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Der russisch-deutsche Europäer: Fedor Avgustovič Stepun (1884–1965)

Beiträge zur Dresdner Tagung am 18. und 19. September 2015

von Holger Kuße (Band-Herausgeber:in) Ludger Udolph (Band-Herausgeber:in)
©2018 Sammelband 276 Seiten

Zusammenfassung

2015 jährte sich zum fünfzigsten Mal der Todestag des Philosophen, Publizisten und Soziologen Fedor Avgustovič Stepun (18. 02. 1884 – 23. 02. 1965). Aus diesem Anlass veranstaltete das Institut für Slavistik der TU Dresden zusammen mit der Moskauer Hochschule für Ökonomie am 18. und 19. September 2015 eine Tagung zum Thema „Der russische Europäer". Die von namhaften Stepun-Spezialisten verfassten Beiträge des Bandes sind der Philosophie Fedor Stepuns ebenso wie den autobiographischen Schriften sowie der religiösen und geistesgeschichtlichen Deutung der Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts, insbesondere des Bolschewismus, gewidmet. Sie umfassen alle Lebensabschnitte von der Studienzeit in Moskau und Heidelberg über die Dresdner Jahre bis zur Nachkriegszeit in München. Der Band enthält als Materialien bisher nicht publizierte Gedichte und Briefe Stepuns.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Предисловие
  • Artikel
  • Die Revolution als religiöses Phänomen: Fedor Stepun und Nikolaj Berdjaev im Jahr 1934 (Holger Kuße)
  • Fedor Stepuns Autobiographie – ein Weg zur Wahrheits(er)findung (Evgenia Steinberg)
  • Fedor Avgustovič Stepuns neuer Mensch des Novyj Grad (Julia Mehlich)
  • Antlitz und Gesicht Fedor Avgustovič Stepuns (Julia Mehlich)
  • Нарратив в экзистенциальных текстах Федора Степуна (Первая Мировая Война) (Ирина Олеговна Щедрина)
  • «Положительная философия» Федора Степуна (эпистемологические и экзистенциальные аспекты) (Борис Исаевич Пружинин, Татьяна Геннадьевна Щедрина)
  • Essay
  • Tragödie und Werden der Massengesellschaft: Maksim Gor’kij gegen Fedor Dostoevskij aus der Sicht Fedor Stepuns (Vladimir Kantor)
  • Vladimir Solov’evs eschatologische Vorahnungen im Schicksal von Fedor Stepun (Elena Besschetnova)
  • Das Bild Europas in der russischen Geistesgeschichte (Igor Smirnov)
  • „Was verliert Europa, wenn es Russland verliert?“ Christlich-orthodoxe Anregungen für eine neue Ostpolitik (Christian Hufen)
  • Dokumentation und Materialien
  • Москва в жизни и творчестве Ф. А. Степуна (Алексей Алексеевич Кара-Мурза)
  • Die Privatbibliothek Stepun an der Universitätsbibliothek Regensburg (Christian Hufen)
  • Два письма журналу «Весы» (1907–1908 г.) Публикация и вступительная заметка А. А. Ермичева (Федор Августович Степун)
  • Dokumente zur Entlassung Fedor Stepuns 1937 Einleitende Bemerkungen von Holger Kuße
  • Zwei Gedichte (1935, 1938) Publikation und einleitende Bemerkungen von Holger Kuße und Ludger Udolph (Fedor Stepun)
  • Autorinnen und Autoren
  • Авторы

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Holger Kuße

Die Revolution als religiöses Phänomen: Fedor Stepun und Nikolaj Berdjaev im Jahr 1934

1.  Fedor Stepun und Nikolaj Berdjaev im Jahr 1934

1934 erschienen auf Deutsch Fedor Stepuns Abhandlung Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution im Gotthelf-Verlag (Bern/Leipzig) und Wahrheit und Lüge des Kommunismus von Nikolaj Berdjaev im Luzerner Vita Nova-Verlag. Beide Publikationen vereint die Suche nach den geistigen und kulturellen Ursachen und den religiösen Wurzeln der Oktoberrevolution und des bolschewistischen Totalitarismus in Russland, das ihre Autoren 1922 verlassen mussten. Stepun und Berdjaev schrieben, um das Geschehen in Westeuropa und für die russische Emigration begreiflich zu machen und um es selbst begreifen zu können. Bei beiden Autoren schimmert auch durch, dass sie die Geschichte der revolutionären Ereignisse mit ihrem faktischen Ausgang als eine Niederlage ihres eigenen Denkens, ihrer eigenen Kultur, ihrer Werte und ihres Glaubens empfanden und nicht zuletzt für sich klären mussten, warum ihre Welt sich der bolschewistischen Gewalt nicht erwehren konnte, warum sie vernichtet wurde und sie selbst gerade noch ihr Leben retten konnten.

Die Ausgangslage der Untersuchung ist bei Stepun und Berdjaev gleichwohl etwas anders. Berdjaev hatte das französische Exil gewählt, während Stepun seit 1926 Professor an der Technischen Hochschule Dresden war. Vor allem aber sind die drei Kapitel der Publikation von Wahrheit und Lüge des Kommunismus eine Übersetzung aus dem Russischen von Evsej [Jewsej] Schor, deren Originale bereits 1931–1932 getrennt voneinander erschienen waren. Das erste Kapitel, das der deutschen Veröffentlichung seinen Namen gegeben hat (russ. Pravda i lož’ kommunizma), publizierte Berdjaev als Leitartikel der Nummer 30 der von ihm herausgegebenen Exilzeitschrift Put’ (Der Weg) (Бердяев 1931a). Das zweite Kapitel, Psychologie der russischen Gottlosigkeit, erschien im selben Jahr als Einzelschrift unter dem Titel Russkaja religioznaja psichologija i kommunističeskij ateizm (Die russische religiöse Psychologie und der kommunistische Atheismus) (Бердяев 1931b). Das dritte Kapitel, Die Generallinie der Sowjet-Philosophie, erschien zuerst 1932 als gesondert paginierte Beilage zur Nummer 34 der Zeitschrift Put’ (Бердяев 1932). Diese Publikation hat den etwas längeren Titel General’naja ← 13 | 14 → linija sovetskoj filosofii i voinstvujuščij ateizm (Die Generallinie der sowjetischen Philosophie und der kämpferische Atheismus).1

Stepun schrieb dagegen anders als Berdjaev direkt auf deutsch und aus einer deutschen Perspektive. Er richtete sich also vor allem an ein deutsches bzw. deutschsprachiges Publikum, und diese Ausrichtung konnte die Veränderungen seit 1933 nicht ignorieren. Die Publikation ging zwar aus Vorlesungen und über 300 Vorträgen, die Stepun seit 1922 in 80 Städten in Deutschland, Österreich und der Schweiz gehalten hatte, hervor (Stepun 1934, IX), aber die damalige aktuelle Situation ist im Text dennoch deutlich präsent. Im Vorwort bemerkt Stepun, dass das Erscheinen einer Bücherserie über Russland, die mit seiner Schrift beginnen sollte, zum gegebenen Zeitpunkt ungünstig sei, denn:

      Deutschland ist so sehr mit sich selber und die Welt so sehr mit den umwälzenden Ereignissen in Deutschland beschäftigt, daß ein gewisser Rückgang des Interesses für Rußland sich notwendig einstellen muß. (ebd., IX)

Das klingt recht neutral. Und wenn Stepun feststellt, Deutschland habe dem Kommunismus den Kampf auf Leben und Tod erklärt (ebd., X), so ließe sich das noch als freundliches Zögern gegenüber dem neuen Regime deuten, wenn das Vorwort nicht mit einer entschiedenen Spitze enden würde: Folgendes sei zu Bewusstsein zu führen:

      [J]eder politische und ideologische Sieg über den Bolschewismus [nützt] zum Schluß nichts […], wenn er dem bolschewistischen Menschenmodell und dem bolschewistischen Lebensmodell das Wort redet und zugute kommt. (Stepun 1934, XI)

Auch widerspricht Stepun – wenigstens in einer Anmerkung – klar der Deutung der russischen Revolution als einer jüdischen Verschwörung: Lenin war kein Jude, Trockij war nur die zweite Figur im Spiel, der Prozentsatz der Juden, die die Bolschewisten eingekerkert hatten, war genauso hoch wie derjenige derer, die sich im bolschewistischen Apparat engagierten, die jüdische Kultur wurde genauso wie alle anderen kulturellen Formen vernichtet (Stepun 1934, Anm. 28, 102–104). Noch deutlicher wird die Kritik im Schlusswort, in dem Stepun die Horrorvision einer siegreichen brutalen Reaktion schildert. Plastisch zeichnet er das Bild einer Kirche, die im Faschismus und im Judenhass beheimatetet ist: ← 14 | 15 →

Am Schluss des kleinen Buches wird die Perspektive düster. Es wäre zwar Kleinmut, die Hoffnung aufzugeben, aber:

Berdjaevs Darstellung lässt solche Bezüge zur aktuellen politischen und geistigen Situation Westeuropas, Frankreichs und Deutschlands nicht erkennen. Seine Fragestellung ist, wie auch aus dem Titel hervorgeht, sehr viel enger am Wesen des Kommunismus und seinem Verhältnis zur bürgerlichen Kultur Europas orientiert, wie sie sich im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert entwickelt hatte. Auch wird Berdjaevs Hoffnung auf das Ende des Wahnsinns noch nicht von der Bedrohung durch eine neue Gottlosigkeit getrübt. Seine Gedanken bewegen sich in der Opposition von Kapitalismus und Individualismus auf der einen und Kommunismus und Kollektivismus auf der anderen Seite, aus deren beiden Übeln nur ein erneuertes integrales Christentum herausführen könne. Dieses aber ist die Hoffnung, auf die gesetzt werden kann.

Dieses integrale Christentum wäre die Überwindung jenes „inneren Dualismus“ von dem die christliche Welt seit Jahrhunderten „zutiefst“, wie Berdjaev schreibt, „getroffen“ ist:

2.  Das Paradoxon der russischen Revolution

Stepun und Berdjaev hatten ein etwas anders Zielpublikum vor Augen und setzten in ihrer Kritik etwas andere Schwerpunkte. Sie versuchten aber beide dieselbe Problematik zu bewältigen und gingen in ihren Untersuchungen von derselben Ausgangsfrage aus: Wie wurde es möglich, dass sich ausgerechnet in Russland eine materialistische, deterministische und atheistische Ideologie durchsetzen konnte, obwohl die Voraussetzungen dafür gar nicht erfüllt zu sein schienen?

Berdjaev spricht von der Kompliziertheit der Frage, die aus dem gleichzeitigen Internationalismus des Kommunismus und seiner faktischen Nationalisierung in Russland herrührt. ← 16 | 17 →

Bei Stepun ist diese Frage ökonomisch und religiös gestellt. Die ökonomischen Bedingungen sind nach der Lehre des marxistischen Determinismus nicht gegeben (Stepun 1934, 2f.), und die Religiosität der russischen Kultur steht im Widerspruch zum Sieg einer totalen atheistischen Doktrin. Daraus folgt die kritische Frage:

Berdjaev konzentriert die Ausgangsfrage auf die religiöse Paradoxie:

In der deutschen Fassung wird durch die Paradoxie die Vorstellung von dem, was die ‚russische Seele‘ sei, infrage gestellt.

Im russischen Text ist die Frage weniger pathetisch formuliert:

Die Antwort auf das ökonomische und vor allem religiöse Paradoxon lautet bei Berdjaev und Stepun gleich, und der Weg, dieses Paradoxon zu verstehen, stimmt ebenfalls bei beiden überein: Sie begreifen den russischen Kommunismus als eine spezifisch russische Erscheinung, die sich von kommunistischen Bewegungen und Ideologiegebäuden in Westeuropa klar unterscheide, und sie erkennen im russischen Kommunismus eine neue Religion, die an die russische Religiosität anknüpft. Es ist für sie gerade die religiöse Basis, die den Kommunismus in Russland erfolgreich werden ließ. Dazu Berdjaev:

Details

Seiten
276
Erscheinungsjahr
2018
ISBN (PDF)
9783631737811
ISBN (ePUB)
9783631737828
ISBN (MOBI)
9783631737835
ISBN (Paperback)
9783631737804
DOI
10.3726/b12330
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Russische Philosophie Theorie des Totalitarismus Deutsch-russische Beziehungen Philosophische Autobiographie Russische Emigration Russische Literatur
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018., 276 S., 12 s/w Abb.

Biographische Angaben

Holger Kuße (Band-Herausgeber:in) Ludger Udolph (Band-Herausgeber:in)

Holger Kuße studierte Slavistik und Theologie in Mainz, Wien und Frankfurt am Main. Er habilitierte sich mit einer Arbeit zur metadiskursiven Argumentation im russischen philosophischen Diskurs. Er ist Professor für Slavische Sprachgeschichte und Sprachwissenschaft an der TU Dresden. Seine Forschungsschwerpunkte sind Argumentationslinguistik, Diskurslinguistik und Kulturwissenschaftliche Linguistik. Zu seinen besonderen Interessensgebieten gehört die Russische Philosophie. Ludger Udolph studierte Slavistik und Germanistik in Bonn und Köln. Er habilitierte sich mit einer philologischen Studie zur Lyrik Teodor Trajanovs. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Slavische Literaturwissenschaft an der TU Dresden. Seine Forschungsschwerpunkte sind die russische, tschechische, bulgarische und sorbische Literaturwissenschaft.

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Titel: Der russisch-deutsche Europäer: Fedor Avgustovič Stepun (1884–1965)