Erinnerungsraum Osteuropa
Zur Poetik der Migration, Erinnerung und Geschichte in der slavischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Herausgeberangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort
- Danksagung
- Grußwort
- Inhalt
- GESCHICHTE UND ERINNERUNG
- Manuskriptfiktion zwischen Mystifikation und Metahistoriographie in der postsowjetischen Literatur
- Familienromane der polnischen Zwischenkriegszeit: Maria Dąbrowskas Noce i dnie und Israel Joshua Singers Di brider Ashkenazi
- Zeugnis ablegen in der Sowjetunion: Zum Erinnerungstext Mstiteli getto von Girš Smoljar
- Narrative der Dritten Generation nach der Shoah: Dingbezogene Erinnerung im Roman Pensjonat von Piotr Paziński
- Schreiben über Zwangsarbeit: Ludvík Kunderas Totalní kuropení zwischen Zeugenschaft, Jazz und sozialistischer Kulturdoktrin
- Das Projekt Boris Akunin – eine Bestandsaufnahme
- RÄUME UND TOPOLOGIEN
- Das bewegte Bauwerk. Zur Funktion des Tunnels in den Werken Richard Weiners, Věra Linhartovás und Daniela Hodrovás
- Kanonisierung in Bewegung: Sozialistischer Realismus in der neugriechischen Literatur und seine sowjetische Übersetzung am Beispiel von Mētsos Alexandropoulos
- Geopoetik von Baku in der zeitgenössischen russischsprachigen Literatur
- St. Petersburg als Palimpsest: subversive Geschichtskonstruktionen als Gegendiskurs in der Performance- und Aktionskunst des Laboratoriums für poetischen Aktionismus
- SPRECHAKTE UND SCHREIBVERFAHREN
- Lady Macbeths Hände am Fehrbelliner Platz. Intimität und Identität in Witold Gombrowiczs Berliner Notizen
- Lebenskunst als raison d’être: Fedor Stepun im Exil
- Metareferenz in Saša Sokolovs Škola dlja durakov
- Darstellung der Bewusstseinsvorgänge in der Prosa von Pavel Ulitin
- Autorenverzeichnis
Clemens Günther
Manuskriptfiktion zwischen Mystifikation und Metahistoriographie in der postsowjetischen Literatur
Abstract: The article addresses the shifting literary strategies of dealing with manuscripts in Russia. It focuses on Mark Charitonov’s novel Lines of Fate and Michail Kuraev’s story “Meet Lenin!” which both parody traditional literary editor fiction. Their postmodern aesthetic calls into question notions of reestablishing historical truth in the perestroika years.
1 Literatur als fiktionale Realität
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts kommt es in Westeuropa zu einer „umfangreiche[n] Neubewertung der Darstellung geschichtlicher Ereignisse“ (Kurth 1964: 337). Die sich institutionalisierende Geschichtswissenschaft fordert, bisherige Darstellungen in Zweifel zu ziehen, Quellen kritisch zu prüfen und eine klare Methodik und Zielsetzung für die Disziplin zu definieren. Im Zuge dieses Prozesses kommt es zu einem Konflikt mit der schönen Literatur. Der Wahrheitsanspruch der Geschichtswissenschaft, der später in das Diktum Leopold von Rankes münden wird, „zu zeigen, wie es eigentlich gewesen [sei]“ (von Ranke 1874: VII), gerät in Konflikt mit der bloß fiktiven Behandlung der Vergangenheit in der Literatur. Einer der Streitpunkte, an denen sich dieser entzündet, ist der Umgang mit Manuskripten. Während Manuskripte in der Geschichtswissenschaft als wissenschaftliche Quellen betrachtet und kritisch rezipiert werden, werden sie in der schönen Literatur zum Teil einer fiktionalen Realität (vgl. Luhmann 2008: 277). Dort wird fingiert, hinzugedichtet, gekürzt und auf genaue Angaben von Herkunft und Fundort des Manuskripts verzichtet.
Ein Werk des sonst so beliebten [Abbé] Prévost zum Beispiel fand in Deutschland keine freundliche Aufnahme, weil es diesen neuen Forderungen nicht genügte. Für die Philosophischen Feldzüge oder Geschichte des Herrn von Montcal hatte sich Prévost der Manuskriptfiktion bedient. Seine Behauptung, wirklich vorhandene Dokumente veröffentlicht zu haben, wurde ernst genommen und angegriffen. Mit scharfen Worten wies der Rezensent der Franckfurter Gelehrten Zeitung (1744) die Wahrheitsbestätigungen Prévosts zurück, tadelte Einzelheiten als romanhafte Erfindung eines müßigen Kopfes ←2121 | 22→und beschuldigte ihn, mit niederträchtigen Mitteln das „Gedächtnis“ des Marschalls von Schomberg, eines Vorgesetzten Montcals, beschimpft zu haben (Kurth 1964: 341).
Der Fall zeigt, dass das erfundene Manuskript als „Instrument der Beglaubigung und […] Nobilitierung“ (Klinkert 2010: 183) ausgedient hat. Das geschichtswissenschaftliche Faktizitätsstreben konfligiert mit der nun entstehenden literarischen Programmatik der „Einübung eines Fiktivitätsbewußtseins“ (Wirth 2008: 16): Es geht nun nicht länger darum, die Täuschung (das fiktionale Werk) als Wahrheit erscheinen zu lassen, sondern darum, dass die Täuschung als solche vom Rezipienten durchschaut und gewürdigt wird.1 Der Rezipient lernt, literarische Texte als Werke sui generis von thematisch ähnlichen Darstellungen in Wissenschaft oder Recht zu unterscheiden und an die Literatur spezifische, nämlich ästhetische, Kriterien anzulegen. Im Rahmen dieses Prozesses „muß sich [der Roman] nicht mehr mithilfe einer Authentizitätsfiktion als ‚wahre Geschichte‘ tarnen, sondern findet als poetisch wahre Fiktion und als Spiel mit der Form Anerkennung.“ (Wirth 2008: 423)2 Seinen Höhepunkt erreicht dieser Differenzierungsprozess in der Romantik. Der sich zu dieser Zeit als Gattung konstituierende historische Roman3 signalisiert nun ganz deutlich, dass er nicht Historiographie sein will bzw. kann und etabliert stattdessen einen eigenen narrativ-ästhetischen Wissensanspruch.
2 Manuskriptfiktion in der russischen Romantik
Etwas später findet sich diese Entwicklung auch in Russland. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erscheint Schriftstellern und Politikern die Geschichte als geeigneter Schauplatz, um Russland als gleichberechtigten Partner im Kreis der europäischen Großmächte zu verankern (vgl. Schmid 2007: 267). Deshalb beauftragte Zar Aleksandr I. den Schriftsteller Nikolaj Karamzin, eine Geschichte Russlands zu verfassen. Karamzin kam dieser Aufforderung nach und legte ein ←2222 | 23→zwölfbändiges Werk vor, das einen Bogen von der Kiewer Rus bis zum Krieg gegen Napoleon spannte. Sein Werk geriet jedoch schnell in heftige Kritik. So warf man ihm vor, Geschichte zu ästhetisieren und seine eigenen Kategorien unreflektiert und ahistorisch auf die russische Geschichte zu übertragen. Karamzins Ideal einer „narrativen Synthese von Dokumentation und Einbildungskraft“ (Schmid 2007: 272) führte ihn in die Fallstricke, die auch im westeuropäischen Kontext einige Jahrzehnte früher für Diskussion gesorgt hatten. Für ein geschichtswissenschaftliches Werk war seine russische Geschichte zu literarisch geraten, für ein literarisches Werk zu sehr mit wissenschaftlichen Ansprüchen belastet.
Aleksandr Puškin war ein aufmerksamer Leser und Rezipient Karamzins. So entnahm er den Stoff seines Dramas Boris Godunov Karamzins Geschichte Russlands. In Abgrenzung zu Karamzin war sich Puškin laut Schmid allerdings sicher, „dass der historische Roman nicht das leisten kann, was ihm die zeitgenössische russische Kritik […] zugetraut hatte, nämlich die gleichzeitige historisch gültige und lebendige Vergegenwärtigung des Vergangenen.“ (Schmid 2007: 305) Das Resultat seiner Reflexion schlug sich in seiner Behandlung des Pugačëv-Aufstands nieder, zu dem zwei Werke erschienen, die idealtypisch die geschichtswissenschaftliche der literarischen Bearbeitung eines historischen Stoffes gegenüberstellen: Istorija Pugačëva (Die Geschichte Pugačëvs) und Kapitanskaja dočka (Die Hauptmannstochter). Die vermeintlich klare Trennung beider Geltungsansprüche aber wird fragil, betrachtet man das Ende der Hauptmannstochter, wo es heißt:
Рукопись Петра Андреевича Гринева доставлена была нам от одного из его внуков, который узнал, что мы заняты были трудом, относящимся ко временам, описанным его дедом. Мы решились, с разрешения родственников, издать ее особо, приискав к каждой главе приличный эпиграф и дозволив себе переменить некоторые собственные имена. (Puškin 1957: 541)4
In dieser Schlussbemerkung zeigt sich die historische Erzählung als Manuskriptfiktion. Dies ist insofern pikant, als Puškin dadurch suggeriert, bei den Aufzeichnungen handle es sich um eine der historischen Quellen, die er im zweiten Band seiner Geschichte Pugačëvs zusammengestellt hatte.5 Betrachtet man die ←2323 | 24→Hauptmannstochter allerdings näher, zeigt sich etwas ganz Anderes: Die Aufzeichnungen Grinevs sind unlogisch und notorisch unzuverlässig und es wird schnell klar, dass man es hier mit fingiertem Material im Sinne Isers zu tun hat (vgl. 1991). Die Hauptmannstochter erzeugt nur die Illusion einer narrativen Einheit des Geschichtlichen. Bei näherer Betrachtung zerfällt diese Einheit, die Manuskriptfiktion dient nur als „Maske historischer Authentizität“ (Schmid 2007: 305). Das fiktionale Werk suggeriert einen faktischen Bezug, der sich als Mystifikation erweist. Die Synthese von Faktizität und Fiktionalität läuft ins Leere, sie wird zu einem undurchführbaren und un(be)schreibbaren Unterfangen. Puškins Pugačëv-Projekt entpuppt sich so als ironische Replik auf Karamzins Ideal der Synthetisierung, als „Spiel mit der Form“ im oben zitierten Sinne Wirths.
3 Die Renaissance der Manuskriptfiktion
Jüngere theoretische Debatten radikalisieren diese Diagnose der (russischen) Romantik. Die strikte Trennung von Faktizität und Fiktionalität verliert angesichts des Siegeszugs eines konstruktivistischen Wahrheitsbegriffs an Bedeutung. Am deutlichsten wird diese Position im Umfeld der Sprachkritik dekonstruktivistischer Ansätze artikuliert. So liest man bei Paul de Man: „The binary opposition between fiction and fact is no longer relevant: in any differential system, it is the assertion of the space between the entities that matters.“ (de Man 1989: 109) Im Rahmen von de Mans Dialektik von Blindness and Insight liegt das kritische erkenntnistheoretische Potential der Literatur gerade darin, dass sie um die begrenzte Reichweite ihrer Aussagen weiß und nicht dem Glauben verfällt, mit Sprache ließe sich Wirklichkeit einholen:
Die Sprache weiß […] um ihr notwendiges Verfehlen der Sache, und genau auf diesem Wissen beruht ihre ‚Einsicht‘. Dieses Wissen ist insbesondere bei der literarischen Sprache ausgeprägt, während eine Sprache, die auf einen Gegenstand bezogen ist, d.h. ‚etwas‘ aussagen möchte, ihrer eigenen Blindheit verfällt. (Wagner-Egelhaaf 2015: 344f.)
Bei Puškin klingt noch die Idee einer geniehaften Schöpfergestalt nach, die in der Lage ist, die Fäden von Faktographie und Fiktionalität in ihren Händen zu halten und diese zu verflechten. Die Autorinstitution fungiert noch als archimedischer Punkt der Wirklichkeitserkenntnis. Dem gegenüber steht eine sich ←2424 | 25→seit der Wende zum 20. Jahrhundert verstärkende Tendenz hin zum Meta-Autor, der „in der Funktion Herausgeber aufgeht, ja […] gewissermaßen in einem editorialen Dispositiv ‚hinter der Szene‘ verschwindet“ (Wirth 2008: 425). Der Autor als Autorität verabschiedet sich. Die bisherige Aufgabe der Literaturkritik, die Geschichte als Hypostase des Autors zu entziffern (vgl. Barthes 2000: 191), wird kritisiert.
Die mit einem starken Autorschaftsbegriff verbundenen Dichotomien von Original und Kopie, Autorschaft und Nachahmung (vgl. Frank u.a. 2001: 9–11) werden im postmodernen historischen Roman zunehmend unterlaufen. Stattdessen wird in vielen Texten ein Labyrinth von Verweisungen errichtet, das seine eigene ‚Gemachtheit‘ und Fiktionalität metafiktional zur Schau stellt. War die Manuskriptfiktion in ihrer Frühform noch ein Mittel der Nobilitierung, das ohne Verweis auf die historische Realität nicht auskommen konnte, so entwickelt sich diese Referenzstruktur im Laufe der Entwicklung zunehmend zu einem simulativen Spiel der Signifikanten.6 Im Simulationsbegriff entbehrt der Signifikant des Verweises auf ein reales Signifikat und setzt an dessen Stelle das frei flottierende Spiel der Verweisungen. Der faktuale Ursprung historischer Sachverhalte lässt sich nicht mehr ermitteln. Sichtbar und lesbar ist nur die historische Spur dieses Ursprungs. Das Wissen um das oben bereits angedeutete „notwendige Verfehlen der Sache“ impliziert den Verzicht auf die Idee literarischer Totalität. Stellen die Anfänge der Manuskriptfiktion den Versuch dar, das historische Außen in Form eines Dokuments in das Buch-Innere zu integrieren und diese Einschreibung literarisch zu kaschieren, rückt nun die Differenz zwischen Buch und Buch-Außerhalb ins Feld der Aufmerksamkeit. Bei Jacques Derrida heißt es:
Die „Literatur“ zeigt […] das Jenseits des Ganzen an: die „Operation“, die Einschreibung, die das Ganze in einen Teil verwandelt, der danach verlangt, vervollständigt oder suppliiert zu werden. Eine derartige Supplementarität eröffnet das „literarische Spiel“, in dem zusammen mit der „Literatur“ auch die Figur des Autors verschwindet. (1995: 65)
Der faktographische Mangel literarischer Praxis ist bei Derrida ebenso wie bei de Man prinzipieller Natur. Das Manuskript fungiert, wenn überhaupt, nur noch als „Referenz auf die ‚Absicht des Autors‘ “ (Stanitzek 2004: 11) und konstituiert eine literarische Praxis, die die Frage nach der Zurechenbarkeit des Textes und der Zurechnungsfähigkeit des Autors systematisch unterläuft. Mit Epstein könnte argumentiert werden, dass diese Entwicklung für den russischen Kontext besonders relevant ist. In seinem einflussreichen Aufsatz The Origins and ←2525 | 26→Meaning of Russian Postmodernism bezieht dieser sich affirmativ auf Baudrillard und erklärt dessen Konzept der Simulation zum einflussreichsten Bezugspunkt der russischen Postmodernismus-Debatte. Die Pointe der Argumentation Epsteins besteht dabei darin, die Wurzeln des Simulationsbegriffs für die russische Kultur weit vor der Moderne anzusetzen: „The production of reality seems new for Western civilization, but it has been routinely accomplished throughout all of Russian history.“ (Epstein 1995: 190f.) Anhand vieler Beispiele zeichnet er die Karriere russischer Hyperrealitäten nach und spricht kulturosophisch7 von der „simulative nature of Russian civilization“ (Epstein 1995: 192). Gerade angesichts dieser Traditionslinie scheint es lohnenswert, die postsowjetische Geschichte der Manuskriptfiktion kritisch im Hinblick auf diese Genealogie zu lesen.
4 Manuskriptfiktion in der russischen Postmoderne
In der sogenannten Postmoderne hat die Manuskriptfiktion zu neuer Popularität gefunden. Viele der postmodernen Titel, die sich der Manuskriptfiktion bedienen,8 lassen sich heuristisch der von Ansgar Nünning beschriebenen und theoretisierten metahistoriographischen Fiktion zuordnen, die „im Gegensatz zu traditionellen Formen von fiktionaler Geschichtsdarstellung […] den Prozeß der imaginativen Rekonstruktion der Vergangenheit sowie epistemologische, methodische und darstellungstechnische Probleme der Historiographie in den Mittelpunkt“ (Nünning 2002: 547) rückt. Diese Entwicklung lässt sich auch in Russland beobachten und soll nun an zwei Texten, die sich der Manuskriptfiktion bedienen, exemplarisch vorgeführt werden: An Mark Charitonovs 1992 mit dem Booker-Preis gekrönten Werk Linii Sud’by (Linien des Schicksals) sowie an Michail Kuraevs Erzählung Vstrečajte Lenina! (Trefft Lenin!).
Im Zentrum von Charitonovs Linii Sud’by steht der Historiker Lizavin, der in einem Archiv die Aufzeichnungen Milaševičs, eines vergessenen Provinzphilosophen des frühen 20. Jahrhunderts, findet. Die Beschäftigung mit den Manuskripten Milaševičs führt ihn auf eine fantastische Reise durch Russland und die russische Geschichte, auf der die Grenzen zwischen Wahrheit ←2626 | 27→und Erfindung, Geschichte und Gegenwart sowie Forscher und Forschungsgegenstand fragwürdig werden. Kuraevs spätere Erzählung Vstrečajte Lenina! schildert die Geschichte eines gescheiterten Reenactments der Ankunft Lenins am Finnländischen Bahnhof anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums dieses historischen Ereignisses. Die humoristische Erzählung, die von zahlreichen Abschweifungen und historischen Exkursen unterbrochen wird, geht dabei auf ein Manuskript zurück, welches dem Erzähler von einem Nachbarn übergeben wurde. Auf der einen Seite des Manuskripts wird dabei die gescheiterte Organisation der Jubiläumsfeierlichkeiten geschildert, während die auf der Rückseite des Manuskripts befindlichen, vordergründig zusammenhangslosen Protokolle des Gebietsparteikomitees Vyborg dialogisch in die Erzählhandlung eingewoben werden.
4.1 Der Fund des Manuskripts
In den traditionellen Varianten der Manuskriptfiktion taucht das Manuskript meist zu Beginn, seltener am Ende der Erzählung auf. Ein klassisches Beispiel hierfür ist eine Beschreibung in Jan Potockis Roman Die Handschrift von Saragossa. Dort heißt es in der Vorrede:
Wenige Tage nach der Einnahme der Stadt drang ich in eine abgelegene Gegend vor und erblickte dort ein recht gut gebautes kleines Haus. […] Neugierig geworden, beschloß ich hineinzugehen. Ich klopfte an die Tür; doch ich bemerkte, daß sie nicht verschlossen war. Ich stieß sie auf und trat ein. […] Es sah aus, als habe man schon alles einigermaßen Wertvolle weggeschleppt; auf den Tischen und in den Schränken lagen nur noch Gegenstände von geringem Wert. Indessen erblickte ich auf dem Fußboden, in einer Ecke, mehrere beschriebene Hefte. Ich sah nach, was sie enthielten. Es war ein spanisch geschriebenes Manuskript. (Potocki 1962: 13)
Hier sind viele klassische Elemente des Manuskriptfunds enthalten. Das Manuskript wird zufällig gefunden, den Erzähler zieht es auf magische Weise zum Fundort. Dort trifft er auf ein Chaos, in dem alles Wertvolle bereits verschwunden zu sein scheint. Doch an einem abgelegenen Ort entdeckt der Erzähler schließlich doch noch einen Schatz: Ein altes Manuskript. Die Erzählillusion des Vorworts etabliert die Autorität des Erzählers und untermauert den Wahrheitsanspruch der Erzählung. Uwe Wirth hat in diesem Zusammenhang in Anknüpfung an Ritualtheorien von einem Schwellenritus gesprochen,
der die Frage nach den Geltungsansprüchen gemeinsam akzeptierter Normen [suspendiert], um statt dessen [sic] die Wahrheit deklarativ zu „verkünden“. Das heißt, ritualisiertes Handeln ist keinen Verifikationsprozeduren unterworfen, sondern „die Wahrheit des Rituals“ wird durch Prozeduren der Initiation mimetisch internalisiert. (2008: 93)
Der Beginn von Kuraevs Vstrečajte Lenina! parodiert diesen ritualisierten Anfang. Zu Beginn der Erzählung heißt es unter der Überschrift „Ot publikatora“ („Vom Herausgeber“):
Никогда не думал, что придется писать предуведомление в духе литераторов ленивых и лишенных воображения.
„Совершенно случайно ко мне попала рукопись, с автором которой я не был никогда знаком…“
Рукопись попала ко мне не случайно!
Рукопись попала ко мне благодаря моей известности, благодаря тому, что я известен не только почти по всей нашей лестнице (семь квартир), но отчасти и во дворе (два дома, один завод и одно общежитие). Здесь-то и произошла моя встреча со „случайной“ рукописью. (Kuraev 1995: 5)9
Im Anschluss schildert der Erzähler, wie ihm das Manuskript, eingewickelt in altes Zeitungspapier, von einem gerade abfahrenden Nachbarn gegeben wird. Explizit parodiert der Herausgeber die Tradition des zufälligen Manuskriptfundes. Der unbekannte, geheimnisvolle Fundort der Gattungstradition wird durch die Banalität des Alltags substituiert und als literarischer Kunstgriff offengelegt. Die Umstände der Übergabe tragen des Weiteren dazu bei, dass die künstlich erzeugte Bedeutsamkeit und historische Signifikanz des Manuskripts lächerlich gemacht wird.
Ähnlich wie Kuraev bricht auch Charitonov mit ritualisierten Darstellungen des Manuskriptfundes, der in die Romanhandlung eingewoben wird. Die eingeschobenen Kommentare des Autors legen dabei die Intention bloß, dass mittels des Manuskriptfundes die beiden Hauptpersonen des Romans in Beziehung gesetzt werden sollen: „Да, теперь-то, Симеон Кондратьич, когда заранее знаешь, что вы друг друга нашли […]: вот не туда было подался… но нет, вернулся… еще немного, Антон Андреевич, уже теплей, теплей…“10 ←28 | 29→(Charitonov 1992a: 59). In solchen kommentierenden Einschüben durchbricht der Erzähler die Erzählillusion und entlarvt die Wanderung des Helden als gezielte Lenkung durch den Autor. Charitonov bedient sich der traditionellen Symbolik des Manuskriptfunds (das Manuskript steckt am Ende in einer Truhe), karikiert diese aber durch hyperbolische Rede, eine parodistisch intendierte Raumsemantik und metafiktionale Kommentierungen. Wie auch bei Kuraev wird die Manuskriptfiktion als erzählerischer Kunstgriff offengelegt, die Tradition wird parodiert. Die Fiktionalität wird prononciert markiert und der Status von Realitätsreferenzen explizit problematisiert. Über die Illusionsdurchbrechung hinaus werden – man beachte den Ort des Fundes bei Charitonov, das Archiv – dabei auch historiographische Fragestellungen, die den Umgang mit Quellen und Manuskripten betreffen, implizit thematisiert und erkenntnistheoretisch reflektiert.11
4.2 Das Manuskript als Parasit
Im Regelfall im Vor- oder Nachwort der Erzählung angesiedelt, ist der Platz des Manuskripts in der Tradition formal außerhalb der Erzählung. Verweise auf seine Existenz fehlen, es bleibt im weiteren Gang der Erzählung unerwähnt. Im Gegensatz hierzu fungieren die Manuskripte im Falle Charitonovs und Kuraevs als parasitäre Objekte im Sinne Michel Serres (Serres 1981), die fortwährend die Grenzen von Kommunikationsbedingungen überschreiten und negieren.
Details
- Seiten
- 266
- Erscheinungsjahr
- 2018
- ISBN (PDF)
- 9783631774755
- ISBN (ePUB)
- 9783631774762
- ISBN (MOBI)
- 9783631774779
- ISBN (Hardcover)
- 9783631734643
- DOI
- 10.3726/b14965
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (Februar)
- Schlagworte
- Russische Literatur Polnische Literatur Tschechische Literatur Exil Sozialistischer Realismus Postmoderne
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2018, 266 S.