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Leseförderung durch Kriminalliteratur

Deutschdidaktische Annäherungen an ein verkanntes und vernachlässigtes Genre

von Fred Maurer (Autor:in)
©2019 Dissertation 424 Seiten

Zusammenfassung

Diese literaturdidaktische Untersuchung widmet sich der Kriminal- und Verbrechensliteratur, die der Deutschunterricht unserer allgemeinbildenden Schulen jahrzehntelang vernachlässigt und zu Unrecht vorschnell der Trivialliteratur zugeordnet hat. Sie will durchaus auch augenzwinkernd beweisen, dass parallel zur literaturdidaktisch längst berücksichtigten Hoch-, Gebrauchs-, Unterhaltungs- und Sachliteratur mehr als bislang literaturwissenschaftlich und -didaktisch (an-)erkannt zahlreiche Texte (Romane, Novellen, Gedichte) und Medien (Filme, Hörspiele) der Kriminalliteratur höheren künstlerischen Ansprüchen genügen, partiell sogar der Weltliteratur zuzurechnen und auch pädagogisch so wertvoll sind, dass sie in einem zeitgemäßen Deutschunterricht sogar einen curricularen Stammplatz beanspruchen sollten. Analysiert und begründet wird überdies, weshalb und inwiefern eine intensivierte, darüber hinaus fächerverbindend ‚symmediale‘ Einbeziehung und literaturdidaktisch angemessene Behandlung kriminalliterarischer Texte und Medien zugleich einer seit Jahren latent schleichenden, doch zunehmend beobachtbaren Tendenz zur thematisch-methodischen ‚Romantisierung des Deutschunterrichts‘ entgegenwirken und sowohl die Motivation als auch die Leistungsfähigkeit gerade der männlichen Schüler erhöhen können, was deren nach den bedenklichen PISA-Erkenntnissen der vergangenen zwei Jahrzehnte partiell defizitäre Lesekompetenz betrifft (die das Buchstabieren, flüssige Lesen und vertiefte Textverstehen umfasst). Erkannt und benannt, erforscht und problematisiert werden überdies die hieraus entstehenden literaturdidaktischen Potenziale; anhand unterrichtlich auf ihre Eignung hin erprobter Beispiele werden auch die aus praxisnaher didaktischer Warte aus dieser Forschung abgeleiteten Thesen veranschaulicht. Schließlich soll die Arbeit auch jenseits der Schule junge wie ältere Leser(innen) anregen, längst verdrängte oder aber ihnen noch unbekannte literarische Kriminalistik neu zu entdecken.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort / Danksagung
  • 1. Literaturwissenschaftliche und -didaktische Fundamente
  • 1.1 Die Kriminalgeschichte in einem lesefördernden Deutschunterricht
  • 1.2 Kriminalliteratur – Versuch einer begrifflichen Klärung
  • 1.2.1 Der Kriminalroman
  • 1.2.2 Der Detektivroman
  • 1.2.3 Exkurs: Das gerechte Ende
  • 1.2.4 Thriller und Spionageromane
  • 1.2.5 Der historische Kriminalroman
  • 1.2.6 Verbrechensliteratur
  • 2. Grundlagen, Ziele und Methoden einer Behandlung von Kriminalliteratur im Deutschunterricht
  • 2.1 Kriminalliteratur in der Literaturdidaktik
  • 2.2 Kriminalliteratur als Medium der Werteerziehung und Gewaltprävention?
  • 2.3 Didaktische Optionen zur Behandlung von Kriminalliteratur im Deutschunterricht
  • 2.3.1 ‚Produktives Schreiben‘ in einer ‚kriminalistischen Schreib- und Erzählwerkstatt‘
  • 2.3.2 Didaktik und Pädagogik des (Kriminal-)Theaters
  • 2.3.3 Filmdidaktik als wesentliche Komponente zur Behandlung von Kriminalliteratur
  • 2.3.4 Symmedialität als didaktisches Prinzip
  • 3. Literatur- und mediendidaktische Modellierungen zur Kriminalliteratur im Deutschunterricht
  • 3.1 Literaturdidaktische Vorbemerkungen zur Auswahl der Texte, Dramen und Filme
  • 3.2 Erich Kästners Kinderdetektivroman „Emil und die Detektive“ (Klasse 4 bis 5)
  • 3.3 Unsterbliche Heldenepen: Homer und das Nibelungenlied (Klasse 7 bis 12)
  • 3.3.1 Homers antike Sagen ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘
  • 3.3.2 Dramensequenz aus mehreren antiken Kriminaltragödien
  • 3.3.3 Das Nibelungenlied des Mittelalters
  • 3.4 Kriminallyrik: Kriminalgedichte und Kriminalballaden (Klasse 7 bis 12)
  • 3.4.1 Vorbemerkungen zur Frühgeschichte der Lyrik
  • 3.4.2 Kriminallyrik
  • 3.4.3 Die Kriminalballade im Deutschunterricht (Klasse 7 bis 10)
  • 3.4.4 Klassen- und fächerübergreifendes Kompendium der ‚klassischen‘ Kriminalballade
  • 3.4.5 Moderne Kriminalballaden des 20. Jahrhunderts
  • 3.5 Kriminalfabel und Kriminalparabel (Klasse 6 bis 10)
  • 3.5.1 Die Kriminalfabel (Klasse 6)
  • 3.5.2 Die Kriminalparabel (Klasse 9)
  • 3.6 Kriminaltragödien aus der Schweiz
  • 3.6.1 Max Frischs ‚Kriminaldramen‘
  • 3.6.2 Dürrenmatts ‚Requien‘ auf die Kriminalgeschichte
  • 3.7 Kriminalhörspiel: die Sozialtragödie ‚Das Haus voller Gäste’ (Klasse 10)
  • 3.8 Kriminalkurzgeschichten und -erzählungen (Klasse 7 bis 11)
  • 3.8.1 Kriminalkurzgeschichten für die 7. Klasse
  • 3.8.2 Kriminalerzählung für die 8. Klasse
  • 3.8.3 Kriminalerzählung für die 9. Klasse
  • 3.9 Shakespeares ‚Kriminaltragödien' (Klasse 11 bis 13)
  • 3.9.1 Die tödliche Liebestragödie ‚Romeo und Julia’
  • 3.9.2 ‚Hamlet’ – Drama absurden Scheiterns und atypische Detektivtragödie
  • 3.9.3 ‚Macbeth’ - ‚Kriminaltragödie‘ u m Ehrgeiz, Gewalt, Schicksal, Schuld und Angst
  • 3.9.4 Der ‚Kriminalfall‘ der Urheberschaftsfrage
  • 3.9.5 Literaturdidaktisches Fazit
  • 3.10 Goethes und Schillers ‚Kriminaldramen‘ (Klasse 10 bis 13)
  • 3.10.1 Zum didaktischen Stellenwert ‚klassischer‘ Bildung
  • 3.10.2 Schillers Befreiungsdrama ‚Wilhelm Tell’ (ab Klasse 10)
  • 3.10.3 Goethes ‚Faust I’ als Kriminal- und Liebestragödie (ab Klasse 10)
  • 3.11 Motivisch verwandte Kriminalgeschichten (Klasse 11)
  • 3.11.1 Heinrich von Kleists kriminalpsychologische Novelle ‚Michael Kohlhaas’
  • 3.11.2 Georg Büchners Sozialtragödie ‚Woyzeck’
  • 3.11.3 Bölls Kriminalsatire ‚Die verlorene Ehre der Katharina Blum’ vor dem realhistorischen Hintergrund des bundesdeutschen Terrorismus
  • 3.11.4 Der semidokumentarische Spielfilm „Baader-Meinhof-Komplex“.
  • 3.12 Thomas Manns ‚Mario und der Zauberer’ – psychologischpolitische Kriminal-Novelle (Klasse 12)
  • 3.13 Franz Kafkas Kriminalparabel ‚Der Proceß’ (Klasse 9 bis 12)
  • 3.14 ‚Der Fernsehkrimi als Seismograph sozialer Missstände‘ – Ein symmediales Projekt (Klasse 9 bis 12)
  • 3.14.1 Einführung zum Kriminalfilm als deutschdidaktische Chance
  • 3.14.2 ‚Mit den Augen eines Mörders’ aus ‚Der Kommissar’
  • 3.14.3 TATORT ‚Reifezeugnis’
  • 3.14.4 ‚Isoldes tote Freunde’ aus ‚Derrick’
  • 3.15 Von Schirachs interaktive Kriminaltragödie ‚Terror’ (ab Klasse 11)
  • 3.16 Zwei schularten-, klassen-, genre- und fächerübergreifende Projekte (Klasse 9 bis 11)
  • 3.16.1 Die Kriminal-Novelle ‚Das Feuerschiff’ von Siegfried Lenz
  • 3.16.2 Die semifiktionale Schultragödie ‚Die Welle’
  • 4. Zusammenfassung und Ausblick
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

Vorwort / Danksagung

Die vorliegende Arbeit ist einerseits das Resümee von fünfeinhalb Jahrzehnten Deutschunterricht an allgemeinbildenden Schulen – davon 12 Jahre als Schüler, über 42 Jahre als Lehramtsstudent und Lehrer – sowie der zunehmenden literaturdidaktischen Reflexion darüber. Andererseits verdankt sie sich dem (2017) seit einem halben Jahrhundert bis heute andauernden buchstäblich atemlosen ‚Verfolgen‘ 1 des zunächst einstündigen, seit 2008 anderthalbstündigen Fahndungsmagazin des ZDF „Aktenzeichen XY“2 und einer fast ebenso langen, bis heute langlebigen ‚Krimi‘-Lektüre bzw. ‚Krimi‘-Rezeption in Fernsehen, Kino und Theater, die sich in den späten 60er Jahren aus naiver Lesebegeisterung sowie kindlicher Freude an Handlungsentwicklungen und Spannung parallel zum Karl May-Fieber entwickelte,3 das damals auch der Verfilmungen wegen epidemisch um sich griff; diese lebensprägende Mesalliance führte mich in den 70ern zu ersten einschlägigen fachwissenschaftlichen und -didaktischen Seminaren an der ‚Pädagogischen Hochschule‘ Heidelberg4 und sollte in den letzten Jahren einen Löwenanteil meiner unterrichtsfreien Zeit beanspruchen. Es war tatsächlich eine so lese- und schreibintensive wie spannende Lebensphase.

Nun sind die Kriminalliteratur, Verbrechensliteratur bzw. die ‚Literatur mit kriminalliterarischen Elementen‘ literaturwissenschaftlich wie -didaktisch bereits mehrfach erforscht und auf ihr Verwendungspotenzial im schulischen Unterricht hin untersucht worden.

Diese Arbeit setzt dennoch innovative Schwerpunkte:

Literaturwissenschaftlich sucht sie über die texttanalytische und literaturdidaktische Betrachtung ‚klassischer‘ Kriminalliteratur hinaus in fast detektivischer Akribie nach kriminalistischen Spuren in künstlerischen Medien (nicht nur in literarisch-epischen Texten, auch in Dramen, Spielfilmen, Hörspielen etc.), die, was ihre immanente, teils verborgene ‚kriminelle Energie‘ betrifft und bezüglich ihres literatur- bzw. mediendidaktischen Potenzials bislang nicht ‚enttarnt‘ bzw. nur unzureichend gewürdigt wurden. ← 7 | 8

Literaturdidaktisch fragt sie einerseits nach den Chancen deutschunterrichtlicher ‚Symmedialität‘ und andererseits danach, ob unter deren Einbeziehung anhand von Kriminalliteratur einer mittlerweile auch nach mehreren PISA-Studien als Fakt festgestellten Fehlentwicklung wirksam entgegengewirkt werden kann – der Benachteiligung männlicher Schüler durch eine über Jahrzehnte hinweg latente, unbemerkte und weder administrativ noch an der ‚pädagogischen Front‘ durch die (vorwiegend schulartübergreifend weiblichen) Deutschlehrkräfte beabsichtigte ‚Romantisierung des Deutschunterrichts‘, die sie in ihren fachlichen Leistungen zurückwarf und (in fataler Wechselkorrelation) ihre Motivation im berufs- wie lebensentscheidenden Hauptfach Deutsch nachhaltig zu senken drohte.

Hierbei gehen Literaturwissenschaft und -didaktik Hand in Hand, wobei die Literaturwissenschaft keinem intellektuell luxuriösen Selbstzweck dient, sondern der Literaturdidaktik in methodisch-didaktischer Zielsetzung dient.

Als sich bereits im Herbst 2010 Doktorand und Betreuer auf dieses literaturdidaktisch vielversprechende, insofern über die literarischen Inhalte hinaus ‚spannende‘ Thema einigten, konnten sie nicht ahnen, dass fünf Jahre später (2015) reale Kriminalität über Europa hereinbrechen sollte und insbesondere zunächst Frankreich, sodann im Folgejahr auch Deutschland, 2017 schließlich (jedoch wohl kaum abschließend) England zur Zielscheibe für Amokläufe und teils politisch motivierte Terroranschläge wurden.

Rückt diese bedrohliche Entwicklung nicht das zunächst seriös erscheinende Thema in ein fragwürdiges Licht? Desavouiert die kriminelle Realität nicht die kriminalliterarische Fiktion?

Kriminalität gab es freilich schon immer, seit Kain seinen Bruder Abel erschlug – und fiktionale wie Sachliteratur darüber auch (z.B. das ‚Alte Testament‘ der Bibel als eine frühe Symbiose beider Genres).

Entscheidend ist nun die jeweilige Funktion und Intention der Kriminalliteratur im weiteren Sinne: Während die einschlägige Sachliteratur über die verschiedenen Vergehen bzw. Verbrechen (auch jenseits des Mordes) aufklärt, vor einschlägigen Gefahren warnt und so die Kriminalität einzudämmen versucht, verabscheut eine Kriminalliteratur, die diesen Namen verdient, die Verbrechen und die Motive der Täter; eine Verherrlichung von Gewalt liegt ihr selbst da fern, wo sie diese stilisiert bzw. ästhetisch sozialisiert. Außerdem siegen zumindest in der literarischen Fiktion meist Gesetze, Rechte, Gerechtigkeit, indem die Täter entlarvt und ihrer gerechten Strafe zugeführt werden.

Zum Berufsverständnis und -ethos der Verfasser echter Kriminalliteratur gehört, ihre Leser immer wieder zu überraschen, ja zu ‚ent-täuschen‘,5 nachdem diese auf eine falsche Fährte gelockt worden waren und nunmehr erfahren, dass die Wirklichkeit anders ist, als sie zuletzt vermeintlich offensichtlich erschien, die Motive für die Straftat (Diebstahl und Raub, Totschlag und Mord) sich in eine neue Richtung verschieben, der soeben noch Verdächtigte doch nicht der Täter sein kann (makabrerweise manchmal auch, weil er nun selbst tot ist).

Solche ‚Ent-Täuschungen‘ machen einen entscheidenden Reiz der Kriminalgeschichte aus, bedingen ihre Spannung und beim Leser die Bereitschaft weiterzulesen bis zur nochmals überraschenden, manchmal verblüffenden Auflösung des kriminalistischen Knotens.

Da es sich hier um eine wissenschaftliche Arbeit handeln soll und die Manipulation der Lesererwartungen deshalb unzulässig ist, sei bereits gleich zu Beginn festgestellt: Es geht nicht vorrangig um das literaturwissenschaftlich wie -didaktisch ‚austherapierte‘ Genre des ‚Krimis‘, allenfalls (auch) um den anspruchsvollen Kriminal- bzw. Detektivroman, der einen zeitgemäßen Deutschunterricht bereichert, statt sein literarisches und rezeptionsästhetisches Niveau zu senken.

Der klassische ‚Krimi‘ ist völlig legitime, zudem generationenübergreifende Freizeitlektüre; ein zeitgemäßer Deutschunterricht thematisiert jedoch (jedenfalls der eigenen literaturdidaktischen Sozialisation und Überzeugung gemäß) vorwiegend gehobene Kriminal- und Verbrechensliteratur. Hierbei erwarten uns dann doch durchaus einige Überraschungen. ← 8 | 9

Die Arbeit ist über mehrere Jahre hinweg berufsbegleitend bei vollem schulischem Lehrauftrag als Lehrer an allgemeinbildenden Schulen entstanden und wäre ohne die unermüdliche Unterstützung mehrerer freiwillig oder zwangsläufig Beteiligter nicht möglich geworden.

An dieser Stelle gilt es (partiell durchaus mit schlechtem Gewissen) herzlich zu danken:

        meinem Betreuer Herrn Prof. Dr. Volker Frederking für seine keineswegs selbstverständliche Bereitschaft, bei ihm nebenberuflich diese anspruchsvolle ‚akademische Grad-’Wanderung wagen zu dürfen – für seine Geduld, seine Nachsicht, seine stets konstruktive Kritik und die unermüdliche Ermutigung (auch des gelegentlich Mutlosen)!

        meiner wunderbaren Kleinfamilie – also meiner Ehefrau Christa Tittl-Maurer und unserem Sohn Dr. rer. nat. Andreas Tittl, der seine ‚akademische Grad‘-Wanderung bereits vor zwei Jahren erfolgreich abgeschlossen hat. Beide, die Begleiter meines Lebens, haben meine Arbeit jederzeit so kritisch wie wohlwollend begleitet, ohne sie hätte diese nicht ent- und bestehen können. Ihnen beiden sowie der langjährigen Lebensgefährtin unseres Sohnes Cornelia Bernthaler und ihrer Schwester Stefanie Bernthaler, als Magistra artium in Germanistik zugleich eine wertvolle Kollegin, sei diese Arbeit auch von Herzen zugeeignet!

        den teilweise mit mir seit Jahrzehnten befreundeten Kolleg(inn)en aller Schularten, die mich so bereitwillig wie kompetent beraten haben und von denen ich viel habe lernen können – auch für deren uneingeschränkte künstlerische Ermutigung jenseits dieser wissenschaftlichen Arbeit (dank des vielseitig gebildeten als Heidelberg-Mannheimer Französisch- und Lateinlehrers sowie als verständnisvoller Fachberater tätigen Studiendirektors Jan Sahner, mit dem mich auch jenseits kriminalistischer und didaktischer Fragestellungen eine besonders herzliche Freundschaft verbindet, über den Tellerrand der Fachwissenschaft und -didaktik, dank des Luzerner Kollegen, Historikers und Publizisten Dr. Pirmin Meier sowie des Schweizer Diplomgymnasiallehrers Herrn Oliver Schlumpf sogar über die nationalen Grenzen hinaus);

        meinen früheren, teilweise verstorbenen, zumindest längst emeritierten akademischen Lehrkräften an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, an der ich zweimal (für das Lehramt an Realschulen von 1976 bis 1981, zum diplomierten Erziehungswissenschaftler von 1993 bis 1996) studieren durfte – bei ihnen habe ich weit über das Fachliche der Literaturwissenschaft und didaktik bzw. der Musikwissenschaft und -didaktik hinaus nicht nur ‚für die Schule, sondern für das Leben‘ sehr viel gelernt: bei Frau Prof. Dr. phil. Inge Vincon, in den 90er Jahren Prorektorin der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, der ich 1993 bereits 37-jährig als ‚älteres Semester‘ meinen Aufbaustudienplatz verdanke; bei Herrn Prof. Dr. phil. Dr. h.c. mult. Bodo v. Carlsburg, in dessen publizistisch-wissenschaftlich anerkannter schulpädagogischer Reihe ich diese Dissertation veröffentlichen darf; Herrn Oberstudienrat Reinhold Pfleger, der 1980 über die Kurzgeschichten von Siegfried Lenz promoviert hatte und der mir über Jahrzehnte mit sachkundigem Rat zur Verfügung stand, bei den unvergessenen Herren Professoren Helmut Sadler, der in den 70er und 80er Jahren meine dilettantischen Kompositionsversuche wohlwollend begleitete; den Herren Dr. phil. Gerd Frank und Walter Riethmüller dank ihrer väterlichen Freundschaft und der Betreuung meiner ersten und (bis heute) unvollkommenen literarischen Versuche; Herrn Dekan Dr. phil. Richard Beilharz, dessen Begeisterung einerseits für die Kultur Frankreichs, andererseits für die Sangeskunst uns Studierende mitriss und den ich 1991 bei einer Feier- und persönlichen Sternstunde auf der Schriesheimer Strahlenburg vor erlesenem akademischem Publikum an einem wenn auch leicht verstimmten Klavier begleiten durfte.6

        der Professorin für ‚Fachjournalistik Geschichte in Medien und Öffentlichkeit‘ an der Justus-Liebig-Universität Gießen Frau Dr. Ulrike Weckel (insbesondere für einen mir als PDF zugesandten Aufsatz); ← 9 | 10

        dem Germanisten und Mediävisten Prof. Dr. Joachim Heinzle für seine eigene einschlägige Literatur zum ‚Nibelungenlied‘ und weitere Literaturvorschläge;

        Herrn Prof. Dr. Jan Knopf, dem noch aktiven und produktiven Literaturwissenschaftler und Leiter der Arbeitsstelle Bertolt Brecht (ABB) am Karlsruher Institut für Technologie, für seine freundliche und fachkompetente Beratung in den beiden Brecht-Teilkapiteln;

        dem bis heute aktiven, jahrzehntelang führenden Altphilologen Prof. Dr. Friedrich Maier durch die Einbeziehung auch der Philosophie, Psychologie und Soziologie weit über das Schulfach Deutsch hinaus mit besonderem Dank für großzügige Buchgeschenke und seine Anerkennung meiner eigenen literarisch-lyrischen Versuche;

        dem mir seit 1976 bekannten emeritierten Professor für Musikwissenschaft an der Johann Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt Dr. Hans Rectanus für dessen stete Ermutigung und Anregung seit nunmehr über vier Jahrzehnten;

        dem mir ebenso lange vertrauten langjährigen Institutsleiter des Studienfachs Musik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg Prof. Dr. Hartmut Flechsig, der mich einst gelehrt hat, dass die Niederlage von gestern sich morgen schon in einen Erfolg verwandeln kann;

        dem Freizeit-Literaten Dieter Wunderlich, dessen unerschöpflichem Portal7 ich manche stimmige Inhaltsangabe entnehmen durfte;

        den hilfsbereiten Mitarbeitern des Mitschnittservice des Schallarchivs des NDR für die kostenlose Zusendung eines eigentlich unbezahlbaren Kriminalhörspiels und dem Redakteur der Deutschen Kriminal-Fachredaktion (DKF) Marcus Bendel („Aktenzeichen XY“) für seine ermutigende Freundlichkeit;

        den hochbefähigten, u.a. für die überregionale Schwäbische Zeitung tätigen Journalisten Kara Ballarin (Schul- und Bildungspolitik), Petra Lawrenz (Gesellschaft, Feuilleton), Sabine Lennartz (Politik), Joachim Lindinger (Sport) und Rolf Waldvogel (Sprache und Gesellschaft), bei deren Essays, Berichten, Analysen ich gelernt habe, dass sich ausgewogene Information und gutes, richtiges und schönes Deutsch nicht gegenseitig im Weg sind, sondern sich ergänzen;

        den Journalist(inn)en des SPIEGEL (insbesondere dessen ehemaligem Chefredakteur Klaus Brinkbäumer), des ‚stern‘, des FOCUS, der FAZ, der ZEIT, aus deren Artikeln und (ein Lieblingsbegriff Henri Nannens) „Geschichten“ ich zitiert habe und die ich teilweise kennenlernen durfte;

        dem mir seit über 20 Jahren freundschaftlich verbundenen Mannheimer Komponisten und Kapellmeister Richard Geppert, der mich einst (1995) mit seinen originellen und künstlerisch wertvollen Musicals zu meiner musikdidaktischen Diplomarbeit inspiriert hat, wobei ich en passant eingesehen habe, dass ich besser (literarisch, wissenschaftlich) schreiben sollte als weiter pseudokompositorisch zu dilettieren, wofür ich ihm auf immer dankbar bin – ebenso wie

        Herrn Thomas Bauer, dem so überragenden wie musikkulturell engagierten Akkordeonisten, preisgekrönten Dirigenten mehrerer Weltklasse-Orchester, begabten Komponisten zugleich anspruchsvoller wie anhörbarer E-Musik für Akkordeonorchester und unerreichbarem künstlerisch-musikpädagogischem Vorbild;

        den professionellen und erfolgreichen Schriftstellern auch für Kriminalliteratur Josef Reding und Dr. jur. Sebastian Fitzek, die mich so freundlich wie kompetent kriminalliterarisch beraten und mir manches kriminalogisch-kriminalistiges Auge geöffnet haben;

        dem erfolgreichen Historiker und Autor, Songwriter, Übersetzer und Librettisten Dr. Michael Kunze,8 überragendes, unerreichbares Vorbild aller zugleich künstlerisch und wissenschaftlich Engagierten für seine Bescheidenheit, Freundlichkeit und selbstlose Ermutigung; ← 10 | 11

        meinem einstigen Freund Gerhard Kleinböck, dem pensionierten Oberstudiendirektor einer Berufsschule und heutigen Stuttgarter Landtagsabgeordneten, in Dankbarkeit;

        ‚unserem‘ Bundestagsabgeordneten (seit 2009) Roderich Kiesewetter und zwar nicht primär als CDU-Politiker oder Generalstabsoffizier a.D., sondern als klugem Bildungsbürger, sprachbegabtem Lyriker und sympathischem Freund;

        dem ebenfalls sprachbegabten, wissenschaftlich wie künstlerisch vielseitigen Dipl.-Physiker Dr. Peter Freiländer, einem Freund aus Schul- und Studienzeiten und bis heute (also seit über 40 Jahren);

        meinen ehemaligen wie aktuellen Schülern und Schülerinnen nicht nur im Hauptfach Deutsch, sondern auch in den Fächern Musik, Geschichte, EWG9 und Ethik, die seit 1978 und bis heute teilweise begeistert an den in dieser Arbeit vorgestellten kriminalliterarischen Projekten mitgearbeitet haben und deren Ideen wie Anregungen einsichtig-erkenntnisreich in diese Arbeit eingeflossen sind. ← 11 | 12 →


1       Im Doppelsinn der Identifikation mit den Opfern und Gesetzeshütern, aber auch möglicher Albträume im Anschluss an die Sendung und im plötzlich als unheimlich, gefahrvoll erlebten dunklen Kinderzimmer.

2       Mit einer konstanten und sensationellen Aufklärungsquote von 40 %, welche die ethisch-juristischen Bedenken der 70er und 80er Jahre mehr als kompensiert, dass „XY ein ganzes Volk zu Hilfspolizisten mache […] [und] die Verlagerung der Strafverfolgungskompetenz von der Staatsanwaltschaft [und Polizei ] […] rechtsstaatlich bedenklich“ sei. (Reufsteck / Niggemeier 2005: 35)

         Der Sendereihe wurden (und werden bis heute) „Menschenjagd, Förderung des Denunziantentums … [und] Diskriminierung von Minderheiten“ vorgeworfen (‚Der Tagesspiegel‘ vom 11.10.2015), was ab den Klassen 9/10 verantwortungsethisch im Religions- und Ethikunterricht, aber (in Zusammenhang mit Kriminalliteratur) auch im Hauptfach Deutsch kontrovers diskutiert werden sollte.

         Reizvoll sind aber auch zwei fast makabre Interpersonalitäten, auf die kein Drehbuchautor käme: Der Erfinder des Formats und über Jahrzehnte erste Moderator der Sendung Eduard Zimmermann war nach dem II. Weltkrieg zunächst „professioneller Dieb und Schwarzmarkthändler“ (Selbstzitat im SPIEGEL vom 08.09.2005), wurde 1949 als Reporter in der DDR wegen Spionage verhaftet, zu 25 (!) Jahren Straflager in Bautzen verurteilt und erst Anfang 1954 anlässlich der Viermächtekonferenz begnadigt: „Ich war selbst ein Gauner […] [und] bin sozusagen der Beweis dafür“, so ‚Ganoven-Ede‘ augenzwinkernd, „dass man von der schiefen Bahn wieder runterkommt, wenn man es will“ (SPIEGEL ebenda) – auch für Jugendliche in Schule, Ausbildung und Beruf ein aufschlussreich-frappierendes Bekenntnis und eine Erkenntnis ohne pädagogischen Zeigefinger, dass Vorbilder manchmal auch als Gauner von der schiefen Bahn kommen können. Sein (seit 2002) aktueller Nachfolger Rudi Cerne wurde am 27. Dezember 1978 am Düsseldorfer Flughafen Opfer einer Verwechslung: mit dem ihm tatsächlich ähnlich sehenden, steckbrieflich gesuchten Terroristen Christian Klar; er kam auch aufgrund seiner Kooperationsbereitschaft bald frei und fühlt sich (ebenfalls den Schalk im Nacken) auch insofern zu Recht als legitimer Moderator des XY-Sendeformats geeignet.

3       In der unbewussten Erkenntnis bereits als Kind, dass die zeitweise parallel entwickelten Genres des ‚Western‘ und des ‚Krimis‘ früh schon eine Blutsbrüderschaft geschlossen haben.

4       Das Hauptseminar „Die Detektivromane Friedrich Dürrenmatts“ (‚Die Panne‘, ‚Der Verdacht‘, ‚Das Versprechen‘ u.a.) im Fach Deutsch an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg bei Herrn Prof. Dr. Joachim Stephan (Wintersemester 1977 / 78).

5       Im Sinne von ‚eine Täuschung beseitigen‘ (was prinzipiell philosophisch als gut erscheint, mag dies lebenspraktisch auch oft schmerzhaft sein).

6       Der mich, den spontan begeisterten und auch künstlerisch begeisterungsfähigen Pädagogikstudenten, vor fast 40 Jahren (1978) nachsichtig-augenzwinkernd an seinem Flügel mehrfach des ‚musikalischen Diebstahls‘ überführte, als ich ihm in naivem Stolz meine ambitiösen ‚kompositorischen‘ Entwürfe vorlegte – und auch insofern postum seinen Beitrag zu dieser kriminalliterarischen und literaturdidaktischen Arbeit (nunmehr ohne plagiatorische Anleihen) geleistet hat.

7       ‚Buchtipps & Filmtipps’: http://www.dieter-wunderlich.de/

8       Aus seiner vielseitigen Feder stammen einerseits historische Bücher sogar mit kriminalistischen Motiven („Straße ins Feuer. Vom Leben und Sterben in der Zeit des Hexenwahns“, München 1982), andererseits unzählige Texte bedeutender Songs (Juliane Werdings „Das Würfelspiel“, Udo Jürgens‘ „Griechischer Wein“); er hat nicht nur weltberühmte Musicals ins Deutsche übertragen (Webbers „Cats“, Elton Johns „Der König der Löwen“), sondern seit 1990 bis heute deutschsprachig-eigenständige Libretti zu ambitionierten, ebenso berühmten ‚Drama-Musicals‘ („Elisabeth“ von 1992, „Rebecca“ von 2006) und dem noch anspruchsvolleren Rock-Oratoriums „Luther“ (als Beitrag zum Lutherjahr 2017) geschrieben.

9       EWG ist ein Fächerverbund, der gleichermaßen Erdkunde, Wirtschaftskunde und Gemeinschaftskunde umfasst.

1.   Literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Fundamente

Die vorliegende Arbeit soll zeigen, dass Kriminalliteratur höheren literarästhetischen Ansprüchen genügt, partiell sogar der Weltliteratur zuzurechnen ist und im Deutschunterricht einen curricularen Stammplatz einnehmen sollte, gerade weil sie einen Beitrag zur geschlechtsspezifischen Leseförderung leisten kann, insofern sie die Lesemotivation der männlichen Schüler und Schülerinnen erhöhen kann. Diese These wird im Fortgang der Arbeit nicht empirisch untermauert, sondern auf Basis einer detaillierten Analyse des Genres selbst. Ein Blick auf die PISA-Befunde verdeutlicht die lesespezifischen Begründungszusammenhänge.

1.1   Die Kriminalgeschichte in einem lesefördernden Deutschunterricht

Inwieweit ausgerechnet Kriminalliteratur Kindern und Jugendlichen zu umfassender Bildung (über die rein ‚literarische‘ hinaus) und beruflicher ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ verhelfen kann, ist eine Frage, die von Literaturwissenschaft wie Literaturdidaktik bislang weitgehend ignoriert und von vielen Deutschlehrkräften, privat paradoxerweise womöglich Krimi- und ‚TATORT‘-Fans, für den Unterricht entschieden verneint wird. Um eine wissenschaftlich fundierte Antwort geben zu können, werden im Folgenden die divergierenden Leistungsstände der Mädchen und der Jungen in den Blick genommen, um auf dieser Basis nach Optimierungschancen und literaturdidaktischen Alternativen zu fragen und das Potenzial der Kriminalgeschichte zur Steigerung der Lesemotivation, Lesefreude und der sprachlich-kommunikativen Leistungsfähigkeit zu reflektieren.

Doch zunächst eine Bestandsaufnahme. Mit dem Deutschunterricht steht es nicht zum Besten, jedenfalls in einigen Bundesländern.10 Die ernüchternden Ergebnisse aus PISA 2000 sind bekannt. Zwar steht Deutschland bei PISA 2009 schon „besser da als der OECD11-Durchschnitt, […] gehört aber immer noch nicht zur internationalen Spitzenklasse.“12 Immerhin: Dank entsprechender Maßnahmen wie regelmäßiger Vergleichsarbeiten und geänderter Bildungspläne „verbessern sich seit Jahren die PISA-Werte der deutschen Schüler kontinuierlich. Bei den Naturwissenschaften ist der größte Leistungszuwachs erreicht worden. Auch in Mathematik legte Deutschland zu.“13 Allerdings liegt die Lesekompetenz14 der deutschen Schülerinnen und Schüler immer noch nur leicht über dem OECD-Durchschnitt. ← 12 | 13

Auch in PISA 2012 „erzielten die Schülerinnen und Schüler im Bereich Lesekompetenz im Durchschnitt [lediglich] 508 Punkte. Dies ist [knapp] mehr als der OECD-Mittelwert (496) und setzt das Land […] in eine Liga mit Belgien, Macao (China), den Niederlanden oder […] der Schweiz“.15 Beim PISA-Test 2015 landet Deutschland im Vergleich mit immerhin 71 Ländern in der Lesekompetenz inzwischen auf Platz 11, in Mathematik und in den Naturwissenschaften ‚nur‘ auf Platz 16 – einerseits Anlass zu gedämpftem Optimismus. Andererseits bestehen mit Blick auf den Deutschunterricht und das einschlägige Freizeitverhalten der Kinder und Jugendlichen weiterhin Defizite, die gestuft und nur etwas weniger bedenklich auch auf die Mädchen zutreffen:

„Es ist […] eine Katastrophe, dass fast ein Fünftel aller 15-Jährigen das Leseverständnis eines Grundschülers hat.“16

Über die technische Lesefähigkeit (des Dechiffrierens sprachlicher Zeichen) und das ‚sinnerhellende Lesen‘17 hinaus geht es in diesem Zusammenhang aber auch um das Textverständnis, d.h. die Fähigkeit, über die reine Inhaltsangabe bzw. Nacherzählung hinaus einem Text individuell, jedoch unter Beachtung der Rezeptionslenkungen eine Aussage, einen ‚Sinn‘ zuzuordnen. Lesen wurde offensichtlich jahrzehntelang „einfach [als] eine Technik“18 unterschätzt. Tatsächlich „ist [sie] eine triadische, [keine nur] […] dyadische Konstellation [nämlich aus Leser, Lesemedium, sozialem Kontext], […] eine sozial und kulturell vermittelte Praxis.“19

Dabei sind ‚Lesenkönnen‘ und ‚Verstehenkönnen‘ Grundlagen für Leselust und Freude am Deutschunterricht. Beide entscheiden über den Lernerfolg. Bis zur 2. Klasse haben diesen Spaß „noch 65, 5 % der Mädchen und 51,7 % der Jungen“.20 Entsprechend positiv fallen einschlägige internationale Vergleichsstudien wie IGLU aus. Mit IGLU hat sich „unsere bislang an Metaphern arme Bildungsdebatte […] noch einmal erweitert […] – nicht nur bildhaft, sondern auch inhaltlich“:21 IGLU ist die besonders originelle deutsche Abkürzung für eine seit 2003 laufende ‚Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung‘, deren erfreuliche Erkenntnisse, dass nämlich „deutsche Heranwachsende […] in der Grundschule international noch mithalten können, […] sich hier sogar [!] partiell im oberen Drittel platzieren“,22 nicht darüber hinwegtäuschen können, dass bis zur Sekundarstufe I gerade auch im Deutschunterricht einiges PISA-‚schief‘ gelaufen sein muss. Denn IGLU, das metaphorisch-virtuelle Schneehaus der indigenen Völker im nördlichen Polargebiet, wärmt unsere deutschen Schüler(innen) auf Dauer nicht; ab der 3. Klasse lässt der „Spaß am Deutschunterricht“ nämlich nach. Da „sind es nur noch 50,8 % der Mädchen und 43,4 % der Jungen“, die Freude am Fach erleben. Dazu Garbe: „Bei den Jungen ist der Spaß […] innerhalb dieser zwei Schuljahre […] fast um die Hälfte geschrumpft, bei den Mädchen um ein gutes Drittel!“23 Knapp sechs von zehn männlichen Schüler lesen mit anderen Worten nur noch aus extrinsischer Motivation bzw. möglichst gar nicht. Dieser Befund ist dramatisch. Denn ein „Drittel der Mädchen und mehr als die Hälfte der Jungen sind für die ‚Lesekultur‘ […] verloren!“,24 womöglich lebenslang.

In den weiterführenden Schulen ist die Tendenz weiter fallend: Während der Pubertät ist „eine Verdreifachung im Rückgang der Leseintensität“25 zu konstatieren – vor allem in der Haupt- und Realschule. ← 13 | 14 Schon in PISA 2000 war zu konstatieren: „Über 40 % der deutschen Jugendlichen artikulieren eine deutliche Leseunlust und belegen damit im internationalen Vergleich den viertletzten Platz.“26 Doch auch aktuell sind die Problemlagen unverkennbar.

Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede sind ebenso eklatant wie alarmierend. Bereits die ‚Kölner Leseklima-Studie‘27 hatte in den neunziger Jahren gendertypische Unterschiede zugunsten der Mädchen gegenüber den Jungen offenbart, was Lesefertigkeit und -freude, Leseverhalten und -vorlieben betrifft. Sodann fiel die Überlegenheit der Mädchen im Schriftspracherwerb auf der Primarstufe und der Sekundarstufe I auf.28 Die PISA-Studien haben diese Befunden bestätigt und ein noch differenzierteres Bild ergeben. Dazu Christine Garbe: „Seit der internationalen PISA-Studie 2000 wissen wir [auch], dass Mädchen nicht nur anders und anderes, sondern auch besser lesen als Jungen – und zwar in allen 32 getesteten Staaten“.29 Dass auch in „der Lesegeschwindigkeit ein signifikanter Geschlechterunterschied [zugunsten der Mädchen] besteht“, ergibt sich aus der „höheren Lesemotivation und der daraus resultierenden umfangreicheren Lesepraxis“.30 Dieser Sachverhalt sollte jedoch nicht überbewertet werden: Wichtiger als das Lesetempo sind die Lesemotivation, die Lesefreude und die Leseintensität. Die Mehrzahl der Bundesländer hat vor diesem Hintergrund in den vergangenen Jahren weitere Ganztagsangebote bzw. Ganztagsschulen eingerichtet; diese schulstrukturellen Maßnahmen allein machen jedoch aus Leseverweigern weder ‚Bücherwürmer‘ noch ‚Leseratten‘.31 Die Schule müsste durch ein Mehr an gemeinsamer Zeit und ‚Lern-Gelassenheit‘ über den Deutschunterricht hinaus Leseanreize und Möglichkeiten für die individuelle bzw. gemeinsame Lektüre schaffen: durch schulinterne (aber auch für ‚Externe‘ offene) „Leseclubs, Wahlkurse und freie Lesezeiten“,32 die auch im Computerraum stattfinden dürfen.

Allerdings geht es nicht nur um Lesegelegenheiten, sondern auch um Leseanreize bzw. Lesestoffe. Hier erweisen sich allerdings genderspezifische Rahmenbedingungen der Lesesozialisiation als Problem. Aus der „Perspektive der Genderforschung“33 erfolgt die Einführung in die Welt der Literatur nämlich weitgehend durch Frauen: Mütter, die Grundschullehrerinnen. Mit anderen Worten: „Lesen wird von den Kindern als eine weiblich konnotierte kulturelle Praxis erlebt. […] Das kleine Mädchen, das ja so werden will […] wie seine Mutter, […] wird selbst zur Leserin. […] Für den kleinen Jungen besteht die ← 14 | 15 Entwicklungsaufgabe hingegen in der Loslösung von der Mutter“34 – mit der sekundären Konsequenz zunehmender Leseunlust. Als ‚Muttersöhnchen‘ will ein Junge schon vor seiner Pubertät auf keinen Fall gelten. Und so setzt ein eigentlicher Prozess der Vorbildsuche ein. Wenn der heranwachsende Junge dann „im Fernsehen und in den Computerspielen mit den muskelbepackten Supermännern Bekanntschaft schließt, die im Asphaltdschungel für Recht und Ordnung sorgen, dann wird ihm endgültig klar, dass er nur einen […] Wunsch hat: so zu werden wie diese unendlich bewunderten Männer und alle Spuren des Weiblichen, die er noch aufweist, […] zu tilgen.“35 Diese Sehnsucht unterminiert Lesemotivation, Leselust und Lesekompetenz. Lesen ist schlicht weiblich konnotiert. Hinzu kommt, dass Betreuen, Erziehen (in Kindergrippe und Kindergarten) und Unterrichten (ab der Grundschule) heute zwar professionell geschieht, aber auch in der Gesamt- und Realschule, ja selbst am Gymnasium zunehmend von Frauen durchgeführt wird, so dass Jungen in der Regel männliche Lesevorbilder weder im privaten noch im schulischen Umfeld antreffen.

Wie aber können Jungen vor diesem Hintergrund gleichwohl an das Lesen herangeführt werden? Die PISA-Forschung hat früh konstatiert, dass „Leseförderung für Jungen“ „an der Lesemotivation und an den Leseaktivitäten“ ansetzen muss.36 Und deutschdidaktisch ist daraus früh die Forderung abgeleitet worden, dass es vor allem auch geeigneter Leseanreize bedarf. Dass bei den Jungen das Lesen von Büchern als Hobby rückläufig ist, liegt sicherlich auch an der „verstärkten Konkurrenz“ durch und an einer erhöhte[n] Verfügungsgewalt über andere Medien“.37 Denn wenn Kindern bzw. Heranwachsenden neben Büchern bzw. Printmedien auch elektronische bzw. digitale Medien zur Verfügung stehen, fallen „die geschlechtsspezifischen Differenzen deutlich geringer“38aus. Hier wird erkennbar, dass es in geschlechtsspezifischer Hinsicht leseförderlich bzw. lesemotivierend sein könnte, in den Deutschunterricht auch verstärkt digitale Medien einzubeziehen.

Hinzu kommt die Beschaffenheit der inhaltlichen Leseangebote im Deutschunterricht. Mädchen und junge Frauen lesen eher als Jungen bzw. männliche Jugendliche fiktionale (‚schöngeistige‘) Literatur. Erforscht ist, „dass Mädchen Beziehungs- und Liebesgeschichten bevorzugen“, Jungen hingegen „Spannung und Action: Abenteuer und Kampf, Herausforderung und Bewährung, Reise- und Heldengeschichten“.39 Überdies können sie sich „häufiger für Comics […] begeistern“40, lesen allenfalls (und erfolgreich im Sinn eines Erkenntnisgewinns sowie einer Handlungsmotivation) Fach- und Sachbücher bzw. Fach- und Sachtexte, die im Deutschunterricht jedoch leider unterrepräsentiert sind.41 Ein weiterer Befund: „Während bei Erzählungen, Argumentationen sowie Darlegungen42 recht große Ge ← 15 | 16 schlechterunterschiede zugunsten der Mädchen zu verzeichnen sind, ist die Differenz bei Tabellen erheblich kleiner und bei Diagrammen / Graphen, Karten […] fast völlig verschwunden.“43 Sinnvoll und notwendig ist also im Deutschunterricht eine „Differenzierung nach Textsorten“44 und eine stärkere Berücksichtigung männlicher Leseinteressen.45 In diesem Sinne bietet sich z.B. Kinder- und Jugendliteratur an, in der gerade auch die männlichen Protagonisten Identifikationsmöglichkeiten für Jungen bieten. Dass dies in den letzten drei Jahrzehnten in Bezug auf die Lesestoffe im Deutschunterricht nicht der Fall gewesen ist, hat Anita Schilcher aufgezeigt. Sie gibt einige Beispiele dafür, dass die Jungen in zahlreichen Jugendbüchern eher als labile Schwächlinge und ‚Waschlappen‘ dargestellt werden,46 die eher ängstlich, ungeschickt und unselbstständig sind, ohne Abenteuerlust, auch wenn sie „letztendlich in ihrem Verhalten durch Erfolg und Akzeptanz […] belohnt“47 werden. Das Dilemma: Diese „gehäufte Darstellung des sensiblen und schwachen Jungen […][entspringt] wohl einem Wunsch nach […] Geschlechtsrollenangleichung. […] Mit der sozialen Realität der Jungen und den in anderen Medien präferierten Männlichkeitsstereotypen stimmen diese Rollenmuster [allerdings] nicht überein.“48 Jungen lehnen diese Problemliteratur in der Regel folglich ab, und zwar eher unbewusst, irritiert und frustriert – im Gegensatz zu den Mädchen, die sie freiwillig lesen und entsprechend bessere Leistungen erbringen. Hier tritt ein soziologisches und zugleich literaturpädagogisches Dilemma zutage, das didaktisch nur durch eine veränderte Lektüreauswahl im Zusammenhng mit Kinder- und Jugendliteratur aufzulösen ist.

Aber auch die Einbeziehung anderer, von Jungen favorisierter Genres bietet sich an. Genannt werden in der Fachliteratur „Abenteuerbücher, Science-Fiction, Sachbücher49, aber auch „phantastische Literatur und Krimis“.50 These dieser Arbeit ist es, dass sich auch und gerade Kriminalliteratur bzw. Kriminalgeschichten anbieten, um bei Jungen, aber nicht nur bei diesen Leselust zu wecken. Denn sie enthalten Elemente, die den Jungen entgegenkommen, ohne die Mädchen zu benachteiligen:

        eine konsequente Handlung‘, ‚äußere und innere Spannung‘,

        Logik, Stringenz (und somit Verständlichkeit),

        ein glimpfliches Ende, das die (von allen Jugendlichen und Erwachsenen ersehnte) Gerechtigkeit wiederherstellt.

Den nachfolgenden Kapiteln liegt folgerichtig die These zugrunde: Kriminalliteratur kann neben Abenteuerliteratur, Science-Fiction und Sachbüchern ein Katalysator und wichtiges ‚Genre der Leselust und Textverstehenskompetenz‘ sein. Welche Möglichkeiten sich hier eröffnen, soll im Rahmen dieser Arbeit verdeutlicht werden.

1.2   Kriminalliteratur – Versuch einer begrifflichen Klärung

Um die vielfältigen Formen und ‚Spielarten‘ literarischer Kriminalistik in den Blick nehmen zu können, ist gerade auch im Hinblick auf den Deutschunterricht jenseits bestehender Vorurteile auch seitens der Literaturwissenschaft und -didaktik eine objektive Bestimmung und Beschreibung der Gattung und ihrer Subgenres erforderlich. Kriminialliteratur bzw. Literatur mit kriminalistischen Elementen gibt es in allen drei großen Gattungen – als Drama, als Lyrik und als Prosa. ← 16 | 17

   1.2.1    Der Kriminalroman

Das wichtigste Subgenre der Kriminalliteratur ist der historisch über Jahrhunderte gewachsene Kriminalroman. Auch wenn seine Anfänge weit zurückreichen, hat er sich erst im 19. Jahrhundert etabliert.51 Die einschlägigen wissenschaftlichen Definitionen sind hier teils widersprüchlich, teils überschneiden sie sich. Peter Nusser konstatiert zutreffend:

„Für eine sichere Abgrenzung zwischen Kriminalroman und Kriminalerzählung bzw. Detektivroman und Detektiverzählung, Thriller und kriminalistischer Abenteuererzählung finden sich in der Literatur keine rechten Grundlagen.“52

Laut Volker Meid lässt sich der Kriminalroman als „Prosagattung“ verstehen, „die in unterschiedlicher Akzentuierung von Verbrechen und ihrer Aufklärung handelt und dabei an standardisierte Erzählmuster gebunden ist. Ihr Reiz liegt nicht zuletzt gerade in der Variation dieser Muster und Strukturen. Die gewaltige Ausweitung der Produktion in der Gegenwart, die auch die audiovisuellen Formen betrifft, […] verstärkt den Zug zur Trivialisierung eines wachsenden Segments der Gattung.“53

Allerdings wirft diese Definition doch einige Fragen auf: Wenn der Kriminalroman eine ‚Gattung‘ für sich ist, wie ist dann die Kriminalliteratur einzuordnen? Was bleibt von der Standardisierung, wenn die ‚Muster und Strukturen‘ ständig variiert werden? Und bedingt die ‚gewaltige Ausweitung der Produktion‘ automatisch eine Trivialisierung oder steckt in dieser Behauptung eine subtile Beleidigung der kriminalliterarischen Autoren- und Leserschaft?

Differenzierter ist in dieser Hinicht die Kennzeichnung von Wolf-Eckhard Gudenmann: In seinem Verständnis ist der Kriminalroman eine „auf Spannung ausgerichtete […] Erzählung über Verbrecher und deren Taten. Neben einer unübersehbaren Flut anspruchsloser Unterhaltungsliteratur […] stehen […] wenige Werke, die höheren literarischen Ansprüchen genügen […] [sowie] Kriminalgeschichten, denen es mehr auf die psychologische Durchdringung als auf die Handlungsspannung ankommt“54 und nach „soziologischen, psychologischen und psychopathologischen Ursachen und Hintergründen eines Verbrechens“55 fragen.

Der Kriminalroman handelt „in sowohl typologisierten als auch ‚freien‘ Erzählmustern von Verbrechen und deren Aufklärung“56 und beschreibt in chronologischer Abfolge ein Verbrechen „im Hinblick auf [kriminal-]psychologischen Anstoß [das Motiv], Ausführung, Entdeckung und Aburteilung des Verbrechers“.57 Er klammert somit weitere Handlungsebenen weitgehend aus, stellt lediglich „ein Verbrechen und seine Aufklärung […] dar“,58 nähert sich so gattungsmäßig der monothematischen Novelle samt ihrer ‚unerhörten Begebenheit‘,59 die hier in einer Straftat, meist einem Mord besteht.

Frühe Vorläufer sind der erste prinzipiell u.a. als Kriminalroman darstellbare ‚Brudermord‘ bzw. (juristisch aus heutiger Sicht exakter) der Totschlag Abels an seinem Bruder Kain im ‚Alten Testament‘ der Bibel60, Friedrich Schillers (fiktionaler) Kriminalbericht und somit der erste ‚Kriminalroman‘ der Welt ← 17 | 18 literatur „Der Verbrecher aus verlorener Ehre – eine wahre Geschichte“61 oder auch Heinrich von Kleists kriminalpsychologische Novelle „Michael Kohlhaas“ von 1810, die für unser Kriminal-Curriculum in thematischem Zusammenhang mit Büchners Sozialtragödie „Woyzeck“ (geschrieben 1836, erschienen erst 1879), mit Heinrich Bölls Kriminalsatire „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974) oder mit Stefan Austs romanaffinen Kriminalbiographie „Baader-Meinhof-Komplex“ (1985) und deren semidokumentarischen Verfilmung als spannendem Doku-Drama (2008) steht.

Die sich hier bereits andeutende Vielfalt des Kriminalromans lässt sich mit Ulrich Schulz-Buschhaus durch drei Elemente in jeweils variierender Gewichtung beschreiben:

„ACTION […] bezeichnet die eigentlichen Handlungselemente […], seine narrativen Partien, in denen Verbrechen, Kampf, Verfolgung, Flucht […] erzählt werden ...

ANALYSIS […] umfasst alle jene Elemente des Kriminalromans, die ihm den vielgepriesenen Charakter einer Denksportaufgabe geben …

MYSTERY [ist] jene planmäßige Verdunkelung des Rätsels, die am Schluss einer völlig unvorhergesehenen, sensationellen Erhellung Platz macht“.62

Einige typische Beispiele des 20. Jahrhunderts sind die Romane von Edgar Wallace, Agatha Christie, Georges Simenon, Arnold Zweig, Patrick Süskind und Jakob Arjouni:

        Edgar Wallace ist noch heute das Markenzeichen für spannende, wenn auch triviale Kriminalliteratur: Der geballten Handlungsintensität mit (objektiv zu) hoher Todesrate entsprechen die typische Einteilung der kriminaldramatischen Welt in ‚Gut‘ und ‚Böse‘ sowie die konfliktträchtige Konstellation aus einer Liebesbeziehung zwischen gehobenem Polizeibeamten (Bezirksinspektor Alan Wembury) und armer, schöner, junger Frau (Mary) fast im Stile Courths-Mahlers versus dem blutrünstigen Schurken Henry Milton im berühmtesten Roman „Der Hexer“ von 1926, der aus einem kurz zuvor mit großem internationalen Erfolg aufgeführten Kriminaltheaterstück hervorgegangen war und 1932 als deutschösterreichische Koproduktion mit Paul Richter63 als Inspektor Wembury, Fritz Rasp, Paul Henckels, Franz Schafheitlin sowie 1964 mit Joachim Fuchsberger als Inspektor, Margot Trooger, Heinz Drache, Siegfried Lowitz, Eddi Arent, Siegfried Schürenberg, Karl John, René Deltgen nach einem Drehbuch Herbert Reineckers („Der Kommissar“, „Derrick“) in der BRD verfilmt wurde.

        Die englische Autorin Agatha Christie ist noch heute für ihre berühmten, mehrfach verfilmten Romane, Hörspiele und Dramen bekannt:

        o   „The Mysterious Affair at Styles“ (1920, deutsch „Das fehlende Glied in der Kette“);

        o   „Witness for the Prosecution“ (1925, deutsch „Zeugin der Anklage“);

        o   „Alibi“ (1926)64; ← 18 | 19

        o   „The Murder at the Vicarage“ (1930, deutsch „Mord im Pfarrhaus“ erstmals mit einer neuen, originellen Detektivin eher wider Willen, der leicht verschrobenen, damals bereits älteren und bis zu ihren ‚Final Cases‘ von 1979 nicht weiter gealterten, womöglich literarisch unsterblichen Miss Marple);

        o   Death on the Nile“ (1937, deutsch „Tod auf dem Nil“) mit haarsträubend überraschender Aufklärung durch den ebenso berühmten, im kriminalistischen Kombinieren bärenstarken Privatdetektiv Hercule (!) Poirot;

        o   „Ten Little Niggers“ (1939, der meistverkaufte und vielfach verfilmte Kriminalroman aller Zeiten mit einem damals harmlosen Zählreim als Titel, der heute als diskriminierend gilt und durch das originellere, im Deutschen allerdings nicht nachahmbare Wortspiel „And Then There Were None“ ersetzt wurde);

        o   das seit 1952 im London daueraufgeführte Theaterstück „The Mousetrap“ (deutsch „Die Mausefalle“) zu Ehren der Königinmutter etc.65

         Bei aller gelegentlich manierierten Über-Konstruktivität gelten mehrere Handlungsverläufe Christies voller Finten und Überraschungen wohl zu Recht als geniale psychologische Meisterleistungen: „Agatha Christie schildert in dramaturgisch ausgeklügelten Kriminalromanen die Abgründe der menschlichen Seele“.66

        Patrick Süskinds idealtypische Ausgestaltung des ‚postmodernen Romans‘ als Symbiose einerseits aus historischem Kriminal- und spannendem Gruselroman, andererseits aus psychologisierendem Entwicklungs- und fiktionalbiografischem Künstlerroman „Das Parfum“67 von 1985 beweist, was sich u.a. bereits bei Dostojewski und Tolstoi, Friedrich Dürrenmatt oder Heinrich Böll abgezeichnet hatte: Entgegen der heute widerlegten These Ulrich Suerbaums – von der „Unmöglichkeit des Einbaus der Rumpfstruktur des Detektivromans [und Kriminalromans] in ein […] umfassenderes Erzählwerk“68 – bricht der zeitgenössische Kriminalroman mit „einem […] Gestaltungsgesetz der tradierten Kriminalliteratur: der Integrations-Resistenz des Kriminalschemas in eine größere Prosaform“.69

             Erneuert werden zwei Subgenres zugleich: psychologischer Entwicklungsroman und „durch die Verwendung der gängigen Stilmittel […] getragener“70 Kriminalroman. Möglich wird im Zuge eines kriminalistischen Dekonstruktivismus und im Rahmen von Inter- sowie Metatextualität „die Erneuerung des Romans über die Infragestellung des traditionellen Kriminalromans“.71

             Das nach langwierigem Sträuben des Autors und zähen Verhandlungen 21 Jahre später (erst 2006) von Regisseur Tom Tykwer nach einem Drehbuch u.a. von Produzent Bernd Eichinger verfilmte Buch thematisiert und parallelisiert mehrere verblüffende Ambivalenzen: nach außen die zwei schroff divergierenden Welten einerseits des von der Aufklärung geprägten Frankreich im 18. Jahrhundert, andererseits der Amoralität, welche die Bedeutung von Optik und Akustik zugunsten der Olfaktorik (der Geruchswahrnehmung also) relativiert; nach innen einerseits die Reinheit des Wunderkinds Grenouille als Genie der Düfte und andererseits zugleich seine unvorstellbare Grau ← 19 | 20 samkeit bei der Ermordung junger Mädchenopfer aus pervertiert ‚ästhetischen‘ Motiven. „Der Roman der feinen Nase“72 stand von 1985 an über sechs Jahre lang (316 Wochen!) ununterbrochen auf den Bestsellerlisten des SPIEGEL.

             „Die auktoriale Erzählhaltung mit ihrer altertümlich anmutenden Sprache […] sowie der stringente Handlungsablauf erzeugen einen flüssigen Lesestoff, dessen Besonderheiten […] insbesondere von den Süskindschen Neologismen getragen werden, welche die Gerüche […] fast sinnlich wahrnehmbar machen.“73

             Gegen den ‚Mief bundesdeutscher Klassenzimmer‘ hat sich dieser besondere historische Kriminalroman freilich (der allzu zahlreichen Morde und der vermeintlichen Verherrlichung einer pervertierten olfaktorischen Ästhetik als Mordmotiv wegen) noch nicht durchsetzen können.74

             „Vermutlich erfolgreichster Newcomer in der deutschen Krimiszene der 90er Jahre“75 war der Anfang 2013 allzu früh an Krebs verstorbene deutsche Kriminalschriftsteller Jakob Arjouni, in dessen Frankfurter Kriminalromanen der türkischstämmige Privatdetektiv Kemal Kayankaya ermittelt, z.B. in dem Roadmovie „Ein Mann ein Mord“ von 1991 oder dem (1992 von Doris Dörrie verfilmten, gerade in Klassen mit Ausländeranteilen für den Deutschunterricht geeigneten) Integrationsroman „Happy Birthday, Türke“ von 1985:

             „Das […] sozialkritische Potenzial der […] Fremdheitserfahrungen macht diesen Text zu einem Erfahrungsraum, in dem Schüler differenzierte Sprachwahrnehmungen und literarische Rezeptionskompetenzen einüben, sich zugleich aber auch mit den Schattenseiten unserer Gesellschaft kritisch auseinandersetzen können.“76

Auch wenn die Romanautoren und ihre Leserschaft es mit einer exakten Fachterminologie weniger genau nehmen, eher zwischen ‚spannenden‘ und ‚langweiligen‘ Krimis unterscheiden: Das Subgenre des Kriminalromans kennt zahlreiche Unterarten, die auch im Deutschunterricht in Zusammenhang mit einer GFS / einem Referat bzw. in der mündlichen Prüfung bedeutsam sein können und angesprochen werden sollten.

   1.2.2    Der Detektivroman

Details

Seiten
424
Erscheinungsjahr
2019
ISBN (PDF)
9783631783573
ISBN (ePUB)
9783631783580
ISBN (MOBI)
9783631783597
ISBN (Hardcover)
9783631783566
DOI
10.3726/b15354
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juni)
Schlagworte
Grundlagen Kriminalliteratur Werteerziehung Gewaltprävention (Sub-)Genres Kriminalliteratur lebenslanges Lernen verwandte (Sub-)Genres
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 424 S.

Biographische Angaben

Fred Maurer (Autor:in)

Fred Maurer arbeitet als Diplompädagoge und Realschullehrer an der Sonnenbergschule in Oberkochen (BW).

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Titel: Leseförderung durch Kriminalliteratur