Stand und Perspektiven der Gesundheitsversorgung
Optionen und Probleme rechtlicher Gestaltung
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autoren-/Herausgeberangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Einführung (Ingwer Ebsen)
- Wandel durch Annäherung: Perspektiven für eine integrierte Krankenversicherungsordnung (Thorsten Kingreen)
- Gestaltungs- und Verfassungsfragen eines Übergangs zu einem einheitlichen Krankenversicherungsmarkt im Hinblick auf die PKV (Astrid Wallrabenstein)
- Die Konkretisierung des Leistungsniveaus der sozialen Gesundheitsversorgung in Selbstverwaltung: Gegenwärtiger Stand und Perspektiven der Weiterentwicklung (Stefan Huster)
- Konkretisierung des Leistungsniveaus der Gesundheitsversorgung durch die Rechtsprechung (Ulrich Wenner)
- Autorenverzeichnis
- Reihenübersicht
Ein Element des deutschen Gesundheitssystems ist seine permanente „Reform“, deren Permanenz – jedenfalls in Teilen – allerdings zugleich etwas Beharrendes hat. Neben einigen Feldern, auf denen jedenfalls weitgehend eine schrittweise Weiterentwicklung in eine Richtung zu konstatieren ist – Hauptbeispiele sind der Druck auf die Krankenkassen zur Steigerung von Wirtschaftlichkeit und Kundenorientierung im Wettbewerb um Versicherte und wohl inzwischen auch, wenngleich noch weniger weit entwickelt, der Druck auf die Leistungserbringer zu Qualitätssicherung –, gibt es einige Bereichen, in denen sich die Reformen als ein Hin und Her zwischen gegensätzlichen Tendenzen beschreiben lassen. Wenn man die Zeitspanne seit der Rekodifizierung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung im SGB V mit Wirkung ab 1.1.1989 für die Beobachtung dieses Phänomens zugrunde legt1, lassen sich mehrere Themenfelder ausmachen, auf denen die gesetzgeberische Gesundheitspolitik als ein solches Hin und Her zwischen gegensätzlichen Tendenzen erscheint2:
• Zwischen kostentreibender Leistungsausweitung und kostensparender Verweisung auf „Eigenverantwortung“ der Versicherten/Patienten (auch durch Zuzahlungen);
• entsprechend im Verhältnis zu den Leistungserbringern zwischen Budgetierung am Maßstab von Beitragssatzstabilität und mengenabhängiger Honorierung;
• zwischen dezentraler (gemeinsamer) Autonomie und zentraler Steuerung auf Bundesebene – durchaus weiterhin in (gemeinsamer) Selbstverwaltung;
• zwischen eher unternehmerischer und eher staatlicher (mittelbare Staatsverwaltung) Qualifikation der Kassen mit korrespondierend eher größeren oder eher kleineren Spielräumen für marktbezogene Strategien; ← 7 | 8 →
• zwischen Ausweitung und Ausdünnung der sozialen Umverteilung im Gesamtsystem von Beiträgen und Leistungen sowie Versicherungspflicht und Versicherungsfreiheit (auch unter Einbeziehung der PKV).
Ein solches Hin und Her bei ständiger Reformaktivität lässt sich sicherlich mit politischen Konjunkturen bei wechselnden politischen Mehrheiten mit unterschiedlichen Affinitäten zu Gruppeninteressen erklären – ebenso wie die kontinuierliche Verfolgung bestimmter Reformpfade trotz wechselnder politischer Mehrheiten sicherlich Ausdruck breiten Konsenses über offensichtlich vernünftige Ziel und Wege ist. Allerdings lassen sich manche der von jeweiligen politischen Mehrheiten gegensätzlich verfolgten Tendenzen auch verstehen als Ausdruck tiefer liegender schwieriger Dilemmata, auf welche keine einfachen Antworten möglich sind und gegenüber denen im politischen Alltag ein vorsichtiges Lavieren eine nachvollziehbare Strategie ist. Zwei solche Dilemmata, die ihrerseits nicht unverbunden nebeneinanderstehen, sind zentral und lassen sich zwanglos mit den meisten der oben genannten Bereiche des Hin und Her verknüpfen. Das eine Dilemma ist die wachsende Spannung zwischen dem sozialen Versprechen einer Gesundheitsversorgung für alle auf sehr hohem Niveau, nämlich demjenigen des jeweiligen Standes der medizinischen Erkenntnisse auch unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts (siehe § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V), und der dafür nötigen Kosten, wenn man dieses Versprechen wörtlich nähme und absolut setzte. Und das andere Dilemma ist dasjenige der Verteilung dieser Kosten, also des Maßes sozialer Umverteilung und der hierin einzubeziehenden Gruppen. Dies ist in der GKV im Vergleich zu anderen Zweigen der Sozialversicherung ohnehin besonders groß, weil hier die nicht mit dem Einkommen korrelierenden Gesundheitsleistungen gegenüber den Lohnersatzleistungen so sehr im Vordergrund stehen.
Offensichtlich hängen dabei das Niveau und damit die Kosten der Gesundheitsversorgung und das erforderliche Maß sozialer Umverteilung miteinander zusammen. Je teurer die einkommensunabhängige Gesundheitsversorgung, umso dringlicher ist eine Verteilung der daraus erwachsenden Last auf möglichst viele und insbesondere breite Schultern. Umgekehrt muss, wer dies begrenzen will, entsprechend die Kosten begrenzen – gegebenenfalls auch zu Lasten des Niveaus der Gesundheitsversorgung.
Dies ist der sozialpolitische Hintergrund der Tagung vom April 2013, deren Referate in diesem Band versammelt sind. Die Referate von Thorsten Kingreen und Astrid Wallrabenstein befassen sich mit unterschiedlichen Aspekten und bei genauer Betrachtung unterschiedlichen Modellen der Ersetzung der nach ← 8 | 9 → gegebenen Rechtslage praktisch umfassenden3 Einwohnerpflichtversicherung im dualistischen System von GKV und PKV durch eine einheitliche soziale Krankenversicherung mit Solidarausgleich innerhalb derselben. Während der Kingreensche Beitrag das Konzept einer privatrechtlich organisierten umfassenden Einwohner-Pflichtversicherung auf der Basis von Krankenversicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit (VVaG) so durch dekliniert, dass im Wesentlichen ein funktionales Äquivalent zur GKV entsteht, konzentriert sich Astrid Wallrabenstein detailliert auf die Verfassungsfragen, die für eine Überführung aller Versicherungspflichtigen in eine öffentlich-rechtlich organisierte soziale Krankenversicherung (also die GKV) zu lösen sind. Das sind insbesondere diejenigen, die sich aus der Beendigung des Geschäftsmodells der privaten Kranken-Vollversicherung ergeben – einschließlich des Umgangs mit den zu diesem Geschäftsmodell gehörenden Altersrückstellungen.
Die Zusammenschau beider Beiträge macht klar, dass der Unterschied zwischen einer auf dem VVaG basierenden sozialen Pflichtkrankenversicherung (ähnlich dem niederländischen Modell, auf das Kingreen explizit verweist) und einer auf alle ausgeweiteten GKV nicht allzu groß ist und nichts mit dem vor 10 Jahren wogenden Streit um die Modelle der Bürgerversicherung und der einheitlichen Gesundheitsprämie („Kopfpauschale“) mit allein steuerfinanziertem Sozialausgleich4 zu tun hat. Vereinfachend kann man sagen, während es seinerzeit im Kern darum ging, ob eine Umverteilung der Kostenlast für die Krankenversicherung nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit allein über Besteuerung und Staatszuschüsse oder neben dem Steuer-Transfer-System auch innerhalb der Krankenversicherung stattfinden solle, befassen sich beide Beiträge in diesem Band mit Problemen und Varianten einer umfassenden Krankenversicherung mit internem Solidarausgleich.
Die beiden anderen Referate – von Stefan Huster und Ulrich Wenner – sind, wiederum mit unterschiedlichem Ansatz, mit dem zweiten Problem verknüpft, dem Niveau und damit den Kosten der Gesundheitsversorgung. Der Hustersche Beitrag zielt in das Zentrum des Dilemmas von Versorgungsniveau und Kosten. Die generellen gesetzlichen Vorgaben, die sich am deutlichsten in der Kombination des in § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V umschriebenen Versorgungsstandards mit ← 9 | 10 → dem in § 12 Abs. 1 SGB V formulierten Wirtschaftlichkeitsgebot zeigen, sind an Vagheit kaum zu überbieten.5 Insofern ist es klar und gesetzlich gewollt, dass die Vermittlung von Niveau und Kosten der Versorgung sowohl generalisierend als auch im konkreten Behandlungsfall der „Konkretisierung“6 des Leistungsanspruchs durch die Normsetzung der „gemeinsamen Selbstverwaltung“ – an der Spitze der G-BA – und die ärztlichen Behandler überantwortet ist, die ihrerseits wieder durch ökonomische Handlungsanreize einschließlich statistischer Wirtschaftlichkeitsprüfungen gesteuert werden.
Huster zeigt exemplarisch auf, dass und wie auf allen Stufen dieser Konkretisierung zwar einerseits die Fiktion aufrechterhalten wird, es gebe keine Befugnis, die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft bestgeeignete Therapie aus Kostengründen zu verweigern, andererseits aber doch solche Kosten-Nutzen-Erwägungen in die Konkretisierung einfließen. Gegen solche „versteckte Rationierung“ wendet er sich. Er plädiert dafür, das Unvermeidliche, nämlich die durch konkrete gesetzgeberische Entscheidungen nicht zu leistende Abwägung von Kosten und Nutzen jeweiliger Therapieoptionen offen in zu entwickelnden und gesetzlich zu regelnden Verfahren „offener Rationierung“ zu leisten. Solche schmerzlichen Abwägungsaufgaben sind heute vielleicht am deutlichsten erkennbar in der Frage, welche Dauer und welche Qualität der Lebensverlängerung bei tödlichen Erkrankungen den Einsatz welcher Therapiekosten vernünftigerweise rechtfertigen.
Details
- Seiten
- 133
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (PDF)
- 9783653052268
- ISBN (MOBI)
- 9783653968590
- ISBN (ePUB)
- 9783653968606
- ISBN (Hardcover)
- 9783631662168
- DOI
- 10.3726/978-3-653-05226-8
- Open Access
- CC-BY-NC-ND
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2014 (Dezember)
- Schlagworte
- Altersrückstellungen Portabilität Leistungsanspruch Dualismus GKV PKV Kosten-Nutzen-Abwägung
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 132 S.