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Der andere Islam

Kultur, Identität und Demokratie Aus dem Französischen übersetzt und eingeleitet von Hans Jörg Sandkühler

von Fethi Meskini (Autor:in)
©2015 Andere 160 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch, einem modernen Islam verpflichtet, ist von aktueller Brisanz: Gegen die voreilige Identifizierung von Islam, Islamismus und Terrorismus ist Aufklärung über die islamisch-arabischen religiösen und politischen Kulturen notwendig. Der Autor fragt nach der Universalisierbarkeit bzw. Universalität von Normen und Werten, nach der Autonomie eines von Unterdrückung befreiten muslimischen «Selbst» und nach einer post-islamischen Identität. Er fordert Freiheit im Glauben und eine im Rahmen einer Ethik der Sorge, guten Nachbarschaft und Hospitalität artikulierte Toleranz. Sein Ziel ist eine von allgemeinem Gerechtigkeitswillen bestimmte Demokratie, in der Konflikte zwischen Gläubigen und Laizisten durch die Befähigung zum Sich-Übersetzen in der Perspektive des Anderen gelöst werden können.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Islam: Religion, Demokratie und Revolution
  • Vorwort des Autors Denken-mit, gute Nachbarschaft pflegen, Besucher sein
  • Gestalten der Menschheit
  • Ist die Menschheit universell? oder Universal und universell: Was ist oder wer ist der Mensch?
  • 1. Einleitung: Über den vielfältigen Charakter der universellen Quellen des Selbst der westlichen Welt
  • 2. Exodus 3, 14: »Ich bin der ›ich-bin-da‹« – eine nicht-griechische Auffassung des epekeina tes ousias
  • 3. Katholou und katholikos. Oder: die Sinnverschiebung des Universellen von der Frage ›was ist es?‹ zu der Frage ›wer ist er?‹
  • 4. Werden, was ich bin, oder werden, wer ich bin: Nietzsche versus Pindar
  • 5. Fazit: Das Universelle und die Ernüchterung oder die Zukunft des Jenseitigen
  • Entschuldigung, Verzeihen und Rechtfertigung oder Monotheistische Politiken
  • 1. Einleitung: Denken-mit, aufsuchen, anerkennen
  • 2. Das Geschlecht des ›letzten Muselman‹ oder Welche Gemeinschaft auch immer
  • 3. Entschuldigung, Religion und Verzeihen: Über das Unentschuldbare
  • 4. Entschuldigung, Fehlbarkeit, Zeugenschaft: Die Schuldvermutung
  • 5. Unschuld, Widerstand und Laizität. Oder: finstere Aufklärung
  • 6. Gerechtigkeitswille und Rachsucht: Über das nicht zu Rechtfertigende
  • 7. Zum Schluss: Recht und Monotheismus. Oder: Die Avatare der ›Justifianz‹
  • Der letzte Kommunitarier oder Nach der Identität
  • 1. Einleitung: Homo identicus oder homo communis?
  • 2. Wer ist der letzte Kommunitarier?
  • 3. Homo identicus oder Was bedeutet es in der Epoche der Hermeneutiken des Selbst, man selbst zu sein?
  • 4. Wie identifiziert man sich auf die Art des ›Nach‹? Der Fall des Monotheisten
  • 5. Schlussfolgerung: Die Identität und das Universelle oder Die erste Generation nach dem Genom
  • Toleranz und die Existenz als Dhimmi oder Gute Nachbarschaft jenseits der Normen
  • 1. Einleitung: Die ›Dhimmi-Existenz‹ oder der Pakt der Toleranz
  • 2. Dhimmi-Existenz und das Erbe Abrahams: die Grenzen der Toleranz
  • 3. Das Gesetz der Dhimmi-Existenz: die tolerante Einstellung im Islam
  • 4. Die Einstellung gegenüber Dhimmis als Tolerierung des nicht Tolerierbaren: Der Fall des zoroastrischen Inzests
  • 5. Zum Schluss: Dhimmi-Existenz und Säkularität oder Die Einsamkeit des modernen Muslim
  • Sind unsere ›Brüder‹ Demokraten? oder Demokratie und theologisch-politisches Paradigma der Brüderlichkeit
  • Zur Identität der Revolution
  • 1. Eine Revolution ist keine persönliche Handlung
  • 2. Eine Revolution ist kein plötzliches Ereignis
  • 3. Der ›Westen‹ und die Revolution: Eine verzögerte Überraschung
  • 4. Der Nationalstaat, die Nation und der Identitätsapparat
  • 5. Wann erhebt sich ein Volk? – oder: Die positive Unzufriedenheit
  • 6. Die Revolution als erschreckend formaler Akt
  • 7. Das öffentliche Schweigen und die großen Worte
  • 8. Die Kunst des Sitzstreiks und das Schweigen des Militärs
  • 9. Die Revolution der Würde
  • 10. Die Revolution und die Eliten: Über die traditionellen politischen Identitäten hinaus
  • 11. Die zivile Freiheit und die Revolution
  • 12. Identität als Überbleibsel des Nationalstaates bzw. der Nation
  • 13. Die Revolution und die Übersetzung: Zu einer neuen zivilen Vernunft
  • 14. Fazit: Die Revolution und die Demokratie
  • Quellennachweise
  • Personenregister
  • Sachregister

Islam: Religion, Demokratie und Revolution. Einführende Bemerkungen von Hans Jörg Sandkühler

Seit Beginn des Jahres 2011 hat das, was im Westen der ›Arabische Frühling‹ genannt worden ist, die Aufmerksamkeit auf die Länder Nordafrikas auf sich gezogen. In Tunesien sprach man von der Revolution des 14. Januar, der Flucht des Diktators Ben Ali und seines Familienclans, der das Land als sein privates Eigentum missbraucht und die gesamte Ökonomie – von der nationalen Fluggesellschaft über die Industrie bis zu den Banken – unter sich aufgeteilt hatte. Revolution des 14. Januar – in dieser Wortwahl spiegelte sich eine geradezu illusionäre Hoffnung auf schnellen Wandel, nicht aber, dass Revolutionen historische Prozesse sind, die an einem Tag weder beginnen noch enden. Inzwischen wurde – vor allem in Ägypten – schmerzlich bewusst, dass sich die Probleme, die die Revolution ausgelöst haben, nicht kurzfristig in Luft auflösen konnten: weder die Macht des die Menschenrechte verletzenden Polizeistaats noch die politischen Institutionen und Kader des alten Regimes, weder soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit noch die Arbeitslosigkeit vor allem der Jugend.

Die öffentliche Meinung im Westen hat die revolutionären Prozesse in Nordafrika als Kampf um die Achtung und den Schutz der Menschenwürde und politischer und sozialer Menschenrechte begrüßt. Doch schon bald zeigt sie sich aufgrund der ersten Wahlen in Tunesien und der politischen Prozesse in Ägypten desillusioniert. Warum, so wird hilflos gefragt, siegen islamistische Parteien? Warum übernimmt in Ägypten das Militär wieder die Macht? Diese Fragen lassen erkennen, welcher Mangel an Wissen, welches Ausmaß an Vorurteilen die Öffentlichkeit im Westen belastet. Worin besteht dieser Defekt westlichen Vorstellungsvermögens? Zunächst einmal in der verbreiteten Unterstellung, Demokratie und Islam passten nicht zusammen, gerade so, als wären die ›Anderen‹, die ›Fremden‹, die Muslime, nicht einfach Menschen mit Sehnsucht nach Achtung ihrer Würde, ihrer Rechte und Freiheiten, nach sozialer Sicherheit und Wohlstand und deshalb nach Demokratie. Der zweite Grund der Unkenntnis und Vorurteile zeigt sich in realitätsfernen Begriffen: in der Rede von der ← 9 | 10 → arabischen Welt, dem Islam und der Shari‘a. Der dritte Grund ist der 11. September, ist der nachfolgende terroristische Fundamentalismus bis hin zur heutigen Terrormiliz unter dem angemaßten Namen ›Islamischer Staat‹, ist die damit verbundene Islamophobie, ist die voreilige Identifizierung von Islam, Islamismus, Fundamentalismus und Terrorismus.

Aufklärung ist notwendig – über die islamisch-arabischen religiösen und politischen Kulturen und über Religions-, Politik-, Rechts- und Menschenrechtsverständnisse, die in sie eingebettet sind.

Den Islam hat es nie gegeben; es gibt Sunniten – die Mehrheit – und unter ihnen die Glaubensrichtungen der Hanafiten, Malikiten, Hanbaliten und Schafiiten, es gibt Schiiten, Charidchiten, Sufis und Salafiten. Ihre Glaubensprinzipien und Rechtsvorstellungen sind alles andere als homogen. Die arabische Welt hat es nie gegeben, auch wenn arabische Nationalisten und Panarabisten von ihr als Einheit sprachen und sprechen; von Syrien bis Marokko leben Menschen in Gesellschaften mit höchst unterschiedlichen religiösen Traditionen, verschiedenen Kolonialismus-Erfahrungen und voneinander abweichenden politischen Verfassungen und Rechtssystemen. Die Shari‘a hat es so wenig gegeben wie das islamische Recht, das oft fälschlich mit der nie verschriftlichten und für verschiedenste Interpretationen offenen Shari‘a gleichgesetzt wird. Die Shari‘a ist die Gesamtheit der islamischen religiösen, moralischen und rechtlichen Normen. Sie mit den z. B. in Saudi-Arabien oder im Iran geltenden unmenschlichen Regeln des Strafrechts gleichzusetzen, ist so, als würde man den Katholizismus mit dem römischen Kirchenrecht identifizieren. Selbst wenn sich viele arabisch-islamische Staaten dem Buchstaben ihrer Verfassungen nach auf die Shari‘a berufen, steht damit noch nicht fest, in welchem Geist sie ihr welche Bedeutung zuschreiben und ob sie damit überhaupt strafrechtliche Vorschriften verknüpfen.

Ferner wird im Westen verkannt, dass die Menschenrechtsverletzungen durch autoritäre arabischer Regime bereits vor der Revolution auf zivilgesellschaftlichen, immer wieder hart unterdrückten Widerstand gestoßen sind. Die vier Menschenrechtserklärungen, die zwischen 1981 und 2004 in der islamischen und arabischen Welt verabschiedet wurden, sind kein Ausdruck des Islam als Religion. In ihnen spiegelt sich ein politisierter Islam, der die Religion missbraucht, wie deutsche Kardinäle ihre Religion missbraucht haben, als sie Hitlers Waffen segneten. Und schließlich drängt sich ← 10 | 11 → eine Frage auf, die man im Westen wir selbstkritisch stellen sollte und vor der doch viele zurückscheuen: Sollten wir im so genannten Kampf gegen den Terrorismus die zahllosen Toten vergessen, die unter dem inhumanen Begriff ›Kollateralschäden‹ verbuchten Opfer der Kriege, die im Irak oder in Afghanistan im Namen von Menschenrechten und Demokratie geführt werden? In den Ländern des Maghreb sind sie so wenig vergessen wie die Unterdrückung der Palestinenser.

Aufklärung ist in vielfacher Hinsicht nötig. Deshalb ist es wichtig, dass arabisch-islamische Stimmen zu Wort kommen, die ihr Bild von Religion, Revolution und Demokratie zeichnen, Stimmen, die erklären können, dass und warum sich die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten nicht gegen den Islam richten muss, sondern gegen religiösen Fundamentalismus und gegen Islamismus als politische Ideologie. Weder die von Salafisten in Ägypten geforderte Rückkehr zum autokratischen Kalifat noch der iranische ›Gottesstaat‹ folgen zwingend aus dem Koran, diesem Buch der Offenbarung, das nicht anders als die Bibel jahrhundertelang verschieden interpretiert worden ist. Der Koran muss als Dokument seiner Zeit gelesen werden – der Zeit vor 1400 Jahren. Dies gilt auch für die sunna, die Erzählungen der im religiösen und weltlichen Leben nachahmenswerten Taten des Propheten Mohammed, und für die hadith, die Überlieferungen seiner im Koran nicht enthaltenen Empfehlungen, Verbote und religiös-moralischen Warnungen. In einem hadith heißt es: »Gott sendet dieser Gemeinschaft [des Islam] zu jeder Jahrhundertwende einen Menschen mit dem Auftrag, die Religion zu erneuern.«

Warum setzen so viele Menschen in den ersten freien Wahlen nach der Revolution ihre Hoffnung auf den Islam, warum auf religiös orientierte Parteien? Eine erste Antwort muss lauten: Ihre vom modernen, weitgehend westlichen Nationalstaatsmodellen entlehnten Staat enttäuschten Hoffnungen richten sich auf die Erneuerung der in Diktaturen missbrauchten und verzerrten Religion, auf eine Alltagsreligion, die Gerechtigkeit und Frieden will, kulturellen und politischen Pluralismus nicht verhindert und mit Demokratie vereinbar ist. Sie bekennen sich zum Vers 256 der zweiten Sure des Koran, der lautet: »Es soll kein Zwang sein im Glauben.«

Der Islam spielt nicht etwa erst jetzt eine wegweiswende Rolle im arabischen politischen Leben. Anders als im laizistischen Tunesien, einem Land mit uneingeschränkten Frauenrechten, hohem Bildungsniveau und bis ← 11 | 12 → zur Revolution ohne Islamismus, hat er in anderen Ländern schon lange eine politische und vor allem eine soziale Rolle übernehmen müssen. In Ägypten waren die unter Mubarak verfolgten Muslimbrüder und in der demokratischen Volksrepublik Algerien waren radikale, als Islamisten blutig verfolgte Islam-Anhänger bemüht, das Versagen des Rechts- und Sozialstaats zu kompensieren: Die Moschee war für die Armen der Ort solidarischer sozialer Hilfe, und das im Staat nicht mehr zu erwartende Recht sollten die Geistlichen sprechen, die Imame.

Dies ist die eine Seite der Medaille. Doch es wäre schönfärberisch, die Augen vor den in einigen Ländern sichtbaren Tendenzen zu verschließen, die mit bestimmten – keineswegs aber allen – Verständnissen des Islam verbunden sind: vor der im Namen der umma, der islamischen Gemeinschaft, erzwungenen Re-Islamisierung des Rechts, vor der Missachtung der Rechte der Frauen, vor Todesurteilen bei Abfall vom Glauben und vor der Zunahme fundamentalistischer Bewegungen, die zu terrorisierender Gewalt greifen, sobald sie von ihnen behauptetes ›göttliches Recht‹ verletzt glauben.

Doch nicht weniger irreführend wäre die Behauptung, dies alles sei eben der Islam. Innerhalb der heutigen islamischen Kultur gibt es nicht weniger Selbstkritik als Fanatismus. ›Krise des Islam‹ ist ein bei Intellektuellen gängiges Stichwort. Der tunesische Psychoanalytiker Fethi Benslama fragte »nach der Verletzung, die im Feld des Islam einen derart verzweifelten Willen zu Zerstörung und Selbstzerstörung freigesetzt hat«. Seine Antwort: »Was wir denken und erreichen müssen, ist eine Befreiung ohne Zugeständnisse an den Ursprung, der diese Verwüstung hervorgebracht hat. Wir sind zu Ungehorsam verpflichtet, im Inneren unseres Selbst und gegenüber den Formen der Knechtschaft, die zu dieser Depression geführt haben.«1

Details

Seiten
160
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (PDF)
9783653056921
ISBN (MOBI)
9783653966459
ISBN (ePUB)
9783653966466
ISBN (Hardcover)
9783631661369
DOI
10.3726/978-3-653-05692-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Islamismus Revolution Demokratie Toleranz Muslimische Identität
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 160 S.

Biographische Angaben

Fethi Meskini (Autor:in)

Fethi Meskini ist Professor an der Universität Tunis El Manar, Abteilung Philosophie, mit dem Schwerpunkt Deutsche Philosophie. Er hat Werke von Kant, Heidegger und Nietzsche ins Arabische übersetzt.

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Titel: Der andere Islam