Mit Forscherdrang und Abenteuerlust
Expeditionen und Forschungsreisen Kieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort der Herausgeber
- Kieler Forscherinnen und Forscher als Entdecker der Welt: Eine Einführung (Oliver Auge und Martin Göllnitz)
- Die „Galathea“ in Kalkutta. Naturforschung und koloniale Macht (Martin Krieger)
- Weltumsegelung mit Karriereblick. Die britische Challenger-Expedition und Rudolf von Willemoes-Suhm (1847–1875) (Martin Göllnitz)
- „In’s Wasser geworfenes Geld“? Eine Kontextualisierung der öffentlichen Kontroverse um die Plankton-Expedition von 1889 (Lisa Kragh)
- Devasena auf Reisen. Der Kieler Philosoph Paul Deussen, die Briten und der „Orient“ (Tobias Delfs)
- „Vielleicht sogar eventuell Karthum und später Sinai.“ Zwei Orientreisen Carl Heinrich Beckers in den Jahren 1900–1902 (Ulf Morgenstern)
- 1828 | 1990 – Vier Kieler Archäologen entdecken die Welt (Ulrich Müller)
- „Das Reizvolle liegt in den Ergebnissen.“ Karl Gripps fast vergessene Arktis-Expeditionen in den 1920er Jahren (Knut-Hinrik Kollex)
- Katesa Schlosser – Völkerkunde als Wissenschaft vom Fremden (Silke Göttsch-Elten)
- Das Zoologische Museum der Universität Kiel und seine Sammlungen: Ein Fenster in die Entdeckungsgeschichte der Meere (Dirk Brandis)
- Archäologie in Krisengebieten: die soziale Praxis archäologischer Ausgrabungen (Johannes Müller)
- Abbildungsverzeichnis
- Reihenübersicht
Der vorliegende Sammelband vereint in sich zehn Beiträge der Ringvorlesung mit dem Titel „Mit Forscherdrang und Abenteuerlust“, die die Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität (CAU) im Sommersemester 2016 in den Räumlichkeiten der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek durchgeführt hat. Elfmal versammelte sich eine interessierte Hörerschaft dienstags um 19 Uhr, um Vorträge fachkundiger Forscherinnen und Forscher aus den unterschiedlichsten Disziplinen zum Thema der Expeditions- und Forschungsreisen Kieler Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen hören und im Anschluss anspruchsvoll diskutieren zu können. Nur einmal fand die Vorlesung aus organisatorischen Gründen zwar zur gewohnten Uhrzeit, nicht aber an einem Dienstag-, sondern einem Donnerstagabend statt.
Auf die Ringvorlesung folgt nun, wie gesagt, als erfolgreicher Abschluss des Projektes dieser Sammelband mit den einzelnen Referaten derselben. Uns Herausgebern verbleibt es an dieser Stelle, der Pressestelle der CAU für die Unterstützung bei der Veranstaltung und Bewerbung der Ringvorlesung zu danken. Ebenso gebührt unser Dank Herrn Dr. Jens Ahlers für die Möglichkeit, die Räumlichkeiten der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek für die Vortragsreihe nutzen zu dürfen. Es passte sehr gut, dass der Sartori & Berger-Speicher, in dem die Landesbibliothek untergebracht ist, unmittelbar an der Kieler Förde als dem Tor Kiels zur weiten Welt liegt. Danken möchten wir zudem vielmals allen Referentinnen und Referenten für ihre Bereitschaft zur Mitarbeit an der Vortragsreihe und zur Ausarbeitung ihrer mündlichen Referate zu druckfertigen Aufsätzen. Das ist angesichts der allseits immer engeren Zeitbudgets längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Themen haben die von uns Angefragten im Übrigen durchweg ohne langes Zögern frei gewählt und formuliert. Die Hilfskraft-Unterstützung von Frau Carina Storm und Herrn Jan Ocker hat die redaktionelle Bearbeitung der Texte sehr erleichtert, wofür wir ebenfalls Danke sagen. Außerdem gebührt dem Peter Lang-Verlag ein Wort aufrichtigen Dankes für die kompetente und verlässliche Zusammenarbeit bei Satz und Druck. Zu guter Letzt gilt unser aufrichtiger herzlicher Dank der Kieler Graduate School „Human Development in Landscapes“ und dem Deutschen Marinebund e.V., ohne deren finanzielles Engagement die Drucklegung des Bandes nicht realisierbar geworden wäre.
Oliver Auge und Martin Göllnitz
Kieler Forscherinnen und Forscher als Entdecker der Welt: Eine Einführung
Bekanntlich feierte die 1665 gestiftete Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) im Jahr 2015 mit großem Aufwand und ebenso großer Resonanz in der Öffentlichkeit ihr 350-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass wurde eine imposante Festschrift unter dem Titel „Christian-Albrechts- Universität zu Kiel. 350 Jahre Wirken in Stadt, Land und Welt“ publiziert – immerhin das dickste Buch, das bis dato jemals im Wachholtz-Verlag veröffentlicht worden ist!1 Der Titel der Festschrift mit dem Fingerzeig auf die Stadt Kiel, das Land Schleswig-Holstein sowie die große, weite Welt als Wirkungsfelder der CAU in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft trägt der Tatsache Rechnung, dass die historische und natürlich auch aktuelle Bedeutung der Universität und ihrer Angehörigen nicht nur bezogen auf die Stadt Kiel als Standort und das Land Schleswig-Holstein als nähere Umgebung, sondern eben auch im Arbeiten in der Welt fassbar ist und daher stärker als bisher von der wissenschaftlichen Forschung betrachtet werden sollte.2 Das betrifft gerade die Beteiligung Kieler Professorinnen und Professoren an nationalen und internationalen Expeditions- und Forschungsreisen, vor allem in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Eine Betrachtung dieses Themenfeldes erscheint in dreierlei Hinsicht als besonders lohnenswert:3 Zum einen eröffnet sich auf diese Weise ein von der lokalen, auch regionalen universitätsaffinen Geschichtsforschung bislang wenig bis gar nicht beachtetes Wissensgebiet. Zum anderen können sich hierbei wertvolle Konvergenzen zwischen Wissenschaftsgeschichte und allgemeiner ← 9 | 10 → Geschichtsforschung ergeben.4 Und zum dritten wird dadurch eine integrierte Sichtweise auf Wissenschaft(en) als Perspektive möglich. So wird eine „history in science“ vermieden, wonach „die Geschichte einer Wissenschaft zur jeweiligen Disziplin gehört und aus ihr heraus zu erforschen“ ist, sondern eine Vernetzung zwischen den verschiedenen Disziplinen angestrebt und realisiert.5 Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte kann und darf umgekehrt aber auch nie allein Sache von Historikern sein, sondern muss auf vielen, interdisziplinären Schultern ruhen, die das breite Fächer- und Themenspektrum einer Volluniversität wie der CAU widerspiegeln. Ohne eine solche Verknüpfung der Disziplinen bliebe die Geschichte der Expeditions- und Forschungsreisen ein irgendwie „leeres Gehäuse“.6 Insofern ist es gewiss ein Vorteil, dass Vertreterinnen und Vertreter der Archäologie, Ethnologie und Zoologie für eine aktive Mitwirkung an der diesem Band zugrunde liegenden Ringvorlesung gewonnen werden konnten. Da sich für die Wissenschaftshistoriker oftmals theoretische und arbeitspraktische Probleme bei der Analyse spezieller Forschungsmethoden ergeben, müssen sie sich aber in jedem Fall zumindest rudimentär in die Fachgeschichte und die Inhalte der jeweiligen Disziplin einarbeiten. Das ist jeweils ein großer, nicht zu unterschätzender Kraftakt!
Bei der Betrachtung der Expeditions- und Forschungsreisen soll es auch keineswegs um das Schreiben einer reinen Erfolgsgeschichte älteren Typs gehen, die lediglich große Forscherpersönlichkeiten in den Blick nimmt und eine kumulative Abfolge von Höhepunkten, erfolgreichen Entdeckungen und neuen Erkenntnissen präsentiert.7 Vielmehr muss anhand dessen nach der ← 10 | 11 → Rolle der CAU „als Ort und Motor von Ausdifferenzierungsprozessen sowie nach institutionalisierten Wechselbeziehungen“ zwischen Wissenschaft auf der einen, Politik und Öffentlichkeit auf der anderen Seite gefragt werden.8 Eine streng universitätsgeschichtliche Betrachtung würde dabei oftmals zu kurz greifen, waren es doch vielmehr traditionsbewusste Herrscherhäuser oder fortschrittliche Staatsregierungen, privilegierte Handelsgesellschaften und Institutionen der öffentlichen Hand, die mit jeweils eigener Motivation als Financiers von Expeditionen auftraten und die benötigten Ressourcen erst zur Verfügung stellten. Diese Motivation der staatlichen oder privaten Geldgeber muss von der modernen Forschung erst noch hinterfragt werden. Denn in nicht wenigen Fällen ging es den Financiers eigentlich nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse. Es waren diplomatische, koloniale oder ökonomische Ziele, die eine wissenschaftliche Expedition erst ermöglichten. Oder anders gewendet: Forschungsreisen hatten gewisse Erwartungshaltungen zu erfüllen, wie beispielsweise
„the public’s thirst for adventure, the scientists’ demand for data, the merchants’ desire for details about new markets and sources of supply, and the government’s need for objective information upon which to base diplomatic and Imperial decisions.”9
Zu denken ist etwa an das gescheiterte geheime Meeresgoldprojekt des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem unter der Leitung des bekannten Chemikers Fritz Haber (1868–1934), bei dem es darum ging, das im Wasser der Weltmeere vorhandene Gold zu gewinnen, um damit die Reparationen leichter begleichen zu können, die die Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg so schwer ← 11 | 12 → belasteten.10 Untersuchungen wurden von den Teilnehmern der Deutschen Atlantischen Expedition, u.a. den späteren Kieler Professoren für Ozeanographie Georg Wüst (1890–1977) sowie für Hydrographie und Chemie des Meeres Hermann Wattenberg (1901–1944), vorgenommen. Das Ergebnis war freilich niederschmetternd: Schon die ersten Messungen ergaben, dass der Goldgehalt des Meeres zu gering war für eine wirtschaftliche Ausbeutung – keine Erfolgsgeschichte also.11 Die Frage des Scheiterns von Expeditionen und Forschungsreisen stellt sogar einen nicht unwesentlichen Aspekt von Expeditionsgeschichte dar, gingen doch auch aus gescheiterten Projekten oftmals wichtige spin off-Effekte hervor, die ebenfalls ganz eigene Erkenntnisse oder Ergebnisse erbrachten bzw. weitere Expeditionen initialisierten. Das Meeresgoldprojekt bewirkte beispielsweise einen beträchtlichen Fortschritt bei der mikrochemischen Bestimmung und Analyse kleinster Goldgehalte, wodurch sich die Messgenauigkeit der Geräte und Verfahren erhöhte. Die Münchener Historikerin Margit Szöllösi-Janze fragt daher mit gutem Grund, ob naturwissenschaftliche Forschungen überhaupt scheitern können.12 Und man erinnere sich: Schon die Entdeckung Amerikas war im Prinzip das Resultat einer fehlgeschlagenen Expedition auf der Suche nach einem westlichen Weg nach Indien.
Im Folgenden soll anhand einer tabellarischen Übersicht das vielfältige Spektrum von Forschungs- und Expeditionsreisen eingefangen werden, an denen Kieler Professoren bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts teilnahmen, die wissenschaftliche Leitung innehatten oder die, wie im Falle der berühmt ← 12 | 13 →
gewordenen Plankton-Expedition, sogar ihren Ursprung an der CAU hatten. Bekannte Forschungsreisende, die eng mit Schleswig-Holstein verbunden waren, aber nicht dem Lehrkörper der CAU angehörten – wie Adam Olearius (1599–1671)13, Carsten Niebuhr (1733–1815)14 oder Rudolf von Willemoes-Suhm (1847–1875)15, Mitglied der ebenfalls bekannten Challenger-Expedition (1872–1876), werden dabei verständlicherweise nicht berücksichtigt.16 ← 13 | 14 →
Beim Blick auf die Tabelle wird ersichtlich, dass der Großteil der – im Übrigen historisch meist erst noch eingehender zu erforschenden – Expeditionen, an denen sich Kieler Professoren beteiligten, im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert unternommen wurde. An der europäischen Welterkundungseuphorie im Zeitalter der Aufklärung hatte die 1665 gegründete CAU hingegen nur einen marginalen Anteil. Zum Ende des 17. Jahrhunderts hatte sich die Forschungsreise parallel zum wissenschaftlichen Experiment und zum Laboratorium herausgebildet; zu den wichtigsten Komponenten der Entdeckungsreise gehörten die Schlagwörter „travel over, describe and ← 15 | 16 → measure“.17 Diese sollten auch in den folgenden zwei Jahrhunderten ein wesentlicher Bestandteil bei der Erkundung des Unbekannten bleiben, an denen zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen teilnahmen: die Astronomie und Geographie, Zoologie und Biologie, Natur- und Meereskunde, Ethnographie und weitere, sich immer stärker spezialisierende Einzeldisziplinen. Hier wäre danach zu fragen, ob sich Vertreter bestimmter Fachgebiete an der Kieler Universität durch besondere Mobilität oder eben Immobilität auszeichneten.
Um das spezifische Profil der CAU im Rahmen von Expeditions- und Forschungsreisen, resultierend aus ihren bisherigen Traditionslinien, ihrer räumlichen Lage, ihres disziplinären Zuschnitts und der spezifischen Personenkonstellation, herauszuarbeiten, bedarf es allerdings noch vieler, kleinteiliger Untersuchungen.18
Ein unverwechselbarer Schwerpunkt kann allerdings jetzt schon für die verschiedenen Fachbereiche der Meereskunde ausgemacht werden, was Kiels geographischer Lage geschuldet ist. Lisa Kragh, die auch im Rahmen der Ringvorlesung vortrug und für diesen Band einen Beitrag erarbeitet hat, hat sich diesem Feld in ihrer mit dem Nachwuchspreis der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte prämierten Masterarbeit in fruchtbarer Weise gewidmet.19 Weiterhin traten verstärkt die Direktoren und Mitarbeiter des Zoologischen Museums und des Völkerkundemuseums als eifrige Entdeckungsreisende in Erscheinung und spornten als akademische Lehrer in zahlreichen Fällen ihre eigene Schülerschaft zu neuen Expeditionen an. Dirk Brandis beziehungsweise Silke Göttsch-Elten äußerten sich hierzu in der Vortragsreihe und befassen sich mit dieser Thematik im vorliegenden Band näher. Eine in diesem Kontext bisher zu wenig wahrgenommene Disziplin ist die Geologie, deren Kieler Fachvertreter sich vor allem im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als wichtige Polarforscher betätigt haben, um dort vergleichende Erkenntnisse zur diluvialen Vorgeschichte, Paläontologie und Stratigraphie zu gewinnen. Knut Kollex hat 2016 seine Untersuchung zum Kieler Geologen Karl Gripp (1891–1985), der sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch um die ungemein rasche und reibungslose Wiedereröffnung der CAU am neuen Standort der ELAC verdient machte, erfolgreich abgeschlossen und präsentierte seine Ergebnisse gleichfalls in dieser Vortragsreihe, ← 16 | 17 → wie im Folgenden ebenfalls nachgelesen werden kann.20 In der heutigen Zeit entwickelt sich hingegen die ur- und frühgeschichtliche Archäologie zu einem weiteren Leuchtfeuer Kieler Expeditionsgeschichte. Die Entwicklung hierin beschreibt Ulrich Müller; den heutigen Stand fängt Johannes Müller ein.
Für solche und künftige Untersuchungen, die expeditionsgeschichtliche Profilschwerpunkte der CAU ausmachen, Verknüpfungen zwischen Forschungsreisen herausstellen oder die Netzwerke einzelner Expeditionsteilnehmer aufdecken wollen, ist in jedem Fall das 2015 ins Netz gestellte Kieler Gelehrtenverzeichnis für die Jahre 1919 bis 1965 ein unverzichtbares Instrument.21 Mithilfe dieser im Augenblick weiter im Ausbau begriffenen Online-Datensammlung lassen sich die Lebensstationen der Forscherinnen und Forscher ermitteln und vom interessierten Nutzer ganz individuell in ihrem Verhältnis zu der Region, der Stadt oder eben der Forschungs- und Expeditionsreise interpretieren. Die Arbeit mit elektronischen Datensammlungen wie dem Kieler Gelehrtenverzeichnis bietet in Hinblick auf Karrierestationen und Laufbahnentwicklungen ganz neue Erkenntnisse: So wird vor allem für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sichtbar, dass die Kieler Universität für die Forschungsreisenden meist den Höhepunkt und die Abschlussstation der wissenschaftlichen Karriere bedeutete. An Expeditionsreisen nahmen Ordinarien nur noch in äußerst seltenen Fällen teil; die „wissenschaftlichen Abenteuer“ blieben meist den jüngeren Nachwuchswissenschaftlern vorbehalten. Es verwundert daher nicht, dass viele der in der oben abgedruckten Tabelle genannten Forscher in ihrer Assistenten- oder Dozententätigkeit an Expeditionen teilnahmen, damals also oft noch gar nicht an der Förde arbeiteten, und erst nach der Berufung an die CAU mit der wissenschaftlichen Analyse und Auswertung der Expeditionsergebnisse begannen. Die Geschichte der Expeditions- und Forschungsreisen muss also unbedingt auch als interuniversitäres und transnationales Phänomen wahrgenommen werden, wie in der Universitätsfestschrift am Beispiel des Greifswalder Geologen und späteren Kieler Honorarprofessors Hans Frebold (1899–1983) aufgezeigt werden konnte, der 1929/30 an einer Expedition nach Spitzbergen und im Jahr 1931 an der Dänischen Ostgrönland-Expedition teilgenommen hat.22 Mit der 1941 ← 17 | 18 → eigentlich unerwarteten Berufung zum Leiter der Arktischen Abteilung und der zeitgleich erfolgten Ernennung zum Reichsdozenten im Deutschen Wissenschaftlichen Institut in Kopenhagen, das der Kieler Universität angegliedert war, kam seine Karriere nach einer Phase der Stagnation wieder in Schwung. Als international anerkannter Experte auf dem Gebiet der Paläontologie und Stratigraphie knüpfte er schnell wichtige Kontakte zu den Kieler Kollegen. Die geologischen Fachvertreter der CAU waren es auch, die ihn in der Nachkriegszeit für die Ernennung zum Honorarprofessor vorschlugen und ihm so eine Lehrtätigkeit an der Förde verschafften.
Der Blick auf Expeditionen und Forschungsreisen Kieler Forscherinnen und Forscher führt nicht nur geographisch in die Ferne, sondern auch inhaltlich weit über Kiel und seine CAU hinaus, wie schon dieses Beispiel anschaulich macht. Die damit verbundene Entdeckung unbekannter Zusammenhänge und neuer Regionen im Kontext der Kieler Universitätsgeschichte, die die im Folgenden abgedruckten Beiträge der Ringvorlesung ermöglichen, verspricht in jedem Falle eine spannende Lektüre.
Der vorliegende Band ist natürlich räumlich wie zeitlich nur bedingt kohärent – und dies mit gutem Grund. In ihren Texten bearbeiten die Autorinnen und Autoren ausgesprochen vielfältige historische Bereiche – sie thematisieren Ozeane und Nebenmeere, Kontinente und Städte, Akteure und Gemeinschaften. Sie spiegeln somit das zentrale Anliegen des Bandes: eine bewusste, konzeptionelle Pluralisierung von Forschungsreisen unterschiedlichster akademischer Disziplinen, deren wissenschaftliche Sujets ebenso facettenreich wie vielfältig motiviert waren. Wissenschaftspolitik spielt dabei eine wesentliche Rolle; ebenso jedoch figurieren Wissensgeschichte, kulturelle Konstruktionen und die Sehnsucht nach Abenteuern als relevante Felder. Eine mit Bedacht weitgefasste Definition Kieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schärft dabei den Blick für längerfristige Entwicklungen.23 Epochal liegt eine Konzentration auf das entwicklungsreiche 19. sowie das von Extremen dominierte 20. Jahrhundert vor; ein Ausblick in die aktuelle Gegenwart rundet den Band am ← 18 | 19 → Beispiel der Archäologie ab.24 Die allgemeine wie Kieler Geschichte der Expeditions- und Forschungsreisen soll derart aus den Fängen der Meistererzählungen gelöst und zugleich komplexer, komplizierter, bunter gestaltet werden.
So erarbeitet Martin Krieger in seinem Beitrag über den anderthalbmonatigen Aufenthalt der dänischen Galathea-Expedition in Kalkutta die fragile Verknüpfung kolonialer Interessen mit einer naturkundlichen Bestandsaufnahme der Nikobaren durch Kopenhagener und Kieler Wissenschaftler. Die botanische und zoologische Forschung sollte den Grundstein für einen erneuten dänischen Kolonisationsversuch der Inselgruppe legen, wollte doch das Königreich im Indischen Ozean gegenüber den Briten nicht völlig ins Hintertreffen geraten. Mit der traditionell maritimen Nation England befasst sich Martin Göllnitz am Beispiel der britischen Weltumsegelung der Challenger-Expedition, deren einziger nichtbritischer Teilnehmer im scientific corps, der norddeutsche Wissenschaftler Rudolf von Willemoes-Suhm, ganz eigene Karrierevorstellungen mit diesem Meeresabenteuer verband. Das dabei deutlich werdende „Sprungbrett Forschungsreise“ entwickelte sich ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer stärker zu einem Karrieremotiv junger Nachwuchsakademiker. Lisa Kraghs Beitrag zur Kieler Plankton-Expedition erlaubt differenzierte Einblicke in die Wissenschaftslandschaft des späten Deutschen Kaiserreichs und legt am „Gelehrtenstreit“ zweier „Mandarine“ der ozeanographischen Disziplin die akademischen, politischen, ökonomischen und häufig hochemotionalen Auswirkungen meereskundlicher Diskussionen dar.
Details
- Seiten
- 258
- Erscheinungsjahr
- 2017
- ISBN (PDF)
- 9783631722923
- ISBN (ePUB)
- 9783631722930
- ISBN (MOBI)
- 9783631722947
- ISBN (Hardcover)
- 9783631722916
- DOI
- 10.3726/b11205
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2017 (Juni)
- Schlagworte
- Universität Kiel Challenger-Expedition Galathea-Expedition Entdeckung Plankton-Expedition Wissenschaft
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 258 S., 16 s/w Abb.