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Transnationale Akzente: Zur vermittelnden Funktion von Literatur- und Kulturzeitschriften im Europa des 20. Jahrhunderts

von Michael Peter Hehl (Band-Herausgeber:in) Heribert Tommek (Band-Herausgeber:in)
©2021 Konferenzband 254 Seiten

Zusammenfassung

Literatur- und Kulturzeitschriften gehören ganz selbstverständlich zum kulturellen Erbe Europas. Der Sammelband geht der Frage nach, inwiefern Zeitschriften einen transnationalen Diskursraum bilden, in dem sich unterschiedliche Diskurse wie etwa Ästhetik und Politik kreuzen und überlagern. In Einzelstudien werden diesbezüglich Zeitschriften wie Akzente, Sinn und Form, Tel Quel, Kontinent und Der Monat untersucht. Welche Netzwerke lagen der redaktionellen Arbeit jeweils zu Grunde? In welcher Wechselwirkung stehen das Nationale und das Transnationale zueinander? Wie wirkt die Geschichte der jeweiligen Periodika in die Gegenwart hinein? Basierend auf einer Tagung im Rahmen des »Kulturerbejahrs 2018« will der Band damit einen Beitrag zu einer komparatistischen Zeitschriftenforschung leisten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Internationalität und relative Autonomie. Europäische Literaturzeitschriften und ihre Programmatik (Heribert Tommek (Regensburg))
  • Die zehn Nachkriegshefte 1946–1948 des Zwiebelfisch. Zwischen satirischer Distanz zur NS-Zeit und vorsichtiger Annäherung an die amerikanische Literatur und Kultur (Rolf Parr (Essen))
  • Transnationale Akzente in den Akzenten. Europäische und deutsch-deutsche Literaturbeziehungen in fünfzig Jahren Zeitschriftengeschichte (Susanne Krones (München))
  • »Diagonallinie der goldenen Mitte« zwischen Eigenem und Fremdem. Konstellationen der frühnachkriegsdeutschen Internationalisierung am Beispiel von Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken (Aleš Urválek (Brünn))
  • Sinn und Form: Eine transnationale Zeitschrift aus der DDR? (Stephen Parker (Cardiff University))
  • »Die Splitter im Auge der Freiheitsstatue und der Pfahl im eigenen Fleisch«. Eine transnationale »Hexenjagd« in Der Monat (Stefan Maurer (Wien))
  • Fenster nach Frankreich. Existentialismus-Vermittlung in österreichischen Periodika (1945–1955) (Juliane Werner (Wien))
  • Wider die Akademisierung? Zeitschriftendiskurse in Frankreich nach Achtundsechzig und die Kulturrevolution in China (Jonas Mirbeth (Berlin))
  • Das transnationale Zeitschriftenprojekt Gul iver – und sein Scheitern an nationalen Akzenten (Christian Luckscheiter (Berlin))
  • Europäische Poetologien im Kalten Krieg. Die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter als transnationales Forum (Michael Peter Hehl (Sulzbach-Rosenberg))
  • Die Zeitschrift Kontinent oder Die Erweiterung Osteuropas (Anne Hultsch (Wien))
  • Podiumsgespräch mit Thomas Geiger, Jo Lendle, Jürgen Link und Heribert Tommek. Sulzbach-Rosenberg, 6.12.2018 (Zeitschriftenmacher. Literatur- und Kulturzeitschriften der Gegenwart)
  • Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
  • Reihenübersicht

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Heribert Tommek (Regensburg)

Internationalität und relative Autonomie. Europäische Literaturzeitschriften und ihre Programmatik

Abstract: Das Streben nach Internationalität gibt Auskunft über den Stand relativer literarischer Autonomie wie auch über heteronome Einflüsse durch Politik und Wirtschaft. In Fallstudien wird der Rekurs auf das Internationale in verschiedenen Zeitschriften im Fokus zweier historischer Querschnitte untersucht: 1. um 1949, also in der Zeit der Gründung der beiden deutschen Nationalstaaten ( Merkur, Sinn und Form, Akzente) und 2. um Anfang und Mitte der 1960er Jahre, als viele neue Zeitschriften entstanden und die internationale Ausrichtung einen Höhepunkt erreichte ( Revue Internationale, Tel Quel, Kursbuch, Sprache im technischen Zeitalter). Dabei zeigt sich, dass der Rekurs auf das Internationale eine Form darstellt, auf nationale ›Anachronismen‹ zu reagieren, die zugleich verschiedene ›zeitliche‹ Funktionen des Traditionsanschlusses und der Modernisierung übernimmt.

Keywords: Programmatik europäischer Literaturzeitschriften, Rekurs aufs Internationale, relative Autonomie, Traditionsanschluss, Modernisierung

Der vorliegende Band fragt nach den transnationalen Funktionen literarischer und kultureller Zeitschriften im Europa des 20. Jahrhunderts, insbesondere seit der Nachkriegszeit. Damit verbunden ist die Frage, welchen Anteil Zeitschriften am kulturellen Austausch in Europa, verstanden als ein eigener Diskursraum, haben. Trans- oder Internationalität hat für alle im vorliegenden Band thematisierten Zeitschriften eine wichtige Bedeutung. Ihr jeweiliger Stellenwert gibt nicht nur Auskunft über die Konstitution eines transnationalen Diskursraumes, sondern aus ihm lassen sich wiederum Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der nationalen literarischen Felder ziehen. Die folgenden Ausführungen gehen anhand ausgewählter Zeitschriften der These eines engen Zusammenhangs zwischen Inter- oder Transnationalität und relativer literarischer Autonomie nach. Nach allgemeinen konzeptuellen Überlegungen wird in Fallstudien der Rekurs auf das Internationale in verschiedenen Zeitschriften im Fokus zweier historischer Querschnitte untersucht: 1. um 1949, also in der Zeit der Gründung der beiden deutschen Nationalstaaten ( Merkur, Sinn und Form, Akzente) und 2. um Anfang und Mitte der 1960er Jahre, als viele neue ←9 | 10→Zeitschriften entstanden und der Rekurs auf Internationalität einen Höhepunkt erreichte ( Revue Internationale, Tel Quel, Kursbuch, Sprache im technischen Zeitalter). Zunächst gilt es aber, den konzeptuellen Zusammenhang von Internationalität und relativer Autonomie zu skizzieren.

1. Der Zusammenhang von Internationalität und relativer Autonomie

Zwischen dem Rekurs auf das Internationale und dem Streben nach Autonomie bestehen direkte Zusammenhänge, wie Pascale Casanova gezeigt hat. Bevor Casanova literaturwissenschaftlich tätig wurde, war sie eine engagierte Literaturkritikerin, die neue Maßstäbe setzte.1 Als Literaturwissenschaftlerin setzte sie sich mit den Bedingungen der Internationalisierung des literarischen Feldes auseinander, so vor allem in ihrem noch immer nicht ins Deutsche, dafür aber ins Englische übersetzten Buch La république mondiale des lettres.2 Casanova war schließlich Mitarbeiterin der von Pierre Bourdieu herausgegebenen internationalen Zeitschrift Liber. Revue internationale des livres, die erstmals im Oktober 1989 erschien. Diese Zeitschrift versuchte, dem zunehmenden Einfluss des Neoliberalismus auf das intellektuelle Leben im Allgemeinen und das Verlagswesen im Besonderen etwas entgegenzusetzen. Ihr Vorbild hinsichtlich Unabhängigkeit, intellektueller Qualität der Beiträger, Artikellänge und Auswahl der rezensierten Bücher war die Zeitschrift New York Review of Books. Das Anliegen von Liber verrät ein programmatischer Text, der die Bedrohung der Kunstautonomie in der Gegenwart thematisiert und zu ihrer Verteidigung aufruft: »Für einen Korporatismus des Universellen«. Diesen Text stellte Bourdieu ←10 | 11→an den Schluss seiner Studien zum literarischen Feld, Die Regeln der Kunst.3 Im Dezember 1995, auf dem Höhepunkt des Eisenbahner-Streiks in Frankreich, an dem sich Bourdieu als engagierter Intellektueller beteiligte, erschien dann die Liber- Ausgabe Nummer 25, deren Beiträge auf einen »realistischen Internationalismus« eines transdisziplinären und internationalen Kollektivs von Intellektuellen zielten.4 Zu diesem Zeitpunkt war Bourdieus Ansehen in Europa als Wissenschaftler und engagierter Intellektueller auf einem Höhepunkt angelangt. So schaffte er etwas, das vermutlich heutzutage nicht mehr möglich ist, dass nämlich die Zeitschrift Liber als Beilage von fünf großen europäischen Zeitschriften und Zeitungen zugleich erschien: der französischen Le Monde, der italienischen Zeitschrift L’Indice dei libri del mese (eine Zeitschrift für Buchkritiken nach dem Vorbild von The New York Review of Books), der spanischen Zeitung El País, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und des englischen Times Literary Supplement.5 Dieser europäische Distributionsverbund existierte nur eineinhalb Jahre bis zum Sommer 1991. Dann waren die Spannungen zwischen den Interessen der nationalen Zeitungsredaktionen und denen eines ›Chefredakteurs‹, der konsequent an den editorischen Leitlinien der Selbstbestimmung von Themen, Autoren und Artikellänge festhielt, nicht mehr überbrückbar.

In den nächsten Jahren folgten Bourdieus Auseinandersetzungen mit der Ökonomisierung des journalistischen Feldes, insbesondere des Fernsehens, und den neuen Medienintellektuellen, die ihn in der Folge selbst zur Zielscheibe journalistischer Angriffe machten.6 Liber erschien daraufhin als Beilage der von ←11 | 12→Bourdieu herausgegebenen Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales und der italienischen Indice.7 Später wurde sie in verschiedene Sprachen übersetzt und selbständig veröffentlicht: so ins Deutsche, Bulgarische, Ungarische, Schwedische, Italienische, Tschechische, Rumänische, Griechische (ab 1994), Türkische, Norwegische (beide 1995) und Spanische (1996). Auch wenn die Zeitschrift 1996 eingestellt wurde, bleibt sie doch ein beeindruckendes Beispiel für den Versuch, nicht nur einen praktischen Internationalismus der Texte und der intellektuellen Ideengeber in Europa zu realisieren, sondern sich hierfür auch die eigenen Distributionsmittel zu schaffen.

Wie dieses Beispiel deutlich macht, stellt der Rekurs aufs Internationale eine gewisse Praxis intellektueller Arbeit dar oder mit anderen Worten: eine spezifische Art, die (politische) Realität anzugehen.8 Denn mit dem internationalen Bezug werden temporäre, zum Teil programmatische Kohärenzen und Assoziationen hergestellt, seien es reale Gruppen oder Gemeinschaften im Geist, die einen konkreten Diskurs und gewissermaßen ein ›Interesse‹ am Internationalen, d. h. am Universalisierbaren des Nationalen teilen.

Das Streben nach einem intellektuellen »Korporatismus des Universellen« entstand im 20. Jahrhundert insbesondere immer dann, wenn die Autonomie der kulturellen Felder mit universalem Anspruch (wie das des Rechts, der Wissenschaften, der Künste, der Literatur und der Philosophie) durch Fremdeinwirkungen aus dem Feld der Macht (vor allem der Politik und Ökonomie) bedroht waren: so durch den Kalten Krieg und den Beginn der atomaren Aufrüstung ab den 1950er Jahren, durch den Mauerbau, den wachsenden Einfluss von Ökonomie und Medien auf die kulturelle Produktion seit den 1960er Jahren oder durch die wachsende Herrschaft neoliberaler Politik und Diskurse seit den 1980er Jahren. Eingebunden in ein heteronomes Umfeld stellt die Berufung auf das Internationale ein politisches Instrument im Kampf um die Selbstbestimmung der Intellektuellen dar. Dabei vereint sie in besonderer Weise Theorie und Praxis.9 Insofern ist die jeweilige Relevanz des Internationalen sowohl ein Maßstab der Autonomie eines Feldes als auch ein autonomer Rekurs in einem heteronomen Universum. Wie besonders an Zeitschriften in den Hochphasen des Kalten Krieges und dem Kampf um ideologische Hegemonie ablesbar ist, ←12 | 13→kann »ästhetische Autonomie« in politische und/oder ökonomische Herrschaftszusammenhänge eingebunden und instrumentalisiert werden.10

1.1. Das Internationale als realisierte Autonomie: zeitliche Indizien

Die Konstituierung von Internationalität und ihre Verzeitlichungsform sind wichtige Kriterien, um den Autonomiegrad eines Feldes zu bestimmen.11 Von einer Äquivalenz zwischen ›international‹ und (relativ) ›autonom‹ lässt sich insbesondere dann sprechen, wenn der Bezug aufs Internationale eine Universalisierungsarbeit beinhaltet, wie Bourdieu in Science de la science et réflexivité mit Blick auf die Wissenschaft ausgeführt hat:

Le processus de dépersonnalisation, d’universalisation, de départicularisation dont le fait scientifique est le produit a d’autant plus de chances de s’effectuer réellement que le champ est plus autonome et plus international […]: le degré d’internationalisation, que l’on peut mesurer à différents indicateurs, comme la langue utilisée, les lieux de publication, nationaux ou extérieurs, etc. est un des bons indices du degré d’autonomie […] . Du fait que […] le capital temporel est plus lié aux instances nationales, aux institutions temporellement dominantes, comme les académies, et dépendantes à l’égard des autorités temporelles, qu’elles soient économiques ou politiques, le processus d’universalisation prendra presque nécessairement la forme d’une internationalisation comme dénationalisation.12

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Heteronome Einflüsse zeigen sich bei Zeitschriften etwa durch ihre Abhängigkeit von einem Verlag, durch die Abonnenten-Zahlen, aber auch durch die Nähe zum schnellen Zeittakt aktueller gesellschaftlicher Themen und Diskussionen. Im Unterschied zu Büchern sind literarische Zeitschriften, die ein Schwerpunktthema haben und/oder das Anliegen verfolgen, neue literarische Stimmen erstmals zu veröffentlichen, mit einem (im Sinne von Augustinus’ Zwei-Welten-Lehre) ›irdisch-zeitlichen‹ Maßstab und damit oft mit nationalen Bezügen konfrontiert. Manche von ihnen versuchen, diesen zeitlichen Mächten auszuweichen, indem sie programmatisch antizyklisch vorgehen und sich nicht dem »Zeitgeist«, sondern einer ästhetischen Eigenzeit verpflichtet sehen – sei sie klassisch-zeitlos, avantgardistisch-zeitpunktuell oder modernistisch-zeit-versetzt.

Die internationale Ausrichtung allein stellt – wie bereits angemerkt – keine Garantie für Autonomie dar, aber sie steht für die zeitlich bestimmte Möglichkeit eines Rekurses: Diese diskursive ›Anrufung‹ des Internationalen stellt eine intellektuelle Waffe im Kampf gegen intellektuelle ›Verspätungen‹ in einem nationalen Feld dar: gegen Rückschrittlichkeiten jeglicher Art, Leerstellen oder Blindheiten, nicht zuletzt gegen Marginalisierungen oder Zensur.13 Wenn aber den national herrschenden Kräften tendenziell eine ›irdisch-temporäre‹, d. h. gesellschaftlich vergängliche Zeitbestimmung zukommt, während der Universalisierung immer auch ein Anspruch auf zeitliche Transzendierung, also auf eine autonome Eigenzeit des Intellektuell-Literarischen eingeschrieben ist, so stellt der Zugang zum Internationalen und der Rückgriff auf transnationale Anerkennung auch einen Weg zur ›Nachwelt‹ dar: zu einer Existenz und Anerkennung jenseits der engeren nationalen Kreise gegenseitiger Anerkennung und Bewunderung.

2. Fallstudien

2.1. Der Rekurs aufs Internationale in Zeitschriften um 1949

Betrachtet werden sollen nun programmatische Selbstbestimmungen wichtiger Kultur- und Literaturzeitschriften rund um das Jahr 1949, dem Jahr der ←14 | 15→Gründung zweier deutscher Nationalstaaten. Nimmt man die ersten Ausgaben von Merkur (1947), Sinn und Form (1949) oder Akzente (1954) in die Hand, sucht man aber vergeblich nach einer expliziten Programmatik. Sie beginnen sofort, ohne Herausgeber-Vorwort, mit literarischen oder essayistischen Texten, aus deren Arrangement freilich indirekt eine klare Programmatik spricht. So beginnt der Merkur mit Lessings Aufsatz »Über die Aufgabe im ›Teutschen Merkur‹« von 1776, Sinn und Form mit einem Auszug aus Romain Rollands »Jugenderinnerungen« (»Römischer Frühling«) und die Akzente setzen ein mit Oskar Loerkes Gedicht »Ans Meer«. Rückbesinnung auf deutsche Aufklärungstradition, Pazifismus und der an den magischen Realismus anschließende, unbestimmte Lockruf des Aufbrechens zu neuen Ufern zeichnen sich hier als moralisch-geistige Orientierungsmarken ab. Zugleich gibt es auch konzeptuelle und explizit programmatische Bestimmungen, die allerdings nur im Vorfeld der Entstehung oder begleitend in Korrespondenzen zu finden sind. Aus diesem Umstand lässt sich schließen, dass diese literarischen Zeitschriften bewusst auf eine vorangestellte Programmatik verzichteten, um jeden Anschein einer Nähe zur ›Ideologie‹ oder jede Ähnlichkeit mit einem ›Manifest‹ – dem Genre par excellence der künstlerischen wie auch politischen Avantgarden – zu vermeiden. Zwar strebten sie nach literarischer Autonomie und Internationalität, aber sie lehnten jede Form von radikalem Traditions- und Institutionalisierungsbruch ab und suchten den Anschluss an einen national institutionalisierten Träger: im Falle des Merkur und der Akzente die Anbindung an einen eher konservativen Verlag oder im Falle von Sinn und Form die Anbindung an eine kulturpolitisch repräsentative Institution wie die Akademie der Künste.

Die anfängliche Vermeidung jeder Art von radikalem Traditionsbruch geht andererseits einher mit einem Streben nach neuen geistigen Freiräumen und gemäßigter Modernisierung durch ›geistig-offene‹ Bestimmungen: angefangen bei einer neuen ›moralisch-geistigen‹ Haltung beim Merkur und einem neuen ›Humanismus‹ in Sinn und Form, über den Grundwert ›literarischer Qualität‹ bei al en genannten Zeitschriften, bis hin zu ›Liberalität‹ und dem Streben nach neuen ›Akzenten‹ und ›Konturen‹ in den Akzenten.

Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken (1947)

Die folgenden Querschnittsbetrachtungen beginnen chronologisch mit dem Merkur.14 Gegründet von Hans Paeschke, erschien das erste Heft im Februar ←15 | 16→1947 im Heller-und-Wegner-Verlag Baden-Baden.15 Der Mitherausgeber, Joachim Moras, kam offiziell erst 1948 hinzu, um den Beginn der Zeitschrift nicht zu gefährden. Karl Heinz Bohrer nennt Moras im Rückblick »schöngeistig«16 und verschleiert damit dessen Verstrickung in den Nationalsozialismus durch die Herausgabe der Europäischen Revue von 1933 bis 1944. In dieser Zeit wurde die Zeitschrift vom deutschen Außenministerium und von Propagandaminister Joseph Goebbels gelenkt. Zuvor war die Europäische Revue das Organ des 1922 vom Österreicher Karl Anton Rohan gegründeten Europäischen Kulturbunds, der reaktionäre Reichsvorstellungen eines technokratisch, ständisch-katholisch und hierarchisch-neoaristokratisch geordneten Europäischen Reiches verfolgte und mit der Revue einen Publikationsort rechter Intellektueller der Zeit schuf.17 Der 1947 neu gegründete Merkur lässt insofern eine gewisse Kontinuität zu dieser Geistestradition erkennen, als er sich von Anfang an eher einer aristokratisch-geistigen Haltung als einer direkten politischen Weltanschauung oder Gesinnung verpflichtet sah. Die Programmatik der Zeitschrift findet man – verschoben – erst auf Seite 100 der ersten Ausgabe in Paeschkes Aufsatz mit dem Titel »Verantwortung des Geistes«. Hier formuliert der Herausgeber drei Leitideale: »Statuierung der Verantwortung für die Schuld als erster Verantwortung der Geistigen in dieser Zeit«, »Verantwortung vor dem Wort« und »Mut zur Distanz gegenüber allen angeblich endgültigen Lösungen.«18 Mit dieser moralisch-geistigen Grundposition war eine Absage an »verbale Scharfmacherei« und an »Utopismus und Ideologie« verbunden, wie Bohrer die antikommunistische Ausrichtung der Zeitschrift in Zeiten des Kalten Krieges rückblickend mystifizierend charakterisiert.19

Für die Frage nach der Funktion des internationalen Rekurses ist der vollständige Zeitschriftentitel aufschlussreich: »Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken«. Die vom Nachkriegs- Merkur von Anfang an angestrebte ›geistig-moralische Haltung‹ zielte auf die Wiederherstellung eines ←16 | 17→geistesaristokratischen Raums. Im Untertitel der Zeitschrift wird dieser als »europäische[r] « bezeichnet. Zugleich macht er deutlich, dass er auf den Grundlagen des Nationalstaates verstanden wurde. Nach den Erfahrungen von NS-Zeit und Weltkrieg wurde also eine europäische Perspektive angestrebt, die aber weiterhin an einer nationalen Identität als primärem Bezugsraum festhielt. Sie war an der Wiederherstellung einer deutschen Stimme im europäischen Kontext interessiert. Diese national-grundgelegte Stimme suchte Anschluss an die internationale Literatur, namentlich an die westliche klassische Moderne in expliziter Ablehnung jeder Form von Avantgarde.20 So findet man im Merkur viele Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Spanischen. Moras selbst übersetzte zum Beispiel Werke von André Gide. Es bliebe näher zu untersuchen, inwiefern diese Art eines Anschlusses an die internationale klassische Moderne für die Rekonstitution einer nationalliterarischen Identität im 20. Jahrhundert allgemein charakteristisch ist. Wie dem auch sei, es war dann wiederum der Merkur, der in der Wendezeit vehement für die deutsche Vereinigung eintrat und noch 1997 verstand der Herausgeber Karl Heinz Bohrer die Zeitschrift als ein ausschließlich bundesrepublikanisches Organ im Sinne des alten Westens, verbunden mit der polemischen Frage: »Was wäre auch von der DDR zu lernen?«21

Sinn und Form (1949)

Was von der DDR über die Möglichkeiten kultureller Autonomie innerhalb eines Kontextes heteronomer Macht-Einwirkungen zu lernen wäre, lässt sich unter anderem aus der etwa zeitgleich zum Merkur entstehenden Zeitschrift Sinn und Form in der DDR ersehen.22 Nach dem Krieg gab es viele Zeitschriftenneugründungen, da es einen großen Bedarf an geistigen Positionen im neu zu strukturierenden intellektuellen und literarischen Feld gab. Bei den daraufhin einsetzenden Auseinandersetzungen mussten sich die Zeitschriften zwischen den Polen der ›Innovation‹ und des ›Traditionalismus‹ positionieren.

Der aus dem Moskauer Exil früh zurückgekehrte Kommunist Johannes R. Becher war der Gründer und die dirigierende Kraft der Zeitschrift Sinn und ←17 | 18→Form, aber Peter Huchel prägte sie bekanntlich als Chefredakteur maßgeblich (bis 1962). Der Entstehungskontext der Zeitschrift ist im Umfeld des Kulturbundes zu sehen, der unmittelbar nach Kriegsende für die Idee einer deutschen Kulturnation eintrat, die freilich in der SBZ bzw. DDR als ›besserer, antifaschistischer Teil Deutschlands‹ grundgelegt war. Dadurch erklärt sich das pathetisch proklamierte gesamtdeutsche Beerben der klassisch-kanonischen Nationalliteratur durch Kommunisten wie Becher. Grundanliegen der Zeitschrift war es im Jahr der de facto-Teilung zweier deutscher Nationalstaaten, eine repräsentative Funktion für die Idee einer ungeteilten deutschen Kulturnation zu übernehmen. Bei den Entwürfen zur Konzeption der Zeitschrift wurde daher einerseits eine zu starke Bezugnahme auf den Sozialismus vermieden und andererseits die Abgrenzung von einem reinen Ästhetizismus durch Anbindung an die Werte eines progressiven Anti-Faschismus und an die humanistischen Traditionen verfolgt. Dieser repräsentative Kulturanspruch über die Teilung hinweg erfolgte vor allem auf der Grundlage eines hochkulturellen ästhetischen Anspruches, der sowohl zum Feuilleton als auch zur Literaturkritik auf Distanz ging. »Das Prinzip Abstand«, also die ästhetisch-literarische Distanznahme, wurde rückblickend zum Charakteristikum der Zeitschrift erklärt.23 Sie entspricht der bürgerlichen Distinktion, die sich auf kulturellem Gebiet an ›zeitlosen‹ ästhetischen Werten orientiert und damit einen autonomen Raum der legitimen Kunstproduktion in einer ›Neutralitätsposition‹ gegenüber dem Feld der Macht sucht. Mit ihr korrespondierte das Ideal einer Entsprechung von Form und Inhalt (bzw. »Sinn«). Historische Vorbilder hierfür waren vor allem Thomas Manns Exil-Zeitschrift Maß und Form, deren Titel man anfänglich übernehmen wollte, oder auch Willy Haas’ Zeitschrift Die literarische Welt, die in der Weimarer Republik versuchte, sich von den politischen Extremen durch literarische und ästhetische Qualität abzugrenzen.

Wie schon erwähnt, hatte auch die erste Ausgabe von Sinn und Form kein programmatisches Vorwort. Ihre Ausrichtung und Positionierung sind aber einem Text auf einem Faltblatt zu entnehmen, das als Werbematerial Verwendung fand und den Inhalt der ersten Hefte ankündigte:

Mit »Sinn und Form« wird eine Literaturzeitschrift vorgelegt, deren Herausgabe nur gerechtfertigt ist, wenn sie – fern von jedem Ästhetizismus – dem Geist der Sprache und der Dichtung dient. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann sie eine der ←18 | 19→wesentlichen und repräsentativen periodisch erscheinenden literarischen Veröffentlichungen in Deutschland werden.24

Ähnlich wie der Merkur grenzte sich Sinn und Form sowohl vom Avantgardismus als auch von einem erstarrten Traditionalismus ab. Auch hier strebte man nach einer Synthese von repräsentativer Tradition und neuer Gegenwart, wobei die Gegenwart eine real-sozialistische war. Gustav Seibt wird später von einer »progressiven Restauration«25 sprechen. Allerdings war die erste Ausgabe von Sinn und Form keineswegs ›aristokratisch-distanziert‹, sondern literaturpolitisch ›hochexplosiv‹, denn sie vereinigte den bürgerlichen Traditionsanschluss – ein Gedicht von Gerhart Hauptmann (»Traum«), den Becher noch am Ende seines Lebens zur Rückkehr nach Dresden bewegen und als Repräsentant der DDR-Literatur gewinnen wollte – mit bürgerlich-pazifistischer (Romain Rolland) wie auch sowjetischer Zeugenschaft (autobiographischer Text von Wladimir Majakowski). Schließlich waren Texte von Autoren vertreten, die ehemals links- und ehemals rechtsfaschistische Positionen vertraten (Elio Vittorini: »Die Knechtschaft des Menschen«, Ernst Niekisch: »Zum Problem der Elite«). Gedichte aus der Resistance finden sich ebenso wie ein Text von Hermann Kasack26 (»Der Webstuhl«), der den wirkmächtigen Anschluss an die magisch-realistische Tradition, die eng mit der inneren Emigration verbunden war, signalisierte.

Der deutsch-deutsche wie auch internationale Repräsentationsanspruch der Zeitschrift mag ein wichtiger Grund dafür gewesen sein, warum Sinn und Form auch über das berüchtigte Formalismus-Plenum von 195127 hinaus einen gewissen Schutzraum vor dem politisch dem gesamten literarischen Raum in der DDR aufoktroyierten »antimodernen Affekt«28 bilden konnte. So stellte ←19 | 20→die Doppelnummer 5/6 von 1954 einen Höhepunkt hinsichtlich der innerdeutschen und internationalen Anerkennung der Zeitschrift dar, wie Stephen Parker und Matthew Philpotts betonen.29 Gleichwohl wurde Peter Huchel zeitweilig als Chefredakteur wegen seiner parteiübergreifenden, ästhetischen Haltung abgesetzt und nur die schützende Hand Bertolt Brechts, dessen Ansehen wiederum international verankert war, konnte ihn wieder einsetzen (bis 1962).

Akzente (1954)

Das letzte Beispiel der Querschnittsbetrachtung um 1949 ist die Zeitschrift Akzente.30 Das Autonomiestreben der Akzente zeigte sich besonders früh und deutlich bei Walter Höllerer in Form eines literarischen Qualitätsanspruches und eines Modernisierungsbestrebens. Beides sollte von Anfang an mit Wissenschaftlichkeit verbunden sein:

Ich meine ja nicht die professorale Wissenschaft. Die liegt mir sehr fern. Einbezug wissenschaftlicher Klarheit als Korrektiv. […] Dichter interpretieren zumeist miserabel. Man sollte meinen, dass heute eine Zs. für deutsche und abendländische Literatur von vornherein Dichtung und Literaturwiss. umfassen müsste. […] Keine Trennung in zwei Abteilungen.31

Details

Seiten
254
Erscheinungsjahr
2021
ISBN (PDF)
9783631841983
ISBN (ePUB)
9783631841990
ISBN (MOBI)
9783631842003
ISBN (Hardcover)
9783631789780
DOI
10.3726/b17847
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juni)
Schlagworte
Ästhetik Politik Zeitgeschichte Periodika Netzwerke Italien Österreich Osteuropa Deutschland Frankreich
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 254 S., 1 farb. Abb., 4 s/w Abb.

Biographische Angaben

Michael Peter Hehl (Band-Herausgeber:in) Heribert Tommek (Band-Herausgeber:in)

Michael Peter Hehl ist wissenschaftlicher Leiter des Literaturarchivs Sulzbach-Rosenberg. Heribert Tommek ist Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg und Vorsitzender des Literaturarchivs Sulzbach-Rosenberg.

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