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Adel im Grenzraum

Transkulturelle Verflechtungen im Preußenland vom 18. bis zum 20. Jahrhundert

von Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk (Band-Herausgeber:in) Sabine Jagodzinski (Band-Herausgeber:in) Miloš Řeznik (Band-Herausgeber:in)
©2021 Konferenzband 296 Seiten

Zusammenfassung

Das historische Preußenland zeichnete sich seit dem Mittelalter durch Konflikte, Koexistenz und Verflechtung von Sprachen, Kulturen, Konfessionen und Traditionen aus. Vor diesem Hintergrund bildeten sich regionale Adelslandschaften. Seit dem 18. Jahrhundert wurden sie durch die Auflösung der ständischen Verfassung sowie die moderne Staats- und Nationsbildung überformt. Der zum Teil stürmische politische, soziale und kulturelle Wandel traf auf die ausgeprägten regionalen, ständischen und sozialen Traditionen des Adels. Dessen Grenzlage wurde seit dem Ende des Ancien Régime bis zur Spätmoderne immer neu definiert. Die Beiträge des Bandes gehen der Wechselwirkung zwischen Tradition und Wandel im Kontext der vielfältigen »Grenzräume« nach und stellen das Thema in einen mitteleuropäischen Kontext aus historischer, kunsthistorischer und literaturwissenschaftlicher Sicht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Adel, Grenzraum und transregionale Verflechtung: Einführende Bemerkungen (Miloš Řezník & Sabine Jagodzinski)
  • Adlige und Gutsbesitzer im preußischen Teilungsgebiet Forschungsstand und Forschungsvorschläge (Witold Molik)
  • Verflechtungen und Verwerfungen
  • Adlige Frauen in der Landfrauenbewegung: Die Entstehungsumstände der ersten Landwirtschaftlichen Hausfrauenvereine in der preußischen Provinz Pommern am Vorabend des Ersten Weltkriegs (Agnieszka Szudarek)
  • Die transkulturelle Bedeutung des Tanzes an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert: Maître de danse Gottfried Taubert und sein Rechtschaffener Tantzmeister (1717) (Aleksandra Kajdańska)
  • Erzählte Leben, erzähltes Land – Adlige Autobiografik
  • Zu den Memoiren von Luise Fürstin Radziwiłł (1770–1836) und Mathilde Fürstin Sapieha (1873–1968) (Monika Mańczyk-Krygiel)
  • Eine ambitionierte Schriftstellerin und ein privater Tagebuchschreiber Louise von Krockow (1749–1803) und Hans Carl Ernst von Krockow (1769–1841) als Autoren (Magdalena Izabella Sacha)
  • Oase oder Wüste? Die Niederlausitz als Teil Preußens im kulturgesellschaftlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts (Aleksandra Kmak-Pamirska)
  • „Dieser Name steht für einen Traum“ Familiengeschichtliche Metafiktion und durchgearbeitete Tradition in Péter Esterházys Prosa (Marcell Mártonffy)
  • Gestaltete Räume – Adel, Kunst und Architektur
  • Grenzüberschreitende Modi architektonischer Repräsentation – Adelssitze im Königlichen und Herzogtum / Königreich Preußen im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert (Sabine Jagodzinski)
  • Der polnische Palladianismus am Beispiel der Parkanlage Arkadia und des Jagdschlosses Antonin der Fürstenfamilie Radziwiłł im preußischen Teilungsgebiet (Katharina Ute Mann)
  • Zuschreibungen – Wahrnehmungen
  • Der Gebrauch der deutschen Partikel „von“ in der Schreibweise der kaschubischen Adelsnamen im preußischen Zeitraum und in der Gegenwart (Versuch einer Problembeschreibung) (Tomasz Rembalski)
  • Florian Ceynowa und der polnische Adel Ein permanenter Kritiker (Daniel Kalinowski)
  • Über die Autorinnen und Autoren
  • Abbildungsverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Miloš Řezník & Sabine Jagodzinski

Adel, Grenzraum und transregionale Verflechtung

Einführende Bemerkungen

Die Geschichtsforschung zum Adel in Europa seit dem 18. Jahrhundert ließe sich in vieler Hinsicht als ein „dichtes“ Fallbeispiel für die methodologische und perspektivische Entwicklung der Geschichtswissenschaft beschreiben. Der Wandel des Geschichtsverständnisses widerspiegelt sich hier ebenso wie politische Zusammenhänge und ideologische Hintergründe. Die Veränderungen der Erkenntnisziele, Methoden, Narrativstrukturen und gesellschaftlich-politisch-kulturellen Funktionalitäten und nicht zuletzt die variierende Rolle der Geschichtsdarstellungen als literarische Gattung und Unterhaltungsform prägten die Geschichte der Adelsforschung reichlich, und zwar immer im Kontext des jeweiligen wissenschaftshistorischen Zeitgeistes. Hinzu zählten sicher der Hang zur Banalität, aber auch die Fähigkeit, Perspektiven für die komplexesten sozial- und kulturhistorischen Fragestellungen anzubieten. So konnte die Adelsforschung in ihrer antiquarisch-geneaologischen Ausgabe eine Innovationsbremse sein, sie konnte sich aber auch als Innovationsmotor der Forschung in diversen Segmenten auswirken. Witold Molik zeigt in seiner umfassenden, kritischen Überblicksdarstellung des neuen Forschungsstandes über den Adel der Moderne in den zu Preußen gehörenden polnischen Ländern nicht nur, wie perspektivische Vorlieben mit großen thematischen Vernachlässigungen erkauft werden, sondern auch, welche verheerenden Folgen selbst Wissenschaftspolitiken für die realen Forschungsmöglichkeiten auf einem Gebiet haben können.

Schauen wir uns die (auch kunst-, literatur-, kultur-, sozial-, rechts-)historische Forschung zum Adel im Zentraleuropa der letzten Jahrzehnte an, so gilt dies alles nach wie vor. Dabei treten einige Merkmale hervor, welche zeigen, dass die Adelsforschung gerade seit den 1980er Jahren auf die allgemeinen kulturellen, wissenschaftlichen, aber nicht zuletzt auch ideologischen Tendenzen der Zeit reagieren konnte, indem sie aus ihnen ihre Fragestellungen und Forschungszugänge schöpfte. Auch hier mischten sich zwangsläufig positive Symptome der kritischen Hinterfragung traditioneller Muster und der perspektivischen Innovation und Rekontextualisierung mit den „problematischen ←7 | 8→Seiten“: der intuitiven Verfolgung der neuen Muster, die Gefahr laufen, zu unreflektierten Denkpfaden zu werden. Um ein Beispiel zu nennen: Spätestens seit den 1990er Jahren war – und ist immer noch – kaum eine analytische Hinterfragung von historiografischen und historischen Entitäten, Formationen und Typologien denkbar, die nicht zu deren Relativierung, Entschärfung und Entkategorisierung, zur Entgrenzung und Hybridisierung führte. Dies bot neue Akzente, Perspektiven und Interpretationen an, es ermöglichte Innovationen, ohne die die beeindruckende Entfaltung der Adelsforschung und die neuen Erkenntnisse und Verständnisse gar nicht möglich gewesen wären. Dennoch wurden bei der Einhaltung der neuen Muster in Fragestellung und Deutung die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der weiteren Forschungen irgendwann immer häufiger mechanisch additiv, tautologisch und von Anfang an vorhersagbar.

Bei der Tagung, die dem vorliegenden Band zugrunde liegt, war gerade dies der Anlass, sich einem Teil der adelshistorischen Perspektiven im kultur- und regionalhistorischen Kontext zuzuwenden, die gerade in Folge der neueren Forschungslage im Schnittpunkt der soeben erwähnten Ambivalenzen stehen:

Erstens: Der kulturalistische Aspekt hat insbesondere um 2000 an Bedeutung gewonnen und ließ – abgesehen von der adelshistorischen Trivialliteratur – zuweilen nicht nur die genealogischen, rechtshistorischen und politikgeschichtlichen Perspektiven in den Hintergrund treten, sondern auch die so intensiv erforschten sozialhistorischen Fragestellungen. Diese Akzentuierung basierte nicht ausschließlich auf der Kulturgeschichte im engeren Sinne, sondern bezog weitere lebensweltliche Elemente mit ein. Und so wurden wie gehabt die kulturellen Interessen des Adels und die kunsthistorischen Fragen erforscht und der Alltag, die materielle Kultur, die „Mentalität“ des Adels und seiner einzelnen Segmente thematisiert. Steigendes Interesse galt dem Adelsverständnis und dem adligen Selbstverständnis, der Kategorie der Adligkeit und ihrer Konnotationen, den adligen Frauen und der adligen Kindheit, den Adelspolitiken als Teil der Kulturgeschichte. Selbst die Kategorie des adligen „Obenbleibens“ rückte immer mehr in dieses Feld und beschränkte sich bei weitem nicht auf die Fragen der politischen Selbstbehauptung, der Positionswahrung oder der rechtlichen Stellung. Nicht zuletzt setzte die Forschung über Adel und Elite in der Moderne deutlich mehr Akzente bei den kulturgeschichtlichen denn sozialgeschichtlichen oder gar wirtschaftshistorischen Aspekten.

Zweitens blieb nach wie vor für den Zeitraum des 19. und 20. Jahrhunderts das Stichtwort „Moderne“ eine der allerhäufigsten Folien der historiografischen Betrachtung des Adels. Schon ein flüchtiger Blick auf die Titel der deutschsprachigen Literatur aus den 1990er und den 2000er Jahren erweist, ←8 | 9→wie stark sich der Moderne-Begriff als Ikone für die Adelsbeschäftigung etablierte.1 Dabei wird unverändert ein Spannungsverhältnis suggeriert, dieses aber keineswegs als eine einseitig konfliktuale Situation zwischen alten Eliten beziehungsweise Strukturen und neuenpolitischen, gesellschaftlichen und kulturellen Erscheinungen betrachtet. Zudem löst sich eine binare Entweder-Oder-Betrachtungsweise, in der die Frage nach dem Untergang der alten, sich gegen die Moderne wehrenden Eliten oder der Elitenpersistenz zunehmend auf. Auch wenn die übliche Konstatierung von Ambivalenzen als ein typischer Denkautomatismus der letzten Jahrzehnte in der Geschichts- und Kulturwissenschaft kritisch reflektiert werden sollte, so haben sie in der adelshistorischen Forschung unsere Perspektive für alle Nuancen der Positionierung des Adels beziehungsweise der Sozialgruppen „mit adligem Hintergrund“ in der Modernisierungszeit und der postständischen Moderne fast in allen wichtigen thematischen Bereichen geschärft. Eindeutig positiv wirkt sich vor allem die Tatsache aus, dass die Relation Adel – Moderne neu aufgenommen und kritisch hinterfragt wird, aber nicht Opfer eines übertriebenen Dekonstruktionsimpetus wurde. Die Metamorphosen einer genuin ständischen Formation in einer nicht mehr ständisch organisierten Gesellschaft bilden weiterhin eine der entscheidenden Fragen nicht nur für die Adelsforschung, sondern auch für die neuere Gesellschaftsgeschichte, wobei andere Fragestellungen nicht von der Dominanz dieser Thematik überschattet werden sollten.

Auch dieser Hintergrund bildet einen gemeinsamen Rahmen der Beiträge in dem vorliegenden Band: Sie alle beschäftigen sich mehr oder weniger direkt mit dem Adel in der Moderne oder der späten Vormoderne, aber nur bis zu einem ←9 | 10→gewissen Grad folgen sie der Optik eines „Spannungsverhältnisses“. Von aristokratischen Kulturpraxen und der Repräsentation durch Kunst und Architektur (Beiträge von Sabine Jagodzinski, Aleksandra Kajdańska, Aleksandra Kmak-Pamirska, Katharina Ute Mann) über das Vereinswesen der Moderne (Agniesz-ka Szudarek), die Funktionalität der adligen Namen und Prädikate (Tomasz Rembalski) bis hin zu literarischen (Selbst-)Repräsentation des Adels vom 19. Jahrhundert bis zur Spätmoderne (Daniel Kalinowski, Monika Mańczyk-Krygiel, Marcell Mártonffy, Magdalena Izabella Sacha) – alle diese Themen zeigen die breite Palette zeit- und kontextgebundener Figurationen in der spät- und postständischen Epoche.

Drittens: Die Modernisierung war die Zeit einer Entprivilegierung des Adels, der allmählich aufhörte, eine eigene Kategorie vor dem Gesetz zu sein. Sie brachte ein beinahe vollständiges Ende des Adelsrechts (auf jeden Fall des durch den Staat fixierten), sehen wir von einem breiten Verständnis ab, in welchem z.B. die Familienverträge in zivilrechtlichen Verfahren als Teil des Vertragsrechts anerkannt wurden. Dies und die Abschaffung ständischer Gemeinden führte zusammen mit neuen staatlich-administrativen Grenzziehungen sowie mit der modernen Staats- und Nationsbildung zur Auflösung historischer Adelslandschaften. Sie hatten in der Vormoderne den wichtigsten Rahmen der adligen gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Verankerung gebildet, das Funktionieren der adelsrechtlichen und ständischen Institute umrissen und indirekt auch den Hintergrund adliger Geselligkeit und Identität dargestellt.

Dennoch betont just die Adelsforschung zur Frühneuzeit zurecht den Bedarf, sich perspektivisch und heuristisch von diesen adelslandschaftlichen Grenzen nicht allzu stark beschränken zu lassen und den optischen Täuschungen, die die damaligen Grenzziehungen im Nachhinein verursachten, nicht zu unterliegen. Gerade die allgemeineren Fragen der Adligkeit, der adligen Mobilität, der sozialen und kulturellen Verflechtungen, der mit den adligen Repräsentationen verbundenen Kunst- oder Alltagsformen und „Mentalitäten“ lassen sich nur dann mit neuen relevanten Ergebnissen erforschen, wenn die monografischen Analysen der „adelslandschaftlichen Fälle“ mit den Ansätzen kombiniert werden, die in diesem Sinne grenzüberschreitend erscheinen.

Die Adelsforschung konnte vor dem Hintergrund der „methodischen Grenzüberschreitung“ an die Instrumentarien der komparativen Geschichte, der histoire croisée, der transregionalen Forschungen anknüpfen. Es war schließlich die ostmitteleuropäische beziehungsweise baltische Region der Frühmoderne ←10 | 11→und Moderne, in deren Kontext unlängst wichtige Impulse in dieser Richtung gegeben und diskutiert wurden.2

In der Moderne lösten sich zwar die Adelslandschaften im rechtlichen und politischen Sinne auf, und mit ihnen auch deren Grenzen. Doch die modernen Staaten schufen neue Grenzziehungen und vielfach noch festere territoriale Rahmen des Rechts und des öffentlichen Diskurses ebenso wie der Mobilität. Sie unterlagen, abgesehen von ihrer jeweiligen Funktionalität, denselben Überschreitungen wie die früheren. Für den Adel ergaben sich schon dadurch jeweils sehr unterschiedliche Auswirkungen, dass er sich in vielen Ländern weitgehend nationalisierte und an der modernen Nations- beziehungsweise Nationalstaatsbildung teil hatte, einschließlich der Bildung ethnisch-nationaler gesellschaftlicher Eliten: So war dies weitgehend der Fall beim polnischen, ungarischen, deutschen oder italienischen Adel. Größere Teile des Adels der cisleithanischen Länder gingen allerdings diesen Weg nicht oder zumindest nicht mit einer vergleichbaren Intensität.

Somit brachte die Moderne schon auf der Ebene der Territorialität, der gesellschaftlichen Identität und der Grenzziehungen sehr unterschiedliche, aber immer tiefe Veränderungen in adlige Regionalitäten. Die Situierung des „Adels an der Grenze“ konnte sich am gleichen Ort weitgehend und vielmals dramatisch verändern. Hinzu kam die Tatsache, dass fast nirgendwo die Bedeutung „alter“ adelslandschaftlicher Strukturen und Bezüge restlos obsolet geworden waren: Sie blieben relevant als Teil und Referenzrahmen von Erinnerung, Tradition, Identität, zumeist bis heute. Dies wirkte sich zuweilen besonders auf der lokalen oder „kleinstregionalen“ Ebene aus, wo althergebrachte ←11 | 12→adlige Legitimationen und Prägungen auch einen wesentlichen Teil der Identifikation der Lokalbevölkerung ausmachten.

Die Region, welche in diesem Band im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, liefert dafür ein Beispiel par excellence, weil sie epochenübergreifend in jedem der erwähnten Kontexte (Adel und Adelslandschaft, Standschaft, Grenze, Territorialität) sowohl vom Wandel als auch von Kontinuität geprägt ist. Im historischen Preußen (Preußenland) unterlagen bereits seit dem Mittelalter die Adelslandschaften mehrfach neuen Grenzziehungen und Umformungen, aber zugleich zeigten sich dabei starke Tendenzen der Persistenz. Nachdem sich der Landadel im Ordensstaat in Preußen (einschließlich der bis zum 14. Jahrhundert nicht als preußenländisch geltenden Länder westlich der Weichsel) als Stand konstituiert hatte, folgte bereits Mitte des 15. Jahrhunderts eine Teilung in zwei Gebiete – Ordenspreußen (seit 1525 das säkularisierte Herzogtum Preußen) und das zu Polen gehörende Königliche Preußen. Es kam daraufhin zu einer Auseinanderentwicklung ständischer Institutionen (Landtag, Inkolat, ständische Gemeinde), doch dieser Prozess dauerte über Jahrhunderte an und blieb vorerst offen. Erst im 17. Jahrhundert kann von einer durchaus abgeschlossenen Teilung der Adelslandschaft im formalen Sinne gesprochen werden, allerdings unter Beibehaltung zahlreicher Überlappungen auf der Ebene der Familienbeziehungen, des ständischen Geschichtsgedächtnisses, der Mobilität sowie der kulturellen und politischen Verflechtungen.

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts folgten dann die bereits erwähnten Veränderungen, die mit der Modernisierung, veränderten kulturellen Bezugsgrößen und besonders mit den neuen politischen Grenzziehungen, infolge der Annexion des westlichen Preußen durch Friedrich II. 1772 und der Städte Danzig (Gdańsk) und Thorn (Toruń) 1793, sowie den neuen Staats- und Nationsbildungen zusammenhingen. Das 19. und frühe 20. Jahrhundert war hier trotz – oder wegen – unaufhaltsamer Transformationsprozesse von verschiedenen Behauptungsstrategien des Adels in der Gesellschaft geprägt. Dies machten die Zäsuren 1918 und insbesondere 1945 deutlich, nach denen der Adel als eine soziokulturelle Gruppe in der „entadelten Gesellschaft“ (Heinz-Gerhard Haupt) mehr denn je als ein Lebens- und Kulturmodell zu begreifen ist.3 Während der Existenz der beiden deutschen Staaten wurde dann die preußische Adelsgeschichte diametral verschieden untersucht und bewertet, erwies jedoch ←12 | 13→anschließend erneut eine gewisse Resistenz. Wie die Forschungen z. B. zu literarischen Repräsentationen selbst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen, konnten sich im adligen Milieu − auch nach der Zwangsaussiedlung und nach dem Verlust des Familienbesitzes − die adelslandschaftlichen Traditionen und Relikte erfolgreich in regionale Identitäten und Erinnerungen transformieren.4

Nicht unberücksichtigt bleiben sollen dabei die Rolle und die Nachwirkungen kleinerer Landschaften im adligen und ständischen Kontext, die für die Frühneuzeit die Vielschichtigkeit der Territorienbildungen und Grenzziehungen nochmals unterstreichen: In den preußischen Grenzregionen wären das letztendlich zu Hinterpommern gehörende Bütower und Lauenburger Land oder das königlich-preußische und später ostpreußische Bistum Ermland als Beispiele zu erwähnen. Auf der anderen Seite bildeten sich spezifische Gruppen und soziale Adelsformationen heraus, denen keine formalen Landschaftsbildungen entsprachen, die aber auf der Ebene der Sozialstrukturen, der Identität und des Gedächtnisses, auch jenseits des Adels, von nicht zu unterschätzenden Bedeutung sein konnten. Der „kaschubische“ Adel in Pommerellen und Hinterpommern, der im vorliegenden Band ebenfalls besprochen wird (s. den Beitrag von Tomasz Rembalski über Namen und Familientradition), stellt vermutlich den bekanntesten Fall dar. Andere Adelsgruppen wiederum – etwa im Königlichen Preußen – bewegten sich sowohl zu Lebzeiten an der Grenze zur Neuzeit als auch in der Forschungsliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts hinsichtlich ihrer Identifikation immer zwischen mehreren Polen, was Lebenswirklichkeit und Zuschreibung betrifft (Stichworte: Indigenat, Polonisierung).

Bereits vor diesem Hintergrund wird die Mannigfaltigkeit und die Vielschichtigkeit von Grenzziehungen, Grenzüberschreitungen oder aber Entgrenzungen deutlich. Nehmen wir zu den territorialen Grenzziehungen auch die soziokulturellen oder für die südlichen Ostseeregionen so relevanten konfessionellen Grenzen hinzu, so haben wir es hier mit dem Adel im Grenzraum par excellence zu tun, mit einem der idealen Laboratorien, um sich dem Zentralthema anzunähern und Verflechtungsbereiche zu verfolgen.

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Grenzraum zu erforschen – gleich, ob im territorialen oder soziokulturellen Sinne – bedeutet, dass die Grenze ernst genommen und zugleich überschritten wird. Die Beiträge in diesem Band wollen sich perspektivisch nicht auf die südlichen Ostseeregionen beschränken: Sonst ist weder die Funktionalität der Grenzräume für den Adel noch die Spezifik dieser Lanschaften zu verstehen. Vor diesem Hintergrund bieten mehrere Texte Perspektiven auf „landschaftsgrenzüberschreitende“ adlige Protagonisten und Protagonistengruppen (insb. die Beiträge von Sabine Jagodzinski, Aleksandra Kajdańska, Aleksandra Kmak-Pamirska), es werden Fragen zugleich an Vertreter anderer Adelstraditionen gestellt (Sabine Jagodzinski, Aleksandra Kmak-Pamirska, Monika Mańczyk-Krygiel, Katharina Ute Mann, Marcell Mártonffy), es wird danach gefragt, wie grenzüberschreitend selbst jene Phänomene sind, die mit Preußen oder Pommern eng konnotiert werden. Hinzu kommen die Perspektiven der soziokulturellen Grenzlagen des Adels und seiner Vertreter in der Region selbst (Daniel Kalinowski, Magdalena Sacha, Agnieszka Szudarek). Getragen wird dieser Blickpunkt von der Annahme, dass die territorialen Grenzverschiebungen, der soziale und kulturelle Wandel, die Abschaffung der Stände und später des Adels (de iure) die Angehörigen der Aristokatie und des Adels praktisch permanent mit Grenzerfahrungen alter und neuer Art konfrontierten. In dieser Tatsache mag sich der Adel in der Moderne nicht prinzipiell von anderen gesellschaftlichen Gruppen unterschieden haben, aber eben wie bei jeder Gruppe ergaben sich für seine Angehörigen spezifische Konsequenzen, Herausforderungen und Optionen. Die Beschäftigung mit dem Adel liefert dabei einen der wichtigsten Schlüssel für das Verständnis des Elitenwandels im Laufe der Zeit und somit der Konstituierung neuer Gesellschaft und Kultur.

Vor diesem Hintergrund ist die angebotene Strukturierung des Bandes eine von vielen möglichen. Dass sich die Kategorien, nach denen die einzelnen Beiträge zusammengeführt wurden, weitgehend überlappen und unterschiedlichen logischen Kriterien folgen, soll nicht als Störung gelten, sondern als Einladung verstanden werden, die Struktur des Bandes als eine offene zu betrachten: Sie würde sich sicherlich ändern, wenn man die vorliegenden Beiträge aus Interesse für soziale Grenzziehung und Interaktion, für die Persistenz „alter“ Adelslandschaften, für die kulturellen Repräsentationen der Adligkeit, für die Landesgeschichte Preußens und der angrenzenden Gebiete, für die Erinnerungkulturen und Identitätsstiftungen oder für andere Aspekte betrachten würde, ohne die ein Denken, Forschen und Schreiben über den Adel im kulturellen Grenzraum nicht möglich wäre.

Details

Seiten
296
Erscheinungsjahr
2021
ISBN (PDF)
9783631858431
ISBN (ePUB)
9783631858448
ISBN (Hardcover)
9783631850206
DOI
10.3726/b18578
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Oktober)
Schlagworte
Aristokratie Moderne Regionalität Grenze Identität Elitenwandel
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 296 S. 23 s/w Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk (Band-Herausgeber:in) Sabine Jagodzinski (Band-Herausgeber:in) Miloš Řeznik (Band-Herausgeber:in)

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk ist Germanistin und Literaturwissenschaftlerin. Sie lehrt an der Universität Danzig, wo sie die Arbeitsstelle zur Erforschung von Narrativen in Grenzräumen leitet. Sie ist Vizepräsidentin des Kaschubischen Instituts Danzig. Sabine Jagodzinski ist Kunsthistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Historischen Instituts Warschau. Miloš Řezník ist Historiker, Direktor des Deutschen Historischen Instituts Warschau und Professor für Europäische Regionalgeschichte an der TU Chemnitz. Er ist Ko-Vorsitzender der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission.

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