Die spanischen Regionen im Zeitalter der Aufklärung - Literarische Darstellungen und politisch-ökonomische Reform
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- I.I Fragestellung
- I.II Methodische und theoretische Grundlagen
- I.II.I Diskurs
- I.II.II Dispositiv
- I.II.III Interdiskurs
- I.II.IV Diskurs- und Dispositivanalyse
- I.III Textauswahl
- I.IV Forschungsstand
- 1. Kulturhistorischer und methodischer Rahmen: Das Reformprogramm der spanischen Aufklärung
- 1.1 Die Spezifika der spanischen Aufklärung
- 1.1.1 Aufklärung und Aufklärungsforschung in Spanien
- 1.1.2 Die Aufarbeitung des Dekadenzkonzepts
- 1.1.3 Bedeutung der Dekadenzwahrnehmung im spanischen 18. Jahrhundert
- 1.2 Das politisch-ökonomische Reformdispositiv der spanischen Aufklärung
- 1.2.1 Die Wurzeln des politisch-ökonomischen Reformdispositivs in der spanischen Frühaufklärung
- 1.2.2 Die Entwicklung des politisch-ökonomischen Reformdispositivs in der zweiten Jahrhunderthälfte
- 2. Traditionskritik und Heimatliebe: Die spanischen Regionen in der wissensphilosophischen Erneuerung der ersten Jahrhunderthälfte am Beispiel des Teatro Crítico Universal von Benito Jerónimo Feijoo
- 2.1 Kulturelle und wissensphilosophische Erneuerung im Teatro Crítico Universal
- 2.1.1 Die Überprüfung von Gewohnheit und Tradition durch die Vernunft
- 2.1.2 Die Gewohnheits- und Traditionskritik und ihre regionale Verortung
- 2.1.3 Die Sittenkritik und das Streben nach dem eigenen Vorteil
- 2.2 Von der Region zur Nation: Die amor de la patria als soziale Tugend
- 2.3 Die spanischen Provinzen und Ansätze politisch-ökonomischen Denkens
- 2.4 Regionalkultur am Beispiel regionaler Sprachforschung
- 2.5 Galicien im Glanz der spanischen Geschichte
- 3. Die spanischen Regionen im Kontext der politisch-ökonomischen Reform der zweiten Jahrhunderthälfte
- 3.1 Die Bedeutung der regionalen Disparitäten für die Agrarreform
- 3.2 Die Bedeutung der Landfrage für die politisch-ökonomische Reform der Regionen
- 3.2.1 Eigeninteresse gegen Monopolbildung: Das Nord-Süd-Gefälle
- 3.2.2 Weizenkammer und Wüste: Die Agrarfrage in Kastilien
- 3.2.3 Der Schutz des Privateigentums: Die Weidewirtschaft in Kastilien, Extremadura und Andalusien
- 3.2.4 Das Pachtsystem Andalusiens und das freie Spiel der Kräfte
- 3.3 Die Bedeutung von Industrie und Handel für die politisch-ökonomische Reform der Regionen
- 3.3.1 Das politisch-ökonomische Idealmodell: Die industria popular in Galicien
- 3.3.2 Die Förderung der Industrie in Kastilien, Extremadura und Andalusien
- 3.3.3 Der industrielle Norden: Fischereiwesen und (Schwer-) Industrie in Galicien, Asturien und dem Baskenland
- 3.3.4 Die Bewertung des Handels an den Beispielen Katalonien und Kastilien
- 3.3.5 Die Notwendigkeit des Freihandels am Beispiel des kastilischen Getreideexports und des Amerikahandels
- 3.3.6 Der ökonomische Wettbewerb zwischen den Regionen
- 3.4 Wissen und Bildung als Instrumente der Regionalreform
- 3.4.1 Das Wissen über die Regionen im Kontext der Reform
- 3.4.2 Die Regionalforschung der Sociedades Económicas
- 3.4.3 Bildung als Instrument zur regionalen Förderung von Industrie- und Agrarsektor
- 3.4.4 Die allgemeine Bildungsreform: Schulbildung zwischen Dorf und Region
- 3.5 Regionalkultur und politisch-ökonomische Sitten- und Gewohnheitskritik
- 3.5.1 Politisch-ökonomische Darstellungen von Regionalkultur am Beispiel der Tänze des Baskenlands, Kataloniens und Asturiens
- 3.5.2 Politisch-ökonomische Sittenkritik im El Censor am Beispiel andalusischer und galegischer Regionalkultur
- 3.5.3 Die Gewohnheitskritik als Instrument der politisch-ökonomischen Reform
- 4. Das Glück der Regionen als Ziel der Reform Spaniens
- 4.1 Die Bedeutung des Handels für das Glück der Regionen
- 4.2 Die Bedeutung der Infrastruktur der Regionen für die Reform Spaniens
- 4.3 Die politisch-ökonomische Organisation der Regionen
- 4.4 Das Glück Spaniens liegt in seinen Regionen
- 5. Konklusion und Ausblick
- Literaturverzeichnis
- Reihenübersicht
„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“.1 Seit Kants berühmter Abhandlung von 1784 wird die Aufklärung mit dem Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit durch die aktive Bedienung der eigenen Vernunft in Verbindung gebracht. Gleichzeitig bildet die Aufklärung das Zeitalter der Kritik.2 Mit dem Aufkommen skeptizistischer Lehren im 17. Jahrhundert hatte sich der Begriff der Kritik im 18. Jahrhundert zu einem zentralen Konzept der Urteilsfindung entwickelt. Die Vernunft bedient sich der Kritik zur Überprüfung von richtig und falsch, Wahrheit und Mythos oder Aberglaube.3
Wie kommt nun eine Romanistin rund zwei Jahrhunderte später auf die Idee, die spanische Literatur der Aufklärung auf die darin enthaltenen Darstellungen ← 13 | 14 → der Regionen hin zu untersuchen? Könnte man doch meinen, dass die globale Vernetzung von Märkten und Gesellschaften die Region als politische oder kulturelle4 Einheit in die Bedeutungslosigkeit verdrängt habe. Auch sollte man annehmen, dass über das 18. Jahrhundert bereits alles herausgefunden worden sei. Jedoch, ein Blick sowohl in die aktuelle Tagespresse als auch in die einschlägige Fachliteratur zeigt, dass Beides nicht zutrifft. So scheint die Region als sinnstiftende Einheit gerade in Zeiten der Globalisierung wieder eine politisch bedeutsame Rolle zu spielen, wie sich an den Regionalismusbewegungen Kataloniens und des Baskenlands belegen lässt.
Über das Vorhandensein eines regionalkulturell pluralistischen Spaniens besteht aus heutiger Sicht Einigkeit. Ungeklärt ist jedoch bislang, wie weit die Wurzeln der literarischen Darstellungen der Regionen in die Vergangenheit zurückreichen. In der romanistischen Forschung herrscht diesbezüglich die Annahme vor, dass vorrangig die Epoche der Romantik als Zeitalter sich etablierender Nationalisierungsprozesse regionale Kulturformen literarisch zu erfassen vermag. Demgegenüber wird das Zeitalter der Aufklärung gemeinhin als eine Epoche literarischer Vereinheitlichung aufgefasst. Gestützt wird diese Auffassung im spanischen Fall von der These, dass der kosmopolitische Geist der Aufklärung und die zentralistische Politik der Bourbonen-Monarchie im Anschluss an den Spanischen Erbfolgekrieg (1700–1714) eine Darstellung oder Thematisierung der spanischen Regionen in den Hintergrund treten lassen.
Ein Blick in die jüngsten Veröffentlichungen zur romanistischen Aufklärungsforschung lassen für die letzten beiden Jahrzehnte einen grundlegenden Verständniswandel der europäischen Aufklärungsbewegung erkennen. Wie beispielsweise die Beiträge der in diesem Zeitraum abgehaltenen Romanisten- und Hispanistentage belegen, hat eine Neuausrichtung sowohl der Methoden- und Theoriekonzepte als auch der Frageinteressen stattgefunden. Aus einer staatenübergreifenden komparatistischen und interdisziplinären Perspektive wird für das europäische 18. Jahrhundert die Entstehung eines gemeinsamen Kommunikations- und Kulturraums auf der Grundlage einer sich auf zwei Ebenen ausgestaltenden Medienlandschaft festgestellt. Zum einen entwickelt ← 14 | 15 → sich durch die Kapitalisierung des Buchmarktes eine neue Form des Wissenstransfers5 und zweitens ergibt sich aus dem Aufkommen des Pressewesens eine grundlegend gewandelte Kommunikationssituation.6 Die Aufklärung erscheint in dieser neuen Perspektive nicht mehr nur als fortschrittsorientierte Reformbewegung, die von den sogenannten „Kernländern“ England und Frankreich ausgeht und deren Errungenschaften nur langsam und gemäßigt die sogenannte Peripherie, beispielsweise Spanien, erreicht. Eine „differenzierte Berücksichtigung der regionalen Dynamik in Europa“ lässt erkennen, „[d]ass Europa von wechselnden Zentren aus bewegt wird und dabei Anstöße zur Veränderung ebenso oft von den jeweiligen Peripherien wie von momentanen Zentren ausgehen.“7 In kulturwissenschaftlichen Forschungsbeiträgen, die bei der Betrachtung der kulturellen und literarischen Entwicklungslinien den kulturhistorischen Kontext in den Vordergrund rücken, wird von der bis dahin verbreiteten Vorstellung des Idealmodells der Aufklärung französischer Prägung Abstand genommen. Betont wird nun das Wirken unterschiedlicher, regional differenzierter kultureller Aneignungsprozesse der Aufklärungsbewegung in ganz Europa. Auf der Grundlage dieser These wird auch für die Situation Spaniens im 18. Jahrhundert von der Herausbildung einer anderen, spezifisch spanischen Aufklärungsbewegung gesprochen, die unterschiedliche regionale Zentren ausbildet, aus denen sich die Reformdynamik des aufgeklärten Absolutismus ab der Jahrhundertmitte speist.8 Dieses gewandelte Aufklärungsverständnis, lässt die spanische Entwicklung als „eine historische Option neben anderen innerhalb einer europaweiten Bewegung“9 erscheinen und revidiert die lange Zeit vorherrschende These über das Nichtvorhandensein der spanischen Aufklärung bzw. ihrer im europäischen Vergleich verspäteten und eingeschränkten Verbreitung. Diese konzeptionelle Neuausrichtung der ← 15 | 16 → literaturwissenschaftlichen Perspektive auf die europäische Aufklärungsbewegung im Umfeld des cultural turn förderte bereits für andere Bereiche der Hispanistik neue Erkenntnisse zu Tage. Als Beispiel dafür kann die Erkenntnis über die Entstehung von Nationalisierungsprozessen der spanischen Kultur im aufgeklärten Absolutismus stehen. So lassen sich nun erstmals kulturelle Entwicklungslinien im 18. Jahrhundert datieren, deren Ursprung zunächst in Nationalisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts verortet worden war.10
Vor diesem Hintergrund und in Anknüpfung an die jüngeren Studien zur spanischen Aufklärung, in denen das Verhältnis von Literatur und Aufklärung11 neu beleuchtet wird, erscheint die Bearbeitung der von Urzainqui aufgestellten These über das Vorhandensein literarischer Darstellungen von Regionalkultur in der spanischen Literatur der Aufklärung als vielversprechend. Urzainqui stützt ihre These auf drei zentrale Argumente. An erster Stelle verweist sie auf das Vorhandensein von kultureller regionaler Vielfalt in der spanischen Literatur des Siglo de Oro, an welche die Literatur der Aufklärung anschließen konnte.12 Des Weiteren lässt sich im Lauf des Jahrhunderts ein aufkommendes Interesse der Aufklärer an regionaler Wirtschaft, Geschichte und Kultur, insbesondere auf der Seite der regionalen Ökonomischen Landgesellschaften (Sociedades de los Amigos del País) verzeichnen, das sich auch in der Literatur niederschlägt. Abschließend führt Urzainqui frühe Formen des costumbrismo13 sowie das Konzept ← 16 | 17 → des Nationalcharakters an. Dabei betont sie, dass die Vorstellung vom Nationalcharakter sowohl national als auch regional gewendet werden kann und in Form einer neuen Sensibilität der Aufklärer für das (regionale) Einzigartige in Erscheinung tritt.14 Bereits diese literaturgeschichtlichen Zusammenhänge legen eine wissenschaftliche Neubearbeitung von Texten des 18. Jahrhunderts nahe:
„Ahora bien, por encima o más allá de esta evidente tendencia de la literatura al cosmopolitismo y a lo universal, una mirada atenta, intencionada, puede reconocer también en ella muchos signos de diversidad regional, o lo que es lo mismo, muchos reflejos de esa realidad múltiple que entonces constituyen las Españas. No simples alusiones […] sino percepciones claras de la relación orgánica que esos personajes guardan con el lugar del que son oriundos y que el escritor plasma destacando los particularismos de indumentaria, costumbres, modo de hablar y, en muchos casos también de identidad caracteriológica regional.“15
Darüber hinaus wird das Verfolgen dieses Frageinteresses durch die Diskussion über die Prozesse der spanischen Staats- und Nationenbildung unterstützt.16 Diese Diskussion ist von zwei konkurrierenden Lehrmeinungen geprägt. Einerseits existiert die These über eine gleichzeitige Herausbildung von Staat und Nation im Zuge der spanischen Staatsgründung durch die Vereinigung der Königreiche von Aragonien und Kastilien unter den Katholischen Königen im Jahr 1479. Demgegenüber existiert die Annahme, dass die spanische Nation sich erstmals im Angesicht der napoleonischen Besatzung im frühen 19. Jahrhundert vereint artikuliert.17 Als ein Beleg gegen die These der frühen Nationenbildung lässt sich die politisch dezentrale Vorstellung von der Monarchie Spaniens (Monarquía de España) unter der Herrschaft der Habsburger anführen, in welcher sowohl alle Spanier der iberischen Halbinsel als auch die Bewohner der hispanoamerikanischen Kolonien in einem politisch losen Konstrukt in verschiedenen Königreichen und Vize-Königreichen beheimatet sind. ← 17 | 18 →
Über dezentrale politische Strukturen hinausgehend belegen neue Erkenntnisse aus Texten der Frühen Neuzeit Spaniens das Vorhandensein regionalkultureller Vielfalt, die gleichzeitig eine politische Dimension aufweist. So bezeichnet der spanische Autor Baltasar Gracián im Jahr 1640 die heterogene Struktur Spaniens als problematisch für die Ausübung zentralistischer Herrschaft: „Pero en la monarquía de España, donde las provincias son muchas, las naciones diferentes, las lenguas varias, las inclinaciones opuestas, los climas encontrados, así como es menester gran capacidad para conservar, así mucha para unir.“18 An anderer Stelle wird hervorgehoben, dass die Katholischen Könige die kulturelle Verschiedenheit Spaniens respektierten. Einem Text des spanischen Geistlichen Juan de Palafox aus dem Jahr 1650 lässt sich entnehmen, dass Königin Elisabeth von Kastilien immer die Tracht der jeweiligen Region trug, in der sie sich gerade befand.19 Die regionale Vielfalt Spaniens erscheint in diesen Textauszügen als eine historisch gewachsene Kondition, die einem zentralistisch regierten spanischen Staat und einer einheitlichen spanischen Kultur entgegenstehen.
Vor diesem Hintergrund besteht das Ziel dieser Studie darin, in Anknüpfung an die These Urzainquis exemplarische Texte der spanischen Aufklärung auf die darin enthaltenen Darstellungen der verschiedenen spanischen Regionen zu untersuchen. Auf der Grundlage eines extensiven Literaturbegriffs und unter Anwendung der Diskurs- bzw. Dispositivanalyse sollen die Darstellungen der Regionen in den Texten der spanischen Aufklärung einer Analyse unterzogen werden. Es wird untersucht, ob parallel zum gesamtspanischen Nationalisierungsprozess von Kultur, der sich in einem nationalisierenden, kulturell vereinheitlichenden Spaniendiskurs artikuliert, gleichzeitig Darstellungen eines regional vielfältigen Spaniens erkennbar werden und welche Bewertung diese Darstellungen im Kontext des Nationalisierungsprozesses der Aufklärung erfahren. Der kulturelle, politische und ökonomische Wandel der spanischen Aufklärung ist bereits vielfach Gegenstand literatur-, kulturwissenschaftlicher und historiographischer Forschung. Allerdings wird in diesen Studien der Blick auf gesamtspanische Phänomene gerichtet, so dass die Erforschung der regionalkulturellen Perspektive ein Forschungsdesiderat bildet. Mit der vorliegenden Studie soll ein Beitrag zur Aufarbeitung dieser Forschungslücke geleistet werden. ← 18 | 19 →
Zur Erforschung dieser Fragestellung wird es in Kapitel 1 darum gehen, das Frageinteresse in den kulturhistorischen, literatur- bzw. kulturwissenschaftlichen und methodischen Kontext einzubetten. Eine kulturhistorische Kontextualisierung erscheint aus zwei Gründen notwendig. Einmal muss bezüglich der Aussagekraft der Texte der spanischen Aufklärung darauf hingewiesen werden, dass die Texte, die publiziert werden und somit diskursanalytisch relevant sind, vom System der doppelten Zensur, einer staatlichen Vorzensur vor Drucklegung und der kirchlichen Nachzensur nach Erteilung der Drucklizenz, geprägt sind. Somit muss davon ausgegangen werden, dass ein erheblicher Anteil an Aussagen in diesen Texten entweder gar nicht oder aber nur anhand stilistischer Mittel verschlüsselt (z.B. durch Satire) abgebildet wird. Um nun ein zuverlässiges Textverständnis zu ermöglichen, sollen historiographische Informationen den Bedeutungshorizont der Texte ergänzen.
Zum zweiten gilt es, die Fragestellung mit den Spezifika der spanischen Aufklärung in Verbindung zu setzen. Dabei steht die Bedeutung des Reformgedankens im Vordergrund, der auf die spanische Literatur, Kultur und Politik wie in keinem anderen europäischen Land einwirkt. Gleichzeitig ist eine Erweiterung der ökonomischen Perspektive, die Urzainqui in ihrem Aufsatz mit der Bezugnahme auf die Ökonomischen Landgesellschaften eröffnet, notwendig. Aus der Beschäftigung der Ökonomischen Landgesellschaften mit Ökonomie, Geschichte und Kultur der spanischen Regionen ergibt sich eine bestimmte regionale Perspektive, die eigene Darstellungen generiert. Um diese Darstellungen adäquat erfassen zu können, ist die Berücksichtigung der Rolle der Ökonomie für das Reformdenken der spanischen Aufklärung notwendig. So hat die zunehmende Ökonomisierung des aufklärerischen Reformdenkens in der zweiten Jahrhunderthälfte vermutlich einen stärkeren Einfluss auf die Literatur als bislang angenommen. Bisher wird das Reformdenken der spanischen Aufklärung in der Forschungsliteratur vorrangig im Kontext des europäischen Konkurrenzkamps im Sinne eines zivilisatorischen, wissenschaftlich-technischen Wetteiferns20 um die machtpolitische Vorrangstellung oder in Verbindung mit der allseits verbreiteten Dekadenzwahrnehmung21 betrachtet. Weitgehend unterbeleuchtet bleibt dabei das Verhältnis des Reformstrebens zum aufkommenden europäischen bzw. globalen ökonomischen Wettbewerb. Eine stärkere ← 19 | 20 → Kontextualisierung der ökonomischen Perspektive wirft indes neue Frageinteressen auf. In diesem Zusammenhang legen wir die These von Vogl zugrunde, der zufolge die ab dem Ende des 17. Jahrhunderts aufkommende (politische) Ökonomie als ein Ordnungssystem aufzufassen ist, das eigene Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche beinhaltet und dass dieses Ordnungssystem wie „jede Wissensordnung bestimmte Darstellungsoptionen ausbildet, […] die über die Möglichkeit, über Sichtbarkeit, über die Konsistenz und die Korrelation ihrer Gegenstände entscheiden.“22 Wenn wir also die Ökonomie als eine neue Wissensordnung des spanischen 18. Jahrhunderts begreifen, welche ihre Eigengesetzlichkeiten im Lauf der zweiten Jahrhunderthälfte schrittweise entfaltet, so stellt sich die Frage danach, welche Darstellungsoptionen sich für die spanische Literatur der Aufklärung aus der Ökonomie ableiten lassen. Darin mag ein innovatives Moment der vorliegenden Untersuchung für die hispanistische Aufklärungsforschung liegen.
Auf der Basis dieser Grundannahmen und vor dem Hintergrund der historischen und ökonomischen Entwicklungslinien der spanischen Aufklärung erfolgt in den Kapiteln 2–4 die hypothesengeleitete Textanalyse. Dabei liegt der Fokus des jeweiligen Kapitels abgeleitet aus dem Entstehungszeitraum der in diesem Kapitel untersuchten Texte auf dem zum jeweiligen Zeitpunkt wirksamen Paradigma, das die Reformdiskussion lenkt. So wird die Wissenschaftsprosa, die den Gegenstand der Analyse in Kapitel 2 bildet, im Hinblick auf den wissensphilosophischen Wandel der Frühaufklärung betrachtet, während in den Kapiteln 3 und 4 der Fokus auf der ökonomischen Ausrichtung des Reformdenkens der zweiten Jahrhunderthälfte liegt. In Kapitel 5 erfolgt eine Zusammenführung dieser beiden Perspektiven, an die sich eine abschließende Bewertung der analysierten Darstellungen anschließt.
I.II Methodische und theoretische Grundlagen
Als Begründer der Diskustheorie gilt der Historiker und Philosoph Michel Foucault. Obgleich keine scharfe Definition des Diskursbegriffs vorliegt, gilt er als eine der meistverwendeten Vergleichskategorien der Geistes- und Sozialwissenschaften der Gegenwart. Für die Anwendung des Diskursbegriffs nach Foucault ist für die Literaturwissenschaft zunächst auf einen zentralen Unterschied im methodischen Zugriff auf den Text hinzuweisen. Im Gegensatz zur klassischen literaturwissenschaftlichen Herangehensweise, der Hermeneutik, die den Dialog ← 20 | 21 → des Interpreten mit dem Werk zugrunde legt, beschäftigt sich die Diskursanalyse mit den „Bedingungen der Möglichkeit von Aussagen“.23 Vor dem Hintergrund, dass die Hermeneutik als Methode der Textinterpretation auf die längste Tradition in der europäischen Kulturgeschichte zurückblicken kann, wird mit der Einführung der Diskursanalyse eine antihermeneutische Wende vollzogen. Begreift die hermeneutische Methode den literarischen Text bis in die 1970er Jahre hinein als eine historisch-ästhetische Quelle, die nach gewissen Regeln auszudeuten ist, so bilden Texte aus poststrukturalistischer Sicht ein selbstregulierendes Zeichensystem mit Mehrfachcodierung, die keine von einer vorgelagerten Instanz hineingelegte Tiefendimension aufweisen.
Die hermeneutische Annahme über das Vorhandensein eines in einen Text durch den Autor eingeschriebenen Sinns ist an das Problem des doppelten Sprachsinns gekoppelt. Diesem Doppelsinn der Sprache begegnet die Hermeneutik im Anschluss an Dilthey mit einer historisch kontextualisierten Auslegepraxis. Im Zuge einer Semiotisierung der Hermeneutik entlastet Ricœur die literaturwissenschaftliche Methode vom Universalitätsanspruch einer philosophisch-anthropologischen Theorie des Verstehens, behält jedoch den klassisch-romantischen Symbolbegriff der Repräsentation eines Zeichens bei. Weiterhin hält er am Kerngedanken der Hermeneutik fest, dem zufolge sich eine mehr oder weniger bewusste Intention des Autors über eine geniale Sprachschöpfung als tieferer Sinn in einen Text einschreibt: „Der Hermeneut entdeckt, weil er von der ‚Tiefe‘ weiß, hinter der Kargheit der Zeichen und ihrem entzifferbaren Sinn die ‚Fülle‘ symbolischer Bedeutungen und reduziert sie auf die wahre Bedeutung des ‚ursprünglichen‘ Wortes, das nie gesprochen wurde.“24
Eine Verlagerung vom Text auf den Interpreten vollzieht in der Folge Habermas, der das deutende Individuum mit seinem Erkenntnisinteresse und dessen historischer und gesellschaftlicher Eingebundenheit in den Vordergrund rückt. Hier stellt sich der kritisch-hermeneutische Zugriff auf den Text als Prozess der Selbstaufklärung und Emanzipation dar.25
Demgegenüber gelten Texte im Sinne des Poststrukturalismus nicht länger als Quellen, sondern als Texturen, die keiner Interpretation bedürfen: „Nicht, welche ‚Bedeutung‘ Texte, Subjekte und Geschichte haben, sollte untersucht werden, sondern auf welche Weise sie konstituiert werden und welche heterogenen ← 21 | 22 → Praktiken sie bündeln.“26 Der hermeneutische Akt der Textauslegung erscheint in dieser Perspektive als eine Form der Sinnzentrierungspolitik, die im Sinne eines Heteronomiebeseitigungsverfahrens die Funktion eines Textes, seine unendliche Menge von Aussagemöglichkeiten, reduziert.27
Gleichwohl kann die Literaturwissenschaft bislang auf die hermeneutische Textauslegung nicht vollständig verzichten, da die antihermeneutischen Ansätze noch kein konsensfähiges Instrumentarium zur Verfügung stellen konnten. Die poststrukturalistische Annahme, dass Texte auch ohne prätextuelle Bedeutungszuschreibungen gedeutet werden können, löst ihre Probleme bezüglich Autorschaft, Geschichtlichkeit, Intentionalität und Mehrdeutigkeit nicht. Fraglich ist weiterhin auch, ob der Leseprozess, der als ein Entziffern von Schriftzeichen aufgefasst wird, gänzlich ohne Interpretation möglich ist.28
Im Zuge dieser weiterhin andauernden Methodendiskussion ist es zu einer kritischen Selbstproblematisierung der Hermeneutik gekommen, die die Polyvalenz literarischer Texte und die hermeneutische Rekonstruktion vieler möglicher Lesarten und Interpretationen eines Texts zugrunde legt. Somit stehen in der Literaturwissenschaft zwei divergierende methodologische Optionen nebeneinander, die im Rahmen der Textanalyse in einen konstruktiven Dialog miteinander überführt werden müssen, um das volle Analysepotential ausschöpfen zu können.29
In Foucaults Diskurskonzept muss zunächst auf die Differenz zwischen Aussage und Äußerung verwiesen werden. Gemäß dieser Differenz sind Äußerungen als Ereignisse zu verstehen, die unwiederholbar sind, weil sie an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit artikuliert werden. Sie bilden somit räumlich-zeitlich spezifische Aussagenereignisse, die sich als kleinste Einheiten in diskursive Formierungen einfügen. Demgegenüber stellt eine Aussage eine Funktion dar, „die wiederholbar ist, da sie im Diskurs in der Form sprachlicher Zeichen etwas zu etwas anderem in Beziehung setzt.“30 Als Aussagen werden somit die regelmäßig wiederkehrenden zeichenhaften Verkettungen von Bedeutungsrelationen ← 22 | 23 → aufgefasst, die in ihrer faktischen Wiederholbarkeit durch das jeweilige Anwendungsfeld, in dem sie wirken, begrenzt werden.31
Als erkenntnistheoretische Fundierung liegt hierbei die These zugrunde, dass „Menschen allen Dingen der Welt gegenüber entsprechend den Bedeutungen [handeln], die diese Dinge für sie besitzen. Im kultursemiotischen Sinne werden diese Bedeutungen in sozialen Interaktionen generiert und in einem interpretativen Prozess im Alltag erlernt, verwendet, bestätigt oder verändert.“32 Die Wahrnehmung der Welt durch den Menschen resultiert laut dieser Grundannahme aus der jeweils vorherrschenden Wissensordnung. Sie gibt diskurstheoretisch formuliert „den Raum des Sagbaren bzw. des Sichtbaren (und damit des Bedeutbaren) vor.“33
Eine weitere Differenzierung des Diskursbegriffs ergibt sich aus der Aufteilung zwischen der diskursiven Konstitutions- und Formationsregelung des Diskurses, die den Diskurs aus generativ-linguistischer Vorstellung heraus als ein diskursives Regelsystem betrachtet, das Phänomene wie Genre, Ton, Verfahren und Stil (Strukturen von Bildfeldern, Metaphorik, Symbolik, Mythen) des Diskurses koordiniert und den sozialen Trägern des Diskurses. Diese organisieren den Diskurs mittels Praktiken und Ritualen. Zu den sozialen Trägern des Diskurses zählen Verlage, Bibliotheken, gelehrte Gesellschaften, Laboratorien usw.34
Von herausragender Bedeutung für die Analyse des Diskurses ist die Annahme, dass der Diskurs immer in ein Machtverhältnis eingelassen ist, bzw. aus einer Verschränkung von einem Wissens- und einem Machtverhältnis hervorgeht. Dabei gilt die Annahme, dass nicht jeder bei jeder Gelegenheit das Recht hat, von allem zu sprechen, weil in jeder Gesellschaft eine Kontrolle, Selektion, Organisation und Kanalisation von Kommunikation stattfindet.35 Zentrale Instrumente dieser Kontrollprozesse bilden Ausschließung, Verbot, Repression und Verdrängung, die durch eine soziale Klassenschranke den oft dualistisch beschriebenen Gegensatz zwischen einem herrschenden und einem beherrschten Diskurs erzeugen. Dabei kann der Diskurs sowohl zu einem Ort als auch einem ← 23 | 24 → Instrument der Konfrontation werden. Der Kampf um den Diskurs und auch zwischen den Diskursen selbst entsteht, weil der Diskurs ein Operator eines Kräfteverhältnisses, eine Waffe der Macht, der Kontrolle, der Unterwerfung, der Qualifizierung und Disqualifizierung von Rede ist.36
Die Ordnung des Diskurses und die bedeutungsstiftende und reproduzierende Macht des Diskursiven erwachsen aus konkreten sozialen Praktiken und gesellschaftlichen Verhältnissen. Ihre wirklichkeitsschaffenden Machtwirkungen entfalten Diskurse erst über die Wissensordnungen, die durch institutionalisierte diskursive Praktiken im Sinne von Wissenspolitiken hergestellt, stabilisiert oder verändert werden.37
Aus der Erkenntnis, dass der Diskurs immer in ein Machtverhältnis eingelassen ist bzw. aus der Verschränkung zwischen einem Wissens- und einem Machtverhältnis hervorgeht, resultiert die Notwendigkeit, den Diskurs-Begriff durch einen weiteren Terminus zu ergänzen. Hierbei handelt es sich um das Dispositiv.38 Der Dispositiv-Begriff wird von Foucault selbst nicht klar definiert. Agamben trägt diesem Umstand in einer ergänzenden und sowohl die ethymologische Herkunft des juristischen Dispositiv-Begriffs als auch den philosophischen Hintergrund Foucaults berücksichtigenden Begriffsbestimmung Rechnung. Demnach wird das Dispositiv hierbei im Sinne Foucaults bzw. Agambens aufgefasst als „eine Gesamtheit von (zugleich sprachlichen und nichtsprachlichen, juristischen, technischen und militärischen) Praktiken und Mechanismen […], die das Ziel haben, einer Dringlichkeit zu begegnen und einen mehr oder weniger unmittelbaren Effekt zu erzielen.“39 Dabei gilt für das Dispositiv das gleiche Wesensprinzip wie für den Diskurs. Im Gegensatz zu den natürlichen Subjekten hat das Dispositiv einen konstrukthaften Charakter, es muss das eigene Subjekt selbst erst hervorbringen.40 Die Dispositive zielen in Weiterentwicklung ihrer theologischen Ethymologie darauf ab, die Subjekte zu regieren. Auf der Grundlage dieser Basisannahme ergänzt Agamben Foucaults Dispositivbegriff, der vor allem für die Literaturwissenschaft eine nützliche Erweiterung liefert: ← 24 | 25 →
Details
- Seiten
- 284
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631788417
- ISBN (ePUB)
- 9783631788424
- ISBN (MOBI)
- 9783631788431
- ISBN (Hardcover)
- 9783631788400
- DOI
- 10.3726/b15563
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (Mai)
- Schlagworte
- Literatur Regionen Aufklärung Spanien Reform politische Ökonomie
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019., 284 S.