Ich-Diskurse in Maxim Billers Prosa
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- 1. Wer ist Maxim Biller, und warum ist er interessant?
- 1.1. Gegenstand und Ziel dieser Untersuchung
- 1.2. Deutsch-jüdische Identität zwischen ‚Unsichtbarkeit‘ und ‚Sichtbarkeit‘
- 1.3. Biographie und Werk Billers
- 1.4. Journalistische und wissenschaftliche Rezeption von Billers Texten
- 1.5. Argumentation und Aufbau dieser Untersuchung
- 2. Ich-Diskurse in der Diaspora
- 2.1. Einleitung
- 2.2. Diskurs, Macht, Identität: die Anderen
- 2.3. Diaspora, Galut, ‚Negative Symbiose‘: ein Update
- 2.4. Vorführen, Demaskieren, Handeln: Billers Erzählstrategien
- 2.4.1. Hybridität
- 2.4.2. Fakt und Fiktion
- 2.4.3. Autobiographie
- 2.4.4. Leser und Effekte
- 3. Zwischen den Zuschreibungen: das Erzählen von jüdischer Identität in Der gebrauchte Jude
- 3.1. Einleitung
- 3.2. Der deutsche Literaturkanon: vom deutschen zum jüdischen Autor
- 3.3. Anknüpfungspunkte für Billers zeitgenössische, jüdische Literatur: die USA oder Deutschland?
- 3.4. Das Erschreiben von Heimat: Marcel Reich-Ranicki und die Emigranten
- 3.5. Die Tempojahre: der gebrauchte Jude in den deutschen Medien
- 3.6. Außenseiter in der eigenen ‚In-Group‘: Biller und die Frankfurter Juden
- 3.7. Zu Hause in der Diaspora: Billers Israel-Bild
- 4. ‚Unheimliche‘ Selbstbilder: das Eigene und das Andere in Esra
- 4.1. Einleitung
- 4.2. Gibt es eine Version von Identität? Der Gerichtsprozess zu Esra
- 4.3. Adams Esra-Geschichte: Selbstdarstellung durch das Andere
- 4.3.1. Der Doppelgänger und das ‚Unheimliche‘ in uns
- 4.3.2. Adams und Esras kulturelle Zugehörigkeit im Vergleich
- 4.3.3. Kulturelle Hybridität im Test: Maskulinität und jüdische Identität
- 4.3.4. Der Doppelgänger als Agent des nicht gelebten Lebens
- 5. Die ‚Negative Symbiose‘ – eine Fiktion: Billers frühe Erzählungen und Die Tochter
- 5.1. Einleitung
- 5.2. Erzählungen von Erzählungen von …: jüdische und deutsche Identität in ‚Harlem Holocaust‘ und ‚Finkelsteins Finger‘
- 5.2.1. Erfundene Authentizität in ‚Harlem Holocaust‘
- 5.2.2. Trügerische Identitätsdiskurse in ‚Finkelsteins Finger‘
- 5.3. ‚[U]topia of love‘ in Die Tochter
- 5.3.1. Der gepackte Koffer: eine Never Ending Story
- 5.3.2. ‚Unmögliche‘ Verbindungen: Jüdische Männer, deutsche Frauen und ihre Kinder
- 6. Fazit und Ausblick
- Bibliographie
1. Wer ist Maxim Biller, und warum ist er interessant?
1.1 Gegenstand und Ziel dieser Untersuchung
In dieser Untersuchung zeige ich, wie der zeitgenössische deutsch-jüdische Autor Maxim Biller stereotype Kategorien deutsch-jüdischer Identität hinterfragt, indem er sein komplexes und oft widersprüchliches Verständnis dieser Identität in und mit seinen Texten immer wieder reproduziert, modifiziert und inszeniert. Er zieht dazu bestehende Diskurse über jüdische und deutsche Identität heran, positioniert sich in deren Zwischenraum und kreiert so seine eigenen, persönlichen Ich-Diskurse. Auf diese Weise trägt Biller erheblich zu der neuen ‚Sichtbarkeit‘ der deutschen Juden seit 1989 bei.
In diesem ersten Kapitel erläutere ich die gesellschaftlichen Umstände, über die und unter denen Biller schreibt und erkläre, was genau ich mit neuer ‚Sichtbarkeit‘ meine. Außerdem ordne ich Billers Werk in seinen literarischen Kontext und erkläre, warum Biller einer gesonderten Analyse bedarf. Ich diskutiere im Anschluss daran die bisherige Forschung zu Biller und begründe, wie sich meine Untersuchung davon unterscheidet und wie ich mit meiner Argumentation dazu beitrage. Daran anknüpfend skizziere ich schließlich den theoretischen Rahmen, in dem sich meine Analyse von Billers Werk bewegt und lege den Aufbau meiner Untersuchung dar.
Deutsch-jüdische Identität ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Anfang der 1980er Jahre hat der Historiker Dan Diner das Verhältnis von Juden und Deutschen als eine ‚Negative Symbiose‘ beschrieben.1 Er behauptete, dass sich seit 1945 eine extreme Holocaust-Referentialität herausgebildet habe, die das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen erheblich beeinflusse. Jegliche Begegnungen von Juden und Deutschen würden von diesen auf Auschwitz zurückgeführt.2 Tatsächlich verbindet und trennt die ‚Negative Symbiose‘ beide Gruppen. Wie sich Juden und Deutsche selbst als Gemeinschaft wahrnehmen, ← 9 | 10 → ist, zumindest was das historische Erbe und dessen Bedeutung für die Gegenwart angeht, grundsätzlich verschieden und anhand des Anderen definiert.3
Aufgrund dieser Dichotomie ist es noch heute für viele Juden aus aller Welt, v.a. aus den USA und Israel, unbegreiflich, wie man freiwillig als Jude in Deutschland leben und gleichzeitig Jude und Deutscher sein könne.4
Die vermeintliche Unvereinbarkeit jüdischer und deutscher Identität wird auch innerhalb der jüdischen Gemeinden in Deutschland kritisch reflektiert und zeigt sich deutlich im Ringen um Bezeichnungen, z. B. in der öffentlichen Debatte um eine mögliche Umbenennung des Zentralrats der Juden in Deutschland (damals unter dem Vorsitz Charlotte Knoblochs) in Zentralrat der deutschen Juden im August 2009. Gegner einer Umbenennung, wie der ehemalige Vize-Vorsitzende Michel Friedmann, betonten, der Ausdruck ‚deutsche Juden‘ schließe die große Gruppe russischer Juden aus, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Deutschland gekommen waren und nur selten die deutsche Staatsbürgerschaft besäßen.5 Befürworter, wie der Schriftsteller und Journalist Rafael Seligmann, gaben dagegen zu Bedenken, dass es bei der Debatte weniger um die Einwanderer gehe, die Deutschland schließlich als ihre neue Heimat anderen Destinationen, wie Israel oder den USA, vorgezogen hätten und sehr gerne ‚deutsche Juden‘ wären. Die Vorbehalte bezögen sich vor allem auf die Holocaust-Überlebenden, denen eine uneingeschränkte Identifikation mit Deutschland immer noch schwer falle.6 Seligmann brachte die ‚Negative Symbiose‘ in die Debatte ein und betonte, ← 10 | 11 → dass die Geschichte von Juden und Deutschen unterschiedlich erinnert wird und ihnen Opfer- bzw. Täterrollen zuweist. Die Debatte veranschaulicht, wie emotional die Bezeichnungen ‚Juden‘ und ‚Deutsche‘ besetzt sind und dass sie nur selten die verschiedenen Selbstwahrnehmungen vieler Juden in Deutschland adäquat abbilden können.
Ich habe mich bewusst dazu entschieden, in meiner Untersuchung von ‚Juden‘ und ‚Deutschen‘ zu sprechen, auch wenn diese Trennlinie selten so genau zutrifft, sondern mit komplexen Konzepten jüdischer und deutscher Identität, wie etwa derjenigen Billers, konkurriert. Denn Biller beschäftigt sich genau mit diesen stereotypen Kategorien jüdischer und deutscher Identität, die auf der ‚Negativen Symbiose‘ beruhen und den Bezeichnungen ‚Juden‘ und ‚Deutsche‘ zugrunde liegen. Sie bilden die Angelpunkte seiner Texte. Billers Protagonisten und literarische Alter Egos bewegen sich in dem undefinierten Zwischenraum, den diese vereinfachenden Bezeichnungen hinterlassen und den Biller mit seinen vielschichtigen Geschichten besetzt. In seinen Texten erzählt er das, was die Bezeichnungen nicht abbilden können, aber mit hervorrufen: das oft widersprüchliche, komplexe und konflikthafte Erleben deutsch-jüdischer Identität. Außerdem reagiert und wirkt Biller mit seinen Texten auf einen Wandel innerhalb der deutschen Gesellschaft und in den jüdischen Gemeinden in Deutschland, der Gegenstand des folgenden Abschnitts ist.
1.2 Deutsch-jüdische Identität zwischen ‚Unsichtbarkeit‘ und ‚Sichtbarkeit‘
Der Generationenwandel innerhalb der Gruppe der deutschen Juden und die demographischen Entwicklungen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs haben eine Modifikation der stereotypen, von der ‚Negativen Symbiose‘ geprägten Kategorien von jüdischer und deutscher Identität notwendig gemacht. Denn beide Faktoren haben auf die ‚Sichtbarkeit‘ der deutschen Juden eingewirkt. An dieser ‚Sichtbarkeit‘ schreibt Biller, als Jude der jüngeren Generation, mit und trägt mit seinen Texten dazu bei, die vormalige ‚Unsichtbarkeit‘ jüdischer Identität in Deutschland zu überwinden.
Die Begriffe ‚Sichtbarkeit‘ und ‚Unsichtbarkeit‘ verwende ich in Anlehnung an den amerikanischen Kulturwissenschaftler Sander Gilman. Gilman zufolge sei der Alltag deutscher Juden bis etwa 1990 im Verborgenen, also für die Deutschen ‚unsichtbar‘, geblieben.7 Die Juden der Generation der Holocaust-Überlebenden ← 11 | 12 → hatten sich an die Situation in Nachkriegsdeutschland angepasst. Vielen von ihnen erschien ein möglichst unauffälliges Dasein, ein flaches, jüdisches Profil, wünschens- und empfehlenswert. Der Antisemitismus und die Judenverfolgungen des Nationalsozialismus lagen in den 1950er und 1960er Jahren noch nicht lange zurück und prägten die Art und Weise, wie die Mehrheit der Holocaust-Überlebenden die Deutschen wahrnahm und einschätzte. Schließlich konnten sie sich der individuellen NS-Vergangenheit der meisten Deutschen selten wirklich sicher sein. Sie hätten Mörder oder Mitläufer sein können. Es verunsicherte die Mehrheit der Holocaust-Überlebenden, dass die meisten Deutschen diesen Teil der deutschen Geschichte, nämlich die eigene Teilhabe am Holocaust, ausblendeten. Nicht auf das eigene Jüdisch-Sein aufmerksam zu machen, galt vielen Holocaust-Überlebenden daher als angemessene Vorsicht.8 Als ‚sichtbare‘ Juden mit starkem jüdischem Profil hätten sie auf den Holocaust und die deutsche Verantwortung hingewiesen. ‚Auschwitz werden uns die Deutschen nie verzeihen‘, fasste der israelische Psychoanalytiker Zwi Rex diese Situation zusammen.9
Eine Folge dieser Vorsicht und Zurückhaltung war, dass die deutschen Juden interne Angelegenheiten aus dem Gemeindeleben mehrheitlich nicht öffentlich problematisierten. Sie hielten sich stattdessen lange sehr bedeckt und thematisierten ihr Jüdisch-Sein kaum außerhalb der Gemeinden oder eines sicheren Umfelds, wie der Familie oder unter Freunden. Wenn sie sich vor Deutschen zu jüdischen Belangen äußerten, dann in möglichst institutionell strukturierter und geschlossener Form mit einer jüdischen Stimme und nicht zu kontroversen Themen, d.h. in keinem Falle anklagend, sondern moderat.10 Die offiziellen jüdischen Repräsentanten hatten sich daher seit der Gründung des Zentralrats der Juden in Deutschland 1950 auf einen regierungsnahen, kooperativen Kurs festgelegt.11 ← 12 | 13 →
Zusätzlich zu dieser nach Außen vermittelten Geschlossenheit war das religiöse Bekenntnis essentiell für die Zugehörigkeit zu der Jüdischen Gemeinde Deutschlands, die sich bis heute als konfessioneller Zusammenschluss versteht.12 Die Organisation der jüdischen Gemeinden unter der als öffentlich-rechtlicher Körperschaft verfassten Einheitsgemeinde, einer ‚hierarchical umbrella-like structure directed from the top‘, war nach dem Krieg als eine Art Bollwerk intendiert, das den deutschen Juden Stärke durch Einheitlichkeit gewähren sollte.13 In zahlreichen Gemeinden war und ist eine klare Dominanz der Orthodoxie zu verzeichnen, die auf das ursprüngliche Engagement zahlreicher osteuropäischer Displaced Persons zurückreicht, denen eine religiösen Fragen gegenüber eher indifferente Mehrheit vornehmlich säkularer Juden zum damaligen Zeitpunkt nicht widersprach.14 Hinzukommt, dass nach dem Holocaust ein eklatanter Mangel an Rabbinern und jüdischen Gelehrten bestand, die sich aktiv am Wiederaufbau der einstigen Wiege jüdischer Reformbewegungen, als die die deutsch-jüdische Diaspora galt, hätten beteiligen können und wollen.15 ‚Aus einer religiösen Perspektive ist Deutschland seit 1945 eine Wüste‘, resümierte der orthodoxe Psychologe Yizhak Ahren.16
Obwohl innerhalb der meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland auch heute noch eine halachisch-orthodoxe Definition jüdischer Identität angewendet wird, wonach nur die Kinder jüdischer Mütter als Juden gelten, lege ich meiner Untersuchung ein offeneres, progressives Verständnis jüdischer Identität zugrunde. Wenn ich von Juden spreche, beziehe ich z. B. auch Personen mit ein, die ausschließlich einen jüdischen Vater haben oder die ihr Jüdisch-Sein außerhalb religiöser Verbindlichkeiten definieren, was Gilman als ‚self-label […] ← 13 | 14 → with a very wide range of meaning‘ bezeichnet.17 Nur so kann ich komplexe, auch säkulare und individuelle Ansätze, jüdische Identität zu bestimmen, wie Billers, berücksichtigen und analysieren. Dass die Vorherrschaft einer halachischen Definition jüdischer Identität für viele Juden in Deutschland problematisch war und ist, zeigt Biller mit seiner Reflexion darüber in seinen Texten. Er muss sich als deutscher Jude zwangsläufig mit den Ansichten der Mehrheit bzw. der Repräsentanten der deutschen Juden befassen.
Die öffentliche Zurückhaltung und vermeintliche Homogenität der Juden in Deutschland führte letztlich zu deren ‚Unsichtbarkeit‘ innerhalb der deutschen Gesellschaft. Zu dieser ‚Unsichtbarkeit‘ durch Geschlossenheit und Homogenität trugen zusätzlich die Einstellungen vieler Deutschen nach 1945 bei. Die meisten Deutschen nahmen an, dass aufgrund nationalsozialistischer Verfolgung und Vernichtung erstens alle Juden aus Deutschland verschwunden seien und zweitens heute nicht mehr als ‚sichtbar‘ wahrgenommen werden dürften. Also spielten Juden keine Rolle für das alltägliche Leben der meisten Deutschen und traten nur in Erscheinung, wenn von offizieller deutscher Seite des Holocausts gedacht wurde, etwa in Museen oder zu Gedenkveranstaltungen. Nur in diesem Kontext waren Juden in Deutschland zeitweise ‚sichtbar‘.18
Eine Besonderheit der sogenannten deutschen Vergangenheitsbewältigung war und ist, dass sie bis in die Mitte der 1990er Jahre vorwiegend von Deutschen betrieben wurde und mehr oder weniger unter Ausschluss der jüdischen Bevölkerung erfolgte. Der deutsch-jüdische Dialog fand einseitig, vielmehr als deutscher Monolog und in erster Linie in und über Museen, Mahnmale sowie Gedenkveranstaltungen statt.19 Wurden deutsche Juden aktiv in die Vergangenheitsbewältigung mit einbezogen, kamen zumeist prominente Zeitzeugen zu Wort, einzelne repräsentative und in der deutschen Medienlandschaft etablierte Persönlichkeiten, wie etwa Ralph Giordano oder Marcel Reich-Ranicki, von denen nicht zu befürchten war, dass sie laute Anklage gegen die Deutschen erhoben.20 Die kontrollierte Beteiligung an der historischen Aufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung fand in dem ← 14 | 15 → Maße statt, in dem sie den Deutschen wichtig und nützlich erschien, d.h. sie richtete sich nicht nach den jüdischen Bedürfnissen, Geschichte aufzuarbeiten.21 Die Vergangenheitsbewältigung war in einen deutschen Diskurs eingebettet und lief stets Gefahr, von anderen Diskursen abgelöst zu werden. Das zeigt sich z. B. im Historikerstreit von 1986/ 87, in dem unter prominenter deutscher Beteiligung die Einmaligkeit des Holocausts debattiert wurde – mit Sicherheit kein jüdisches Anliegen.22
Die vereinfachenden Fremd- und Selbstwahrnehmungen jüdischer Identität in Deutschland haben zu Konfusion über deutsch-jüdische Identität bei Juden und Deutschen geführt. Deutsch-jüdische Identität ist zu einer Problematik geworden, mit der sich v.a. jüngere Generationen befassen mussten und müssen, deren Lebenswirklichkeit nur indirekt vom Holocaust geprägt ist. In seinem Buch Being Jewish in the New Germany (2006) analysiert der amerikanische Komparatist Jeffrey Peck die Entwicklung deutsch-jüdischen Lebens in Deutschland nach 1989 und vergleicht es mit den davor bestehenden Strukturen. Er fasst die Schwierigkeit, individuelle Konzepte deutsch-jüdischer Identität zu definieren wie folgt zusammen:
[A]ll of the variations used to describe the population – “German Jewish”, “Jew in Germany”, “German of the Jewish faith”, or even the favorite of well-meaning German politicians, “Jewish co-citizen” – connote the multiple ways of defining the relationships ← 15 | 16 → of Jews to Germans and of Jews who live in Germany to themselves and Jews living elsewhere. In other words, it is important to recognize that these varying terms show that Jewish identity is not static, but rather historical and dynamic.23
Tatsächlich hat sich die Problematik, Jude und Deutscher gleichzeitig zu sein und sich zwischen den Diskursen der jüdischen Eltern und des deutschen Umfelds zu bewegen zu der Thematik entwickelt, der sich deutsch-jüdische Autoren, wie Biller, heute stellen. Seit den frühen 1980er Jahren publizieren deutsch-jüdische Intellektuelle, wie Lea Fleischmann, Henryk Broder, Esther Dischereit, Barbara Honigmann, Rafael Seligmann und Maxim Biller, zumeist autobiographische und journalistische Texte, in denen sie ihre Selbstwahrnehmung als Juden und ihr Leben zwischen deutscher Mehrheit und jüdischer Minderheit thematisieren.24 Die Texte der sogenannten Zweiten Generation entbehren jener Zurückhaltung, die die Generation der Holocaust-Überlebenden gepflegt hatte und sind stattdessen bewusst kontrovers. Ihre Autoren äußern sich deutlich und kritisch als Juden.25
Den Begriff ‚zweite Generation‘ prägte die amerikanische Autorin Helen Epstein in ihrem Buch Die Kinder des Holocaust (1979), in dem sie ihre Interviews mit Kindern Überlebender beschreibt. Epstein beobachtete, wie sich die Erlebnisse der Eltern auf die Biographien der Kinder auswirkten. Viele Kinder erhielten z. B. die Namen Ermordeter und wurden ohne ihr direktes Zutun zu Hoffnungsträgern und Bewahrern der Erinnerung. Ihre Existenz erhielt von Anbeginn eine Bedeutung, die über die individuelle Dimension ← 16 | 17 → ihrer eigenen Biographie hinausging. Hinzu kam, dass das Verhalten und die Einstellungen der Eltern oft von deren Holocaust-Erfahrungen und -Erlebnissen beeinflusst waren, die ihr Menschen- und Weltbild geprägt hatten und ihren Alltag bestimmten. Oftmals fühlten sich die Kinder von Überlebenden für das Glück ihrer Eltern verantwortlich, nahmen so selbst die Elternrolle an und vermieden Konfrontationen mit den Eltern oder lebten diejenigen Teile der elterlichen Vergangenheit nach, die jene verloren hatten.26
Viele dieser Kinder reflektierten ihre Erlebnisse, Eindrücke und ihr Verhältnis zur Elterngeneration in literarischen Werken, so dass sich der Begriff Zweite Generation zur Bezeichnung der literarischen Richtung etabliert hat, zu der auch Biller zählt. Der aus Deutschland stammende Komparatist Thomas Nolden hat die Lebensrealität der Zweiten Generation im Spannungsfeld von ‚jüdischer Tradition‘ und ‚nichtjüdischer Gesellschaft‘ definiert.27 Im Gegensatz zu vielen jüdischen Familien in der europäischen Diaspora, die im Holocaust auseinandergerissen wurden und Angehörige verloren, waren die aus Aserbaidschan bzw. Russland stammenden Billers nicht unmittelbar vom Holocaust betroffen.28 Doch Billers kritische Auseinandersetzung mit Themen, die die jüngere Generation deutscher Juden betreffen, z. B. Beziehungen zwischen jüdischen Männern und ← 17 | 18 → deutschen Frauen oder das Verhältnis zu Israel als mögliche Heimat, zeichnet ihn als einen Autoren der Zweiten Generation aus.
Die ersten Publikationen der Zweiten Generation waren von einschneidenden, kulturellen und politischen Ereignissen begleitet, z. B. von den öffentlichen Reaktionen auf Rainer Werner Fassbinders Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod, die Biller in seinem Buch Der gebrauchte Jude (2009) beschreibt.29 Zu nennen ist hier zudem eine Reihe anderer Vorfälle in den 1980er Jahren, etwa die Turbulenzen um die Frage, ob der achte Mai als Gedenk- oder als Feiertag begangen werden solle oder die Bitburg-Affäre 1985.30
Indem sich einzelne junge deutsche Juden der zweiten Generation öffentlich und kritisch zu Themen äußerten, die sie als Juden angingen und beschäftigten, veränderten sie das bis dahin flache Profil der Gruppe der deutschen Juden. In Abgrenzung sowohl von den eigenen Eltern als auch von den Deutschen initiierte die Zweite Generation einen Prozess der Dissimilation und beteiligte sich aktiv und selbstbestimmt am Diskurs über deutsch-jüdische Identität.31 ← 18 | 19 →
Zu diesen internen Faktoren, die zum Wandel von ‚Unsichtbarkeit‘ zu ‚Sichtbarkeit‘ der deutschen Juden beigetragen haben, sind nach 1989 externe Faktoren hinzugekommen. Vor allem die vermehrte Einwanderung von ausländischen Juden hat sich positiv auf die ‚Sichtbarkeit‘ der deutschen Juden ausgewirkt. Denn die Einwanderer haben mit ihren verschiedenen nationalen, kulturellen und religiösen Hintergründen die jüdischen Gemeinden heterogenisiert und entgegen der Erwartungen vieler Juden und Deutschen die Vielfältigkeit jüdischen Lebens in Deutschland revitalisiert.
Internationale jüdische Organisationen hatten Deutschland nach 1945 zum ‚gebannte[n] Land‘ erklärt und die Auswanderung nach Palästina und in die USA gefordert (und gefördert).32 Trotzdem sind seit den 1950er Jahren viele Juden nach Deutschland gezogen. Dieser anhaltende Migrationsstrom führte zu einer kontinuierlich wachsenden Internationalisierung der jüdischen Gemeinden.33 Kamen anfangs viele Juden aus Israel und Lateinamerika, so hat ← 19 | 20 → seit den 1980er Jahren insbesondere die Zahl osteuropäischer Einwanderer aus Polen und der Sowjetunion beständig zugenommen.34 Mitte der 1980er Jahre war die Zahl der Gemeindemitglieder bereits auf etwa 30 000 angestiegen. Das sind circa doppelt so viele Mitglieder wie unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Kontingentflüchtlingsgesetz von 1991 setzte sich vor allem die Einwanderung osteuropäischer Juden fort.35 Heute sind offiziell etwa 100 000 Juden in den jüdischen Gemeinden in Deutschland registriert; mehr als zwei Drittel stammen aus der ehemaligen Sowjetunion.36 Diese Zahl schließt diejenigen Juden aus, die sich nicht offiziell in einer jüdischen Gemeinde registriert haben. Das betrifft gegenwärtig etwa 100 000 bis 200 000 Personen.37 Seit 2004 sind die Einwanderungsstatistiken erstmals rückläufig, was maßgeblich an dem neuen Zuwanderungsgesetz von 2004 liegt, das die Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion strikt begrenzt.38
Mittlerweile hat Deutschland die am schnellsten wachsende und die fünftgrößte jüdische Diaspora Europas und ist – scheinbar paradoxerweise – ein beliebteres Ziel für jüdische Einwanderer als z. B. Israel.39 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, größtenteils aus der Ukraine, gefolgt von Russland und den baltischen Staaten, die heute in vielen Gemeinden die Mehrheit der Mitglieder bilden und deren soziale und demographische Struktur prägen, stellen die ‚Unsichtbarkeit‘ und vermeintliche Homogenität der Juden in Deutschland ← 20 | 21 → zusätzlich zu den individuellen, öffentlichen Äußerungen der Zweiten Generation in Frage.40
Die Zugänge zum Judentum und das jüdische Selbstverständnis vieler russischer Juden variieren erheblich und reichen von Unkenntnis jüdischer Sitten und Gebräuche bis hin zu ausgeprägter Religiosität und großem Traditionsbewusstsein. Viele der russischen Einwanderer waren z. B. durch den strikt antireligiösen Kurs der Sowjetunion ihrer Religion entfremdet worden und entbehren sowohl religiöses Wissen als auch ein säkulares, jüdisches Bewusstsein.41 Zudem steht die sowjetische Definition dessen, wer Jude ist, im Widerspruch zur Halacha.42 Die orthodoxe Praxis, die die meisten Gemeinden anwenden, zeigt sich deshalb oftmals überfordert oder unzureichend.43 Das religiöse Selbstverständnis ← 21 | 22 → der Mehrheit der deutschen Juden muss sich den veränderten Bedingungen anpassen. Denn trotz der bewahrten Organisation hat sich die tatsächliche religiöse Einheitlichkeit nach 1989 aufgelöst. Die Einwanderung hat ein säkulares jüdisches Selbstverständnis gestärkt, auf das sich die konfessionell definierten Gemeinden erst einstellen mussten. Viele Einwanderer definieren ihr Jüdisch-Sein jenseits konfessioneller Bekenntnisse und religiöser Praktiken und haben somit das jüdische Selbstverständnis in Deutschland erweitert.44
Zu den religiösen Faktoren kommt hinzu, dass viele Juden aus der Sowjetunion östlich von Stalingrad gelebt hatten und daher keiner unmittelbaren, nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt waren. Ihre Wahrnehmung des Zweiten Weltkrieges ist oftmals von den militärischen Erfolgen der Roten Armee dominiert.45 Sich als Opfer des Holocausts wahrzunehmen, liegt vielen von ihnen fern. Judenverfolgungen assoziieren einige dieser Juden mehr mit dem Stalinismus als mit Deutschland.46 Das gilt natürlich nicht für alle Juden aus der ehemaligen Sowjetunion; aber die teilweise unterschiedliche Selbstwahrnehmung als Juden hat die Opferidentität als maßgebliches Identifikationsmodell der deutschen Juden in ihrer Einheitlichkeit in Frage gestellt.
Ein früher Kritiker kollektiver Selbstbilder der deutschen Juden der Generation der Holocaust-Überlebenden war Rafael Seligmann, der 1989 seinen ersten Roman, Rubinsteins Versteigerung, veröffentlichte.47 Gilman, der in seinem 1995 erschienen Buch Jews in Today’s German Culture die jüdische Kultur und Literatur in Deutschland nach der Einheit beschreibt und fragt, was das Jüdisch-Sein im neuen Deutschland für die Autoren bedeutet, argumentiert, dass dieser Roman der erste Text ist, der interne Angelegenheiten jüdischer Haushalte und ← 22 | 23 → Gemeinden zum Thema hat und sie kritisch reflektiert bzw. sich darüber mokiert. Seligmann habe mit seinem Erstlingswerk die ‚Sichtbarkeit‘ der deutschen Juden immens gefördert und einen Trend eingeleitet.48 Viele ältere Juden der Generation der Holocaust-Überlebenden lehnten Seligmanns Buch aus diesem Grund ab und klagten ihn der ‚Nestbeschmutzung‘ an.49
Details
- Seiten
- 266
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (PDF)
- 9783653050462
- ISBN (MOBI)
- 9783653975734
- ISBN (ePUB)
- 9783653975741
- ISBN (Hardcover)
- 9783631657539
- DOI
- 10.3726/978-3-653-05046-2
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (August)
- Schlagworte
- Diskurstheorie Performativität Zweite Generation Diaspora Negative Symbiose
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 266 S.