den letzten Jahren die Wahrnehmung und Beurteilung der Institution des Schiedsverfahrens in der juristischen und in der allgemeinen öffentlichen Debatte immer weiter auseinander zu entwickeln. Dies betrifft auch die hier gegenständliche spezielle Ausprägung der Verbandsschiedsgerichtsbarkeit.3 Zwar überschneiden sich die diesbezüglichen Argumentationsmuster teilweise mit der allgemeinen Handelsschiedsgerichtsbarkeit bzw. erfolgt keine Differenzierung, die folgenden ←13 | 14→Erörterungen betreffen jedoch in erster Linie (nur) die Verbandsschiedsgerichtsbarkeit.

Der Gesetzgeber hat anlässlich der Reform der Bestimmungen der Zivilprozessordnung bereits im Jahr 1996 klargestellt, dass Schiedsverfahren – und damit auch Verfahren vor Verbandsschiedsgerichten – den beteiligten Parteien grundsätzlich einen dem Verfahren vor den staatlichen Gerichten gleichwertigen und effizienten Rechtsschutz bieten.4 Es ist also vor allem eine Frage individueller Abwägung, ob dem schiedsgerichtlichen Verfahren gegenüber dem Rechtsschutz vor den staatlichen Gerichten der Vorrang eingeräumt werden sollte.5

Einige Argumente für die Schiedsgerichtsbarkeit im Allgemeinen werden im Rahmen der juristischen Diskussion immer wieder angeführt. Es sind dies namentlich die vermeintlich kürzere Verfahrensdauer und die geringeren Verfahrenskosten schiedsgerichtlicher im Vergleich zu staatsgerichtlichen Verfahren. Weiterhin wird die (potentiell) freie Wahl des Schiedsrichters durch die Parteien, insbesondere hinsichtlich besonderer Kenntnisse tatsächlicher oder rechtlicher Art, sowie allgemein die größere Flexibilität mit Blick auf der Parteivereinbarung zugängliche Verfahrensregelungen angeführt. Schließlich wird das parteiliche Interesse an einer nicht öffentlichen Verhandlung, sei es zur Wahrung von Geschäftsgeheimnissen, die in Verhandlungen vor den staatlichen Gerichten offenkundig würden, oder sogar um bereits die Existenz eines streitigen Verfahrens gegenüber Vertragspartner und Konkurrenten nicht offenlegen zu müssen, genannt.6

Im scharfen Gegensatz zur Darstellung in der Fachpresse wurde in Tageszeitungen und Magazinen zuletzt vor allem im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Verhandlungen für das Transatlantic Trade and Investment Partnership Abkommen (TTIP) Kritik am Institut des Schiedsverfahrens als solchem, insbesondere an der sogenannten Investor-State-Arbitration zwischen Investoren und Gaststaaten, immer lauter. Hierbei handle es sich um „Schattenjustiz im Nobelhotel“.7 Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit sei in den vergangenen Jahren eine „Paralleljustiz“ aufgebaut worden, die nun mittels „unanfechtbarer Urteile“ gegen Staaten hart erkämpfte Umweltstandards und soziale Errungenschaften zu unerwünschten Handelshemmnissen umdefiniere und die Privatisierung von öffentlichem Eigentum unumkehrbar mache.8

Die Kritik beschränkte sich aber nicht auf den Anwendungsbereich der Investor-State-Arbitration. Auch Schiedsverfahren ausschließlich zwischen Privatrechts- ←14 | 15→subjekten wurden im Verlauf der öffentlichen Debatte, in die sich mit einer Verzögerung auch die Politik eingeschaltet hatte9, zum Ziel wachsenden Unmuts. So äußerten sich anlässlich der Amtseinführung der Präsidentin des Bundesgerichtshofs der Bundesjustizminister dahingehend, dass die Abwanderung von Verfahren mit hohen Streitwerten in die Schiedsgerichtsbarkeit wegen der damit der Staatskasse entgehenden Gerichtsgebühren die Finanzierungsgrundlage der Justiz gefährde, und die Präsidentin selbst kritisierte, die „private Paralleljustiz“ führe dazu, dass den Kernaufgaben der Herstellung staatlicher Ordnung zugehörige Bereiche der staatlichen Rechtspflege abhandenkämen.10

Der Bereich der Verbandsschiedsgerichtsbarkeit, also einer allgemeinen Verpflichtung der Angehörigen wirtschaftlicher Verbände oder Einrichtungen, bei Streitigkeiten untereinander ein Verbandsschiedsgericht in Anspruch zu nehmen, wird in der gegenwärtigen Kommentarliteratur immerhin als „sehr häufig“ beschrieben.11 Hier scheint der Fokus der Kritik angesichts zunehmender Ausbreitung der Verbandsschiedsgerichtsbarkeit der Sportverbände aktuell eher den fehlenden Schutz dessen, der auf den staatlichen Richter verzichten soll, zu betreffen.12

Im Wesentlichen lässt sich die grundlegende Kritik an der Schiedsgerichtsbarkeit in vier Themenkreise zusammenfassen:13

Den ersten dieser vier Themenkreise bilden Befürchtungen, dass insbesondere eine geschäftlich unerfahrene, oder auch im Vertragsgefüge beziehungsweise den Vertragsverhandlungen wirtschaftlich unterlegene Partei sich durch die Vereinbarung einer Schiedsklausel des neutralen, sie im Verhältnis zur Gegenseite daher besser schützenden staatlichen Rechtsschutzes begibt. Aufgrund wirtschaftlicher Zwangslagen könne die schwächere von der ihr ökonomisch gesehen überlegenen Partei in eine nachteilige Schiedsklausel gedrängt werden, die ein Übergewicht in ←15 | 16→den Vertragsverhandlungen auch für den Fall zukünftiger Konflikte festschreibe.14 In engem Zusammenhang hiermit steht der zweite Komplex der (mangelnden) schiedsrichterlicher Unabhängigkeit im Vergleich zu Staatsrichtern. Insbesondere, dass die Parteien die Honorare der Schiedsrichter mit diesen vereinbaren und selbst tragen führt zu Befürchtungen, dass die Schiedsrichter sich als Interessenvertreter und Sachwalter der sie benennenden Partei begreifen könnten.15 Drittens wird aus dem Fakt der in der Regel vereinbarten Vertraulichkeit des schiedsgerichtlichen Verfahrens geschlossen, dass die Parteien die Öffentlichkeit nur deshalb scheuten, weil sie etwas zu verbergen hätten und sich staatlicher Kontrolle und den allgemeinen Gesetzen zugunsten eines „Wirtschaftssonderrechts“ auf unklarer Grundlage entziehen wollten. Viertens werden die gesamtstaatlichen Folgen einer derartigen Entziehung insbesondere einer größeren Anzahl von Fällen eines bestimmten Rechtsgebietes in den Blick genommen. Insgesamt würden durch die Schiedsgerichtsbarkeit dem Staat zentrale Bereiche der Rechtspflege entzogen und letztlich eine Paralleljustiz zu Lasten der Fortentwicklung der Rechtsprechung staatlicher Gerichte begründet.16 Wie die Argumente für die Schiedsgerichtsbarkeit ist auch die Diskussion dieser Befürchtungen keine Entwicklung der letzten Jahre. Vielmehr wurden ähnliche Argumente bereits vor rund 100 Jahren vorgetragen.17

Schattenjustiz oder Parteiautonomie? Die vorliegende Arbeit beleuchtet Aspekte, die sowohl Grundlage der so schlagwortartig zusammengefassten Befürchtungen der Gegner der (Verbands-)Schiedsgerichtsbarkeit als auch der genannten Argumente der Befürworter sind: Verfahrensregeln, Steuerungstendenzen durch Bezahlung der Schiedsrichter und Hintergründe der Implementierung eines Schiedsgerichts sowie deren Ablauf. Die Untersuchung erfolgt dabei exemplarisch anhand von Schiedsverfahren des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats (RWKS).

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Der Betrachtung der Verfahren des RWKS kommt trotz dessen rechtlicher Struktur und Einbettung als wirtschaftspolitischer Körper seiner Zeit eine hierüber hinausgehende Bedeutung zu. Im Ausgangspunkt kann das RWKS als das bedeutendste legale Kartell der deutschen Wirtschaftsgeschichte eingeordnet werden. Es ist aufgrund verschiedener Faktoren, namentlich seines Bestehens für rund 52 Jahre und seiner umfassenden Konzentrationswirkung im Bereich der Produktion – sämtliche Steinkohlen-, Koks- und Brikettproduktion des Ruhrgebietes – bezüglich dieses Bereichs der Produktion als einflussreichstes legales Kartell zu charakterisieren.18

Die Regelungssysteme, an denen Kartelle gemessen werden, und die ihr Bild in der Öffentlichkeit prägen, haben sich seit Bestehen des RWKS stark verändert. Dies hat der Bedeutung und dem wissenschaftlichen Interesse an dem RWKS jedoch keinen Abbruch getan. Während der Begriff des Kartells in der heutigen Zeit ausgesprochen negativ belegt ist und in der Allgemeinpresse häufig nur in Verbindung mit illegalen Absprachen, Fahndungserfolgen und Geldbußen auftaucht19 handelte es sich bei der nahezu vollständigen Kartellierung bestimmter Wirtschaftszweige zu Beginn des letzten Jahrhunderts um eine nicht nur legale, sondern gewollte Entwicklung. Auch nach der ersten gesetzlichen Regelung, der Kartellverordnung von 1923, waren Kartelle zwischen Wettbewerbern grundsätzlich erlaubt und nur im Falle des Marktmissbrauchs Einschränkungen unterworfen. Erst die alliierten Dekartellierungsgesetze brachten eine grundlegende Wende zum vollständigen Verbot wettbewerbsbeschränkender Abreden zwischen Wettbewerbern. Eine Teilumkehr brachte sodann das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1958, wonach horizontale Beschränkungen grundsätzlich verboten wurden, während vertikal veranlasste Wettbewerbsbeschränkungen zunächst nur der Missbrauchsaufsicht unterlagen.20 Erst mit Inkrafttreten der 7. GWB-Novelle 200521 wurde das Kartellverbot in § 1 GWB weitgehend an das Normregime des Art. 81 Abs. 1 EGV (nunmehr Art. 101 Abs. 1 AEUV) angeglichen und umfasst nun wieder auch vertikale Verhaltenskoordination.22

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Trotz der grundlegenden systematischen Unterschiede lehnte sich das Kartellverbot in § 1 GWB in seiner Tatbestandsformulierung zunächst an die Kartellverordnung von 1923, die erste gesetzliche Definition des Kartells in Deutschland als „Verträge und Beschlüsse, welche Verpflichtungen über die Handhabung der Erzeugung oder des Absatzes, die Anwendung von Geschäftsbedingungen, die Art der Preisfestsetzung oder die Forderung von Preisen enthalten (Syndikate, Kartelle, Konventionen und ähnliche Abmachungen) […]“ an und wurde bei der Auslegung dieses Begriffes der bisherigen Rechtsprechung des Kartellgerichts und des Reichsgerichts zur Kartellverordnung Rechnung getragen.23

Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass auch das Kohlensyndikat als einer der prominentesten Vertreter seiner Art noch nach Erlass des GWB Gegenstand großen kartelltheoretischen wissenschaftlichen Interesses wurde. Sowohl in der zeitgenössischen Wissenschaft als auch der aktuellen Forschung beschränkte sich die Forschung diesbezüglich jedoch weitgehend auf die kartellrechtlichen Grundlagen und ihre Entwicklung sowie bezüglich der ökonomischen Forschung auf die Preis- und Produktionsfunktion des Kohlensyndikats in theoretischer Hinsicht.24 Mit der Analyse der Frage, ob dem Kohlensyndikat neben der umfassenden Konzentration der Produktion auch Marktmacht im Sinne des zeitgenössischen Kartellbegriffs zuzuschreiben ist, hat sich Eva-Maria Roelevink erstmals auseinandergesetzt.25 Sie konstatiert für das Objekt RWKS ein Paradox bezüglich der Forschungslage: Einem großen Umfang an kartelltheoretischer Literatur bezüglich Preis- und Produktionsfunktion steht der weitgehend unerforschte Bereich der internen Organisation und Funktionslogik des Kohlensyndikats vor allem im Zusammenhang mit den beteiligten Syndikatsmitgliedern gegenüber.26 Hierzu gehören auch die internen Konfliktlösungsmechanismen des Kohlensyndikats, deren vertragliche Regelung und praktische Anwendung, wie sie in den Verfahrensakten des RWKS dokumentiert ist, bisher keine Beachtung gefunden hat.27

Insofern soll die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Forschung über die interne Ordnung des Syndikats leisten. Angesichts der über den Bereich der Kohlenwirtschaft hinausgehenden „wirkmächtigen Eigenlogik“28 des RWKS kommt der Betrachtung der Schiedsverfahren innerhalb des Kohlensyndikats aber auch ←18 | 19→wissenschaftliche Bedeutung über den Einzelfall hinaus für die Debatte über Schiedsverfahren innerhalb laufender Vertragsbeziehungen im Allgemeinen zu. Obwohl die Argumente, die für und gegen die Durchführung schiedsgerichtlicher Verfahren angeführt werden, sich seit rund 100 Jahren verblüffend gleichen, wird ihren Grundlagen – nicht nur für den Bereich des Kohlensyndikats sondern für das Schiedsverfahrensrecht ganz allgemein – wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies liegt sicher auch in der schwierigen Datenlage aufgrund der Vertraulichkeit der meisten Verfahren begründet.29

B. Fragestellung

Die Thematik soll über die Beantwortung der folgenden Forschungsfragen erschlossen werden:

Wie war das System der Konfliktlösung im Syndikatsvertrag ausgestaltet, wie veränderte es sich und in welcher Beziehung stand es zu den zeitgenössischen rechtspolitischen Erwägungen und rechtstatsächlichen Entwicklungen? Lässt sich eine institutionelle Bevorzugung einer Partei der Schiedsabrede nachweisen und waren hierfür Faktoren wie Nichtöffentlichkeit und die Freiheit von staatlicher Kontrolle relevant? Gibt es Anhaltspunkte für Verstöße gegen das Prinzip der schiedsrichterlichen Unabhängigkeit, etwa Steuerungstendenzen über das Schiedsrichterhonorar? Welche Verfahrensregeln galten, was waren die Rechtsgrundlagen der Entscheidungen und lassen sich wiederkehrende Begründungsmuster feststellen? Hatten die schiedsgerichtlichen Entscheidungen eine Funktion über die Entscheidung des streitigen Einzelfalls im fortgesetzten Vertragsverhältnis der Parteien zueinander?

C. Methode und Gang der Darstellung

Das überlieferte Aktenmaterial des Kohlensyndikats kann im Montanhistorischen Dokumentationszentrum beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum eingesehen werden.30 Der dortige Gesamtbestand, der bis Anfang der 1970er Jahre als verschollen galt, umfasst auch den gesamten Zeitraum des Bestehens des RWKS als Produktions-, Preis- und Absatzkartell von 1893 bis 1945. Allerdings bestehen gravierende Überlieferungslücken, die wohl auf den Transport von Akten während der Verlegung des Verwaltungssitzes des Kohlensyndikats sowie Kriegseinwirkungen zurückzuführen sind.31 Hier lagern sowohl vollständige Verfahrensakten als ←19 | 20→auch aufgrund vertraglicher Vereinbarung mit Rundbriefen des Syndikatsvorstandes versandte schiedsgerichtliche Entscheidungen.

Sowohl die vollständigen Verfahrensakten des Kohlensyndikats, die ein umfassendes Bild des gesamten Verlaufs der Schiedsverfahren von der ersten protokollierten Meinungsverschiedenheit über interne Kommunikation und Schriftsatzentwürfe sowie Schriftsätze, Korrespondenz und abschließende Entscheidung enthalten, als auch die verfügbaren isolierten Entscheidungstexte der Schiedsgerichte und Schiedskammern wurden in die Analyse einbezogen. Dabei blieben Konflikte mit den Syndikatshandelsgesellschaften außen vor. Untersucht wurden ausschließlich die Schiedsverfahren der Parteien des Syndikatsvertrages, die einen Einblick in die Strukturen dieser vertraglichen Beziehung und gegebenenfalls ihrer Entwicklung erlauben.

Den Untersuchungszeitraum bilden die Jahre 1928 bis 1945. Hierbei handelt es sich nicht um eine an den üblichen Zäsuren orientierte Eingrenzung. Vorgegeben wird dieser Zeitraum durch die Existenz relevanten Quellenmaterials. Er erlaubt zudem eine Betrachtung dahingehend, ob sich der Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus in dem Ablauf der schiedsgerichtlichen Verfahren widerspiegelt oder ob sich insofern – wie heute in der öffentlichen Debatte teilweise angedeutet – ein von äußeren Gegebenheiten und staatlichem Einfluss unabhängiges Sonderrecht der Wirtschaft in den syndikatlichen Schiedsverfahren offenbart.32

In einem ersten Schritt soll die Entwicklung und die Rechtsgrundlagen des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats dargestellt werden. Sodann wird der Blick auf die speziellen Regelungen des Syndikats für Konfliktlösung gelenkt und das diesbezügliche Syndikatsrecht im Zusammenhang der allgemeinen Gesetze dargestellt. Im Folgenden werden die aufgeworfenen Fragen anhand der zur Verfügung stehenden Quellentexte beantwortet: Es wird zunächst der Frage nachgegangen, ob die Schiedsklausel auf Druck einer Partei eingeführt wurde und ob sie eine Partei auf Kosten der anderen bevorteilt sowie ob die üblichen Argumente der schnellen, kostengünstigen Entscheidung durch Sachkundige eine Stütze in dem vorhandenen Quellenmaterial finden. Dann wird die Frage der Unabhängigkeit der Schiedsrichter untersucht werden und eventuelle weitere Funktionen schiedsgerichtlicher Entscheidung im Kontext fortbestehender Vertragsbeziehungen betrachtet. Abschließend erfolgt eine zusammenfassende Bewertung der Zwischenergebnisse.

Details

Seiten
248
Erscheinungsjahr
2021
ISBN (PDF)
9783631846339
ISBN (ePUB)
9783631846346
ISBN (MOBI)
9783631846353
ISBN (Hardcover)
9783631836514
DOI
10.3726/b17994
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Verbandsschiedsverfahren RWKS Schiedsrichterbezahlung Schiedsrichterhonorar Schiedsverfahren
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 248 S.

Biographische Angaben

Lisa Dorothee Becker (Autor:in)

Lisa Becker studierte Rechtswissenschaften an der Universität Heidelberg und an der Duke University School of Law (USA, Master of Laws). Sie ist in Deutschland und dem Staat New York (USA) als Rechtsanwältin zugelassen und arbeitet bei einer internationalen Wirtschaftskanzlei im Bereich Prozessführung und Schiedsgerichtsbarkeit in Frankfurt am Main.

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