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Philosophie der Lebensbejahung

Die platonischen Kardinaltugenden als Grundstruktur seelisch gesunder und spiritueller Selbstverwirklichung

von Hans-Arved Willberg (Autor:in)
©2021 Monographie 486 Seiten

Zusammenfassung

Weil manche Philosophen des 19. Jahrhunderts das Wort „Tugend“ mit Moralismus gleichsetzten und sich die Bedeutung Platons für die Praktische Philosophie erst allmählich erschloss, geriet das platonische System der Kardinaltugenden im 20. Jahrhundert aus dem Blick. Die empirische „Positive Psychologie“ hat sie als Grundstruktur der seelischen Gesundheit wieder entdeckt. Dieses Buch gibt dem empirischen Befund die philosophische Begründung: Die Kardinaltugenden stellen nichts anderes als den logischen Vollzug gelingenden menschlichen Lebens dar, das vernunftbestimmt, selbstbestimmt und auf spirituelle Ideale ausgerichtet ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 1.1. Normative Anthropologie
  • 1.1.1. Demokratie und Bildung
  • 1.1.2. Idealität und Realität
  • 1.2. Die Aktualität der Kardinaltugenden
  • 1.2.1. Die theologische Preisgabe der Kardinaltugenden
  • 1.2.2. Die philosophische Preisgabe der Kardinaltugenden
  • 1.2.2.1. Schelers „Rehabilitierung der Tugend“
  • 1.2.2.2. Nicolai Hartmanns Rezeption der Wertethik Schelers
  • 1.2.3. Die Wiederentdeckung der Kardinaltugenden
  • 1.3. Resümee
  • 2. Lebensbejahung und seelische Gesundheit
  • 2.1. Mystizismus, Pessimismus und Sophistik
  • 2.1.1. Das Paradigma des Zweifels
  • 2.1.2. Philosophischer Mystizismus im 19. Jahrhundert
  • 2.1.2.1. Philosophischer Mystizismus bei Schelling
  • 2.1.2.2. Philosophischer Mystizismus bei Hegel
  • 2.1.3. Anthropologischer Pessimismus in der abendländischen Geistesgeschichte
  • 2.1.3.1. Anthropologischer Pessimismus im Augustinismus
  • 2.1.3.2. Anthropologischer Pessimismus bei Schopenhauer
  • 2.1.3.3. Anthropologischer Pessimismus bei Nietzsche
  • 2.1.3.4. Anthropologischer Pessimismus in der Existenzphilosophie
  • 2.1.3.5. Anthropologischer Pessimismus bei Freud
  • 2.1.4. Das Problem der Wahrheitsrelativierung
  • 2.1.4.1. Materialismus und Wahrheitsrelativierung
  • 2.1.4.2. Zur Neubewertung der Sophistik
  • 2.1.4.3. Isokrates und die Sophistik
  • 2.1.4.4. Sophistische und platonische Eristik
  • 2.1.4.4. Das ethische Problem der Wahrheitsrelativierung
  • 2.2. Lebensbejahung und Wahrheit
  • 2.2.1. Ontologische Subjektivität und Lebensbejahung
  • 2.2.2. Die Alternativlosigkeit der Lebensbejahung
  • 2.2.2.1. Lebensbejahung als Seinsbejahung
  • 2.2.2.2. Wahrheitsbejahung als Philosophia perennis
  • 2.3. Resümee
  • 2.3.1. Empiristischer Antirationalismus und seelische Gesundheit
  • 2.3.2. Mystizistischer Irrationalismus und seelische Gesundheit
  • 2.3.3. Sokratischer Dialog und seelische Gesundheit
  • 2.3.4. Anthropologischer Optimismus und seelische Gesundheit
  • 3. Philosophie der Lebensbejahung bei Platon
  • 3.1. Platons Erkenntnistheorie
  • 3.1.1. Platons Idealität der Gesellschaft
  • 3.1.1.1. Platons utopische Konstruktion
  • 3.1.1.2. Platons zyklisches Geschichtsbild
  • 3.1.1.3. Platons ägyptisches Vorbild
  • 3.1.2. Idee, Hypothese und Prinzip
  • 3.1.2.1. Der stärkste Gedanke
  • 3.1.2.2. Idee und Teilhabe im Parmenides
  • 3.1.2.3. Das Prinzip des Logischen
  • 3.1.2.4. Dialektik als Psychagogik
  • 3.2. Platons Lehre von der seelischen Gesundheit
  • 3.2.1. Platon und die Medizin
  • 3.2.1.1. Gesundheit, Krankheit und Medizin zur Zeit Platons
  • 3.2.1.2. Freie Ärzte versus Sklavenärzte
  • 3.2.1.3. Authentische Gesundheitskompetenz
  • 3.2.1.4. Platons medizinischer Idealismus
  • 3.2.2. Seelische Gesundheit und Krankheit bei Platon
  • 3.2.2.1. Die Zusammensetzung der Seele
  • 3.2.2.2. Die proportionale Richtigkeit der Seelenteile
  • 3.2.2.3. Selbstbesinnung als Voraussetzung echter Gesundheit
  • 3.2.2.4. Die kranke Seele und ihre Heilung
  • 3.2.2.5. Der Eros als Movens
  • 3.2.3. Platons Axiologie der Gesundheit
  • 3.2.3.1. Der Primat des Maßes im Philebos
  • 3.2.3.2. Das Gute, Wahre und Schöne
  • 3.2.3.3. Die apollonische Letztbestimmung des Guten
  • 3.2.3.4. Die axiologische Einordnung der Kardinaltugenden
  • 3.2.4. Platons System der Kardinaltugenden
  • 3.2.4.1. Der Tugendbegriff
  • 3.2.4.2. Die Ausformung des Systems der Kardinaltugenden
  • 3.2.4.3. Klugheit als Tugend bei Platon
  • 3.2.4.4. Gerechtigkeit als Tugend bei Platon
  • 3.2.4.5. Tapferkeit als Tugend bei Platon
  • 3.2.4.6. Mäßigung als Tugend bei Platon
  • 3.3. Resümee
  • 3.3.1. Die Schwachstellen der Ethik Platons
  • 3.3.1.1. Die anthropologischen Vorurteile Platons
  • 3.3.1.2. Das unausgereifte Autonomieverständnis
  • 3.3.2. Die Substanz des Systems der Kardinaltugenden
  • 4. Rezeptionen und Modifikationen der platonischen Kardinaltugenden
  • 4.1. Die Kardinaltugenden in der vorchristlichen Antike
  • 4.1.1. Die Kardinaltugenden bei Aristoteles
  • 4.1.1.1. Die Abgrenzung von Platon
  • 4.1.1.2. Die Zwischenstellung der Phronesis
  • 4.1.2. Die Kardinaltugenden im Stoizismus
  • 4.1.2.1. Der Logos und die Einheit des Viergespanns
  • 4.1.2.2. Die Lehre von den Affekten
  • 4.1.2.3. Panaitios und Cicero
  • 4.1.2.4. Das Honestum
  • 4.2. Die Kardinaltugenden von der Spätantike bis zur Neuzeit
  • 4.2.1. Die Kardinaltugenden in der Spätantike
  • 4.2.1.1. Die beginnende christliche Vereinnahmung der Kardinaltugenden
  • 4.2.1.2. Die Kardinaltugenden vom vierten bis sechsten Jahrhundert
  • 4.2.2. Die Kardinaltugenden im Mittelalter
  • 4.2.2.1. Die Kardinaltugenden in der karolingischen Renaissance
  • 4.2.2.2. Die Kardinaltugenden in der Kirche des Hochmittelalters
  • 4.2.2.3. Die Kardinaltugenden in der Adelsgesellschaft des Hochmittelalters
  • 4.2.2.4. Gerechtigkeit und Liebe
  • 4.2.2.5. Natürlichkeit und Übernatürlichkeit
  • 4.2.3. Das Verhältnis der Kardinaltugenden zu Liebe und Religion
  • 4.2.3.1. Der Januskopf der Liebe im kirchlichen Verständnis
  • 4.2.3.2. Die Neubesinnung auf den Zusammenhang bei Schleiermacher
  • 4.2.3.3. Die Neubesinnung auf den Zusammenhang bei Fries
  • 4.2.4. Das logische Prinzip der seelischen Gesundheit
  • 4.2.4.1. Das „höchst anmutige“ Wesen der Kardinaltugenden
  • 4.2.4.2. Natorps Begründung der Sozialpädagogik
  • 4.2.4.3. Demokratie und Bildung revisited
  • Quellenverzeichnis
  • Abkürzungen
  • Erklärungen zur Manuskriptgestaltung
  • Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

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Vorwort

Dies ist der Versuch einer philosophischen Bestimmung seelischer Gesundheit und einer seelisch gesunden Bestimmung von Philosophie. Erstere erfolgt durch die von Platon ausgehende philosophische Begründung des Systems der Kardinaltugenden. Letztere erfolgt, ebenfalls von Platon ausgehend, durch die Begründung der ontologischen Gleichsetzung von Vernunft und Lebensbejahung als der epistemologischen Voraussetzung des Systems der Kardinaltugenden.

Seit ich Josef Piepers aktualisierende Auslegung der Kardinaltugenden2 gelesen und seit ich wahrgenommen hatte, dass der Forscherkreis um Martin E.P. Seligman, Kern und treibende Kraft der in den letzten Jahrzehnten stark boomenden so genannten Positiven Psychologie, ziemlich genau dasselbe als Ergebnis einer groß angelegten Bestandsaufnahme der interkulturell nachweisbaren Hauptfaktoren seelischer Gesundheit präsentierte,3 wuchs mein Interesse an den Kardinaltugenden und ich begann, mich zunehmend damit zu beschäftigen. Als erstes Zwischenprodukt ging ein kleiner von Piepers „Über die Tugenden“ inspirierter Ratgeber daraus hervor.4 Seither bemühte ich mich darum, das erstaunliche Phänomen dieser Kongruenz des Jahrtausende alten philosophischen Modells der Hauptfaktoren seelischer Gesundheit mit dem zeitgenössischen empirisch psychologischen Modell derselben zu ergründen. Diese Arbeit ist das Resultat daraus.

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Seligman et al. geht es um die Frage der seelischen Gesundheit aus der Perspektive empirischer Psychologie. Platon geht es ebenfalls um die Frage der seelischen Gesundheit, aber er geht sie aus der philosophischen Perspektive an. Das Ergebnis, nämlich das „Viergespann“ der Kardinaltugenden, gewann eine außerordentlich große Überzeugungskraft, die es, wie zuletzt Piepers Arbeit zeigte, bis in die Moderne hinein immer wieder erneuern konnte. Was dabei aber auf der Strecke blieb, ist die Überzeugungskraft der philosophischen Begründung. Sie wird bis heute überlagert durch die ideengeschichtlich bedingte weitgehende theologische Absorption der Kardinaltugenden, auch bei Pieper, der als christlicher Philosoph dem Thomismus zuzurechnen ist. Man muss sich aber fragen: Woher kommt denn eigentlich diese bemerkenswerte ideengeschichtliche Perseveranz der Kardinaltugenden einerseits und die nicht minder bemerkenswerte Übereinstimmung mit dem heutigen empirisch psychologischen Forschungsbefund zu dem, was Seligman und Peterson „Tugenden und Charakterstärken“ nennen? Stellen sie vielleicht nicht weniger als die epistemologische Grundstruktur gelingenden menschlichen Lebens dar? Um die Antwort auf diese Frage anzunähern versuche ich, die originäre epistemologische Herleitung der Kardinaltugenden durch Platon zu verstehen und verfolge von dorther die Spur der Sukzession des platonischen Idealismus bis ins 19. Jahrhundert, stets darum bemüht, dabei den Begründungszusammenhang zwischen platonisch geprägter Dialektik und dem je erneuerten, wiedergewonnenen oder auch modifiziertem „Viergespann“ im Blick zu behalten.

Besonders reizvoll an dieser Unternehmung ist die Hypothese, dass mit dem System der Kardinaltugenden die Grundelemente einer Theorie der seelischen Gesundheit überhaupt vorliegen. Peterson und Seligman haben ihre umfassende und elaborierte Bestandsaufnahme der „Charakterstärken und Tugenden“ in diesem Sinne konzeptioniert, nämlich als System einer Klassifizierung seelischer Gesundheit in Analogie und Gegenüberstellung zur Klassifizierung seelischer Krankheit in den einschlägigen diagnostischen Manualen ICD und DSM.5 Ob sich dem womöglich auch ein praktisch philosophisches, mithin also ethisches Modell seelischer Gesundheit zur Seite stellen oder gar als epistemologisches Fundament unterlegen lässt?

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Elizabeth Anscombe forderte Mitte des 20. Jahrhunderts, als nach den Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte wieder der Glaube an das wunderbar große Potenzial der menschlichen Vernunft in den Humanwissenschaften aufkeimte, „a sound philosophy of psychology“,6 die sich darin zu erweisen habe, dass sie die unter der Vorherrschaft des Empirismus abhanden gekommene ethische Qualität psychologischer Phänomene integrieren könne. Sprachgeschichtlich spiegelt sich das Problem in der Ambiguität des Begriffs „Charakter“. Traditionell wird dem Charakter als „schlechtem“ oder „gutem“ eine ethische Qualität zugedacht. Andererseits lässt er sich wertfrei als die Kontur der jeweiligen „Persönlichkeitsstruktur“ beschreiben. Die empirische Psychologie hat sich, insbesondere in Gestalt der schon seit einiger Zeit als State of the Art angesehen „Big five“, den angeblich fünf bei allen Menschen maßgeblichen Persönlichkeitsfaktoren, einseitig auf die Darstellung der Struktur fokussiert,7 wenn auch, vor allem aufgrund des evidenten Zusammenhangs von Persönlichkeitsstruktur und Persönlichkeitsstörung,8 mit einem deutlichen Hang zur Psychopathologie. „Charakterstärken“ im Sinne von Tugenden scheinen hierfür nicht brauchbar zu sein, weil sie seelische Störungen und Erkrankungen als Charakterschwächen und Untugenden respektive „Laster“ erscheinen lassen und dadurch die Heilkunde moralistisch kontaminieren. Das kann aber nur stattfinden, wenn der Charakter als Persönlichkeitsstruktur und der Charakter als habituelle Tugend vermischt werden. Sie sind jedoch zu unterscheiden: Der Charakter als Persönlichkeitsstruktur ist dispositionell, wie auch zum überwiegenden Teil die daraus hervorgehenden Persönlichkeitsstörungen, während der Charakter als Tugend Folge verantwortlicher Entscheidungen der Person aufgrund der spezifisch menschlichen Fähigkeit zur Reflexion und Modifikation seines Verhältnisses zu einer vorgegebenen Befindlichkeit ist. Kurz gesagt: Charakter als Persönlichkeitsstruktur ist meine Veranlagung; Charakter als Tugend ist die Frucht der Art und Weise, wie ich mit meiner Veranlagung umgehe.

Nur unter dieser Voraussetzung ist auch überhaupt das Proprium der Positiven Psychologie recht zu begreifen. Es handelt sich nicht um die Reinszenierung des Moralismus für die Behandlung seelischer Störungen und Erkrankungen, sondern um ein neues Ernstnehmen des humanistischen Glaubens an die subjektiv zugänglichen menschlichen Kräfte der Lebensbewältigung trotz aller möglichen Belastungen, seien sie dispositioneller oder anderer Art. Das erlaubt gewissermaßen die Definition einer Metagesundheit, die das Paradox des „gesunden Kranken“ ermöglicht, eines Menschen nämlich, der die Herausforderung seines Leidens, gerade auch des seelischen, annimmt, sich ihm auf eine weise und kluge, mutige und tapfere, sozial förderliche und angemessen selbstbeherrschte Art stellt und auf diesem schweren Weg zu einer reifen, gefestigten Persönlichkeit wird.

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Es gibt ungünstige charakterliche Dispositionen, die des besonderen bewahrenden und unterstützenden Umgangs der Mitmenschen bedürfen, auch der psychiatrischen Behandlung. Aber es gibt keinen dispositionell charakterlichen Bösewicht. Dispositionelle Defizite und Schäden dürfen nicht moralisch disqualifiziert werden, aber angemessen rationale und damit ethische, nämlich lebensbejahende Wertungen müssen, sofern sie einer Person ihres vorhandenen reflexiven Selbstverhältnisses wegen möglich sind, im ermutigenden Sinn gefordert und gefördert werden. Nur in dem Maß, wie das geschieht, können wir begründet darauf hoffen, dass unsere freiheitliche demokratische Ordnung noch eine Zukunft hat. Die Demokratie steht und fällt mit dem Vorhandensein mündiger Bürgerinnen und Bürger, die bereit und fähig sind, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen, reif genug, um überwiegend vernünftige Entscheidungen zu treffen, die förderlich für das eigene Leben wie auch ebenso für die Gemeinschaft und die Umwelt sind, den erfahrenen Einschränkungen und Behinderungen zum Trotz.

Die „sound philosophy of psychology“ ist eine Philosophie der Lebensbejahung, weil seelische Gesundheit nur unter dem Vorzeichen der Lebensbejahung entstehen und bestehen kann. Jedenfalls ist das schon einmal der deutliche empirisch psychologische Befund. Die Frage ist, ob sich eine Philosophie der Lebensbejahung nicht nur reaktiv zu diesem Befund bestimmen lässt, sondern als seine epistemologische Voraussetzung, ob sie sich so bestimmen lässt, dass sie sich weder in metaphysischen Prämissen verankern muss noch relativistisch als ein (vielleicht) mögliches Denkmodell unter etlichen zu betrachten ist, und ob und warum sie sich als praktische Philosophie tatsächlich in Gestalt der Kardinaltugenden zeitigt. Um diesen Fragen nachzugehen, greife ich vor allem dankbar auf die lange Überlieferung der philosophischen Positionen zurück, die man vielleicht am besten unter die Überschrift „platonischer Idealismus“ fasst. In der Neuzeit wird dieser insbesondere durch den Kantianismus und den Neukantianismus wie auch durch die demselben eng verwandten philosophischen Anschauungen des 19. Jahrhunderts in der Friesschule, bei Schleiermacher und den bis weit in das 20. Jahrhundert hineinwirkenden Epigonen der Marburger Schule repräsentiert.

Nicht unerwähnt bleiben soll mein Dank für die umsichtige und geduldige Begleitung durch Hermann Ühlein auf dem Weg zur Produktion dieses Buchs und den Peer-Review, der neben dem erfreulichen Placet auch hilfreich Kritisches anmerkte: Zu Recht hätte er sich noch mehr Zusammenfassungen und Zwischenergebnisse gewünscht und zu Recht bemängelt er, dass Thomas von Aquin als entscheidender Theoretiker der Kardinaltugenden nur (wenn auch ausführlich) durch Sekundärliteratur repräsentiert ist.9

Waldbronn, im Dezember 2020, Hans-Arved Willberg


2Josef Pieper, Über die Tugenden: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß, mit einem Vorwort v. J. Rau, 2. Aufl. (Kösel: München, 2008).

3Christopher Peterson, Martin E.P. Seligman, Character Strengths and Virtues: A Handbook and Classification, Values in Action Institute, American Psychological Association (Oxford University Press: New York, 2004); populärwissenschaftlich vermittelt in: Martin Seligman, Der Glücks-Faktor: Warum Optimisten länger leben, aus d. Engl. v. S. Brockert, 6. Aufl. (Bastei Lübbe, Ehrenwirt: Bergisch Gladbach, 2009); Martin Seligman, Flourish: Wie Menschen aufblühen. Die Positive Psychologie des gelingenden Lebens, aus d. Amerik. v. S. Schuhmacher, 3. Aufl. (Kösel: München, 2012).

4Hans-Arved Willberg, Wie das Leben gelingt: Alte Tugenden neu entdecken (Neukirchener: Neukirchen-Vluyn, 2012).

5C. Peterson, M.E.P. Seligman, a.a.O., 4.

6Elizabeth Anscombe, Modern Moral Philosophy, in: Philosophy (1958) 33/124, 4.

7C. Peterson, M.E.P. Seligman, a.a.O., 55, 68–70.

8Peter Fiedler, Integrative Psychotherapie bei Persönlichkeitsstörungen, 2., unveränd. Aufl. (Hogrefe, Verlag für Psychologie: Göttingen, Bern, Toronto u.a., 2003).

9Ühlein weist ebenfalls zu Recht darauf hin, dass bedauerlicherweise William J. Hoyes „Tugenden – was sie wert sind und warum wir sie brauchen“ (2010) unerwähnt blieb.

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1.Einleitung

1.1.Normative Anthropologie

1.1.1.Demokratie und Bildung

Wir sind es gewohnt, in einer Demokratie zu leben, Gott sei Dank. Aber sie ist jünger und fragiler als es scheint. Wir halten es für selbstverständlich, Demokratie als die Staatsform zu betrachten, in der allein sich ein bürgerliches Miteinander und Füreinander in freier Entfaltung, Gleichberechtigung und Wahrung der Menschenwürde verwirklichen lässt. Aber dass diese Ansicht Allgemeingültigkeit besitzt, ist ziemlich neu, und sie ist seit jeher dem starken Widerstand derer ausgesetzt, die meinen, das sei utopisch und entspräche gar nicht der Natur des Menschen. Die Sehnsucht nach dem starken Führer ist auch in Deutschland nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verloschen,10 sie schwelt beständig weiter und lässt sich, wie man sieht, ziemlich leicht erneut entfachen.

Demokratie ist Herrschaft des Volkes. Eine starke und authentische Demokratie benötigt mündige Bürgerinnen und Bürger. Mehrheitsverhältnisse, die nicht aus den Entscheidungen verantwortungsbewusster mündiger Menschen hervorgehen, kommen zwar mithilfe demokratischer Instrumente zustande, aber sie zielen nicht auf jene Inhalte und Werte der bürgerlichen Gemeinschaft, sondern dienen beliebig fluktuierenden Interessen, die nicht selten das freiheitliche Fundament der Demokratie selbst untergraben. Menschliche Freiheit als Grund und Perspektive gelingender Demokratie ist nicht Beliebigkeit, sondern Verantwortung, und Verantwortung kann nur übernehmen, wer weiß, wofür er verantwortlich ist. Dieses Wissen heißt Bildung.11

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Demokratie ist nur dort die beste Staatsform, wo der Bürgerschaft zugetraut und zugemutet wird, bildungsfähig und bildungswillig zu sein, und wo sie auch wirklich selbst danach strebt. Die moderne Demokratie konnte nur aus dem neuen Selbstbewusstsein einer bürgerlichen Gesellschaft erwachsen, die sich der Zwangsjacke klerikaler und aristokratischer Bevormundung entledigte, indem sie das überkommene Klischee verließ, auf elitäre menschliche Führungskasten angewiesen zu sein wie die Schafe auf den Hirten, um überhaupt vernünftig existieren zu können. Reaktionären Führungssystemen, die noch immer und wieder neu solchen misanthropischen Paradigmen folgen, ist die Mündigkeit des Volkes zuwider, weil sie ihre Macht gefährdet.12

Unsere junge, fragile Demokratie krankt daran, dass sich das zur Selbstbestimmung erwachte Bürgertum zu großen Teilen ökonomischen Diktaten unterworfen und dafür seine rationale Souveränität preisgegeben hat. Dem heute gängigen Verständnis nach sind unter Bildung angelernte Kenntnisse und Fertigkeiten mit dem Zweck beruflicher Qualifikationen und anderer persönlicher Vorteile zu verstehen. Die Bildung erschöpft sich weitestgehend in der Ausbildung, der Rest ist Zeitvertreib und Unterhaltung. Bei entsprechender Intelligenz und günstigen Rahmenbedingungen kann die beste Ausbildung auch solchen Menschen zuteilwerden, die zugleich den größten Mangel an Verantwortung und Mündigkeit aufweisen. Viele von denen, die den Mangel bei sich selbst schmerzlich empfinden, suchen, um sich selbst zu finden, Hilfe in der Psychotherapie und auf spirituellen Wegen. Viele andere, die ihn leugnen, werden seelisch krank oder kommen auf krankhafte Weise zum Erfolg, indem sie sich und andere schädigen. Sie kompensieren das Bildungsdefizit der Zentrierung auf die Ausbildung durch Einbildung.

Wir waren schon einmal weiter. Im humanistischen Bildungskonzept der Neuzeit von der Renaissance an bis zur Goethezeit waren die Ausbildungsziele der Persönlichkeitsbildung untergeordnet. Die wachsende Krise der Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten gibt dringenden Anlass, dem wieder neu und ernsthaft nachzudenken.13

Es gibt nennenswerte philosophische und humanwissenschaftliche Ansätze dafür. In Psychologie und Medizin vollzieht sich ein Paradigmenwechsel von der Pathogenese zur Salutogenese: Hauptgegenstand des Interesses ist nicht mehr die Bekämpfung von Krankheit, sondern die Förderung von Gesundheit. Die so genannte Positive Psychologie erforscht die Kennzeichen seelischer Gesundheit und der Kriterien ihrer nachhaltigen Verwirklichung. So viel steht jetzt schon fest: Dies sind wiederum die Kriterien der Persönlichkeitsbildung. Die seelisch gesunde Person ist die mündige Person, die in freier Abwägung auf der Grundlage gut verstandener, logisch klarer Informationen verantwortliche Entscheidungen trifft und sich auch dementsprechend verhält.

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Die philosophische Neubesinnung ist weniger auffällig, gleichwohl bahnt auch sie sich an.14 Signifikant ist das Wiederstarken des philosophischen Humanismus. Der heutige philosophische Humanismus erfindet sich nicht neu. Er nimmt nur den Faden wieder auf, der durch die humanitären Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verloren gegangen war. Epistemologische Voraussetzung dafür ist die Hypothese, dass es diesen Faden überhaupt gibt.15 Julian Nida-Rümelin, Protagonist einer neuen humanistischen Bildungsreform, deutet den Begriff „Bildung“ etymologisch vom „Bild einer mehr oder weniger idealen Person“ her. Dieses Ideal repräsentiere „eine normative Anthropologie, dadurch, dass wir Kriterien haben, um den Erfolg der Bildung zu beurteilen.“16 Mit anderen Worten: Wir brauchen ein Bild von der seelischen Gesundheit des Menschen, um von dorther die Kriterien im ganzheitlichen Sinn erfolgreicher Bildung zu gewinnen.

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In der Philosophie vom späten 19. Jahrhundert an gab und gibt es laute und einflussreiche Stimmen, die das Vorhandensein einer sinnvollen ideengeschichtlichen Entwicklung grundsätzlich verneinen. Ein wesentliches Anliegen dieser Arbeit besteht darin aufzuzeigen, dass jedoch wenigstens im Blick auf die Idee der seelischen Gesundheit eine solche Kontinuität jedenfalls zu konstatieren ist: Es gibt weltanschaulich unabhängige anthropologische Konstanten, die zwar im Lauf der Jahrtausende durch den Fortschritt der empirischen Erkenntnis revidiert und durch die Veränderungen metaphysischer Vorstellungen modifiziert, in ihrer Grundsubstanz aber schon früh, nämlich seit Platon, durchaus vollständig wahrgenommen und beschrieben sowie logisch begründet wurden und immer dort, wo sie Eingang in die gesellschaftlichen Bildungssysteme fanden, eine starke gesundheitsfördernde Wirkung entfalteten – für die Einzelnen wie für ihre organisierte Gesamtheit, den Staat. Durch diese Konstanten lässt sich der Begriff „seelische Gesundheit“ hinreichend definieren und damit auch der Inhalt einer gesunden Bildung qua Persönlichkeitsbildung und einer gesunden Demokratie qua Verantwortungsgemeinschaft seelisch gesunder, vernünftig im Sinne des sozialen Ganzen entscheidender und handelnder Bürgerinnen und Bürger.

Mit dem verlorenen Faden kam auch das zuvor weitgehend unproblematische Wort abhanden, das seelische Gesundheit, Persönlichkeitsbildung, Verantwortung, Mündigkeit, Würde und Freiheit zusammenfasste: Die Tugend. Das Wort klingt nicht mehr gut, aber seine Bedeutung will heute wieder neu erschlossen werden.17 Eigentlich meint es seit Sokrates und Platon nichts anderes als die Fähigkeit (Tüchtigkeit), gesund zu leben. Fast das gesamte OEuvre Platons durchzieht das Bemühen, die Tugend (Arete) als das wahrhaft Gute im einzelnen Menschen wie im Staat zu verstehen und die praktisch philosophisch angemessenen pädagogischen, psychagogischen und politischen Folgerungen daraus zu ziehen. Das erfolgt durchgängig, indem die eine Tugend in die vier Facetten der später so genannten Kardinaltugenden aufgeteilt dargestellt wird. Bis zum Renaissance-Humanismus wurde diese platonische Grundstruktur seelischer und sozialer Gesundheit als zentrales Element der ethischen Systeme rezipiert, teilweise intensiv bearbeitet und integriert, ohne dabei je seine Spezifika zu verlieren. Danach traten zum Teil andere, wenn auch wesensverwandte ethische Paradigmen in den Vordergrund, was aber keineswegs hieß, dass die Konzeption aufgegeben wurde.

In der praktischen Philosophie des 19. Jahrhunderts spielten die Kardinaltugenden nach wie vor eine zentrale und gut begründete Rolle. Aus der modernen gesundheitspsychologischen Forschung ergeben sich nunmehr erhellende Hinweise darauf, warum das Beharren auf dem Modell der Kardinaltugenden nicht als altertümlicher Konservativismus, sondern als Ausdruck des Erkennens eben jener anthropologischen Konstanten zu deuten ist.

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Im Unterschied zu der schillernden Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Vorstellungen seelischer Krankheit und ihrer Bekämpfung bietet sich uns mit dem System der Kardinaltugenden für das Grundmodell der seelischen Gesundheit ein bemerkenswert klar strukturiertes, rational plausibles und scheinbar zeitlos überzeugungsfähiges Schema an. Gerade darin liegt aber auch die Gefahr von simplifizierenden, manipulativen und moralisierenden Vereinheitlichungen. Wie so vieles Gute lassen sich auch die Kardinaltugenden missbräuchlich instrumentalisieren. Missbräuchlich ist in dieser Hinsicht alles, was Mündigkeit und Freiheit als die Wachstumsziele der Persönlichkeitsbildung durch external verordnete Direktiven konterkariert. Durch die ideengeschichtliche Nachzeichnung der Lehre von den Kardinaltugenden wird ersichtlich, wie sich im Kontext ihrer Vermittlung eine selbstbestimmte Persönlichkeitsbildung von einer fremdbestimmten unterscheidet und wie das eine krank und das andere den Kriterien heutiger Salutogenese entsprechend gesund werden lässt.

1.1.2.Idealität und Realität

Wenn Bildung Persönlichkeitsbildung sein soll, dann wird zu ihrer Definition jenes „Bild einer mehr oder weniger idealen Person“ benötigt und somit eine „normative Anthropologie“. Sinnvoll normativ ist, was sinnvollerweise als wahr anzusehen ist. Folgerichtig vertritt Nida-Rümelin die Auffassung, „dass die Wahrheit einen zentralen Ort hat in der Demokratie, dass Wahrheitsansprüche dort berechtigt sind, dass es nicht lediglich um Interessen und ihren Ausgleich geht.“18

Normative Anthropologie kann entweder extrinsisch oder intrinsisch bestimmt werden. In der Frage des Menschenbildes ist unter einer extrinsischen Normierung das „Bild einer mehr oder weniger idealen Person“ aus der objektiven Perspektive zu verstehen und unter einer intrinsischen Normierung dasselbe aus der subjektiven. Auch in der Perspektive des Subjekts erfolgt eine Objektivierung, aber sie vollzieht sich, wenn sie für das Subjekt wahr sein soll, durch die Übereinstimmung der wahrgenommenen personalen Idealität mit der internalen Wahrnehmung der personalen Realität. Im Unterschied dazu orientiert sich die extrinsische Normierung an der Übereinstimmung von externaler Idealität und dem äußeren Erscheinungsbild der Person. Da eine extrinsisch bestimmte normative Anthropologie nur das Äußere der Person in Betracht ziehen kann, erreicht sie deren subjektive normative Instanz nur, wenn die Person die äußerlich gesetzte Norm internalisiert. Entweder wird ihr auf diese Weise Gewalt angetan, indem die extrinsische Normierung die intrinsische ersetzt, oder sie nimmt ihre subjektive Übereinstimmung von Idealität und Realität wiederum in Übereinstimmung mit der äußerlich gesetzten Norm wahr und bejaht diese darum freiwillig. Von seelischer Gesundheit der einzelnen Person kann nur dann die Rede sein, wenn sie hinreichende Übereinstimmung von Idealität und Realität in sich selbst erkennt und sich somit in ihrer subjektiven Wahrheit findet. Von seelischer Gesundheit der Gemeinschaft, deren Teil sie ist, kann nur gesprochen werden, wenn deren Normen als äußerlich gegebene der inneren Übereinstimmung entsprechen und sie bestärken, so dass die Freiwilligkeit der Bejahung durch die einzelne Person gewährleistet sein kann.

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Abbildung 1: Die beiden Grundformen intrinsischer und extrinsischer anthropologischer Normativität

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Abbildung 1 stellt die Zusammenhänge dar. Die seelisch gesunde Einzelperson nimmt in sich selbst das Verhältnis von Realität zu Idealität ihrer selbst als stimmig wahr. Natürlich ist das dynamisch-wachstümlich zu verstehen, als fortwährender Prozess der Angleichung. Das Individuum erfährt sich in angenehmer Übereinstimmung mit den externalen Normierungen der Gemeinschaft qua Gesellschaft, deren Teil es ist, wenn diese den Prozess seiner subjektiven Angleichung von Realität und Idealität bestätigen und fördern. Die Voraussetzung dafür ist wiederum, dass die gesellschaftliche Konzeption qua Staat und Kultur selbst diese Stimmigkeit zwischen Realität und Idealität prozesshaft repräsentiert. Dann darf auch von einer gesunden Gesellschaft gesprochen werden. Die benannten individuellen und gesellschaftlichen Prozesse stehen in wechselseitigen Wirkungsverhältnissen zueinander: In seinem subjektiven Angleichungsprozess verändert das Individuum sukzessive seine Idealvorstellungen infolge seiner veränderten Realitätswahrnehmung, vice versa stellt es sich aber auch der Realität infolge der Maßgabe seiner Ideale. Dieselbe Wechseldynamik findet analog dazu auch diskursiv im gesunden gesellschaftlichen Fortschritt statt. Das Individuum wird wiederum von der gesunden Gesellschaft als gesund empfunden, wenn die Analogie des Prozesses in ihm zu erkennen ist.

Der untere Teil der Abbildung zeigt die Missverhältnisse zwischen Idealität und Realität in Gesellschaft und Individuum. Selbstverständlich wäre auch die Einwirkung des in sich unstimmigen, selbstentfremdeten Individuums auf die Gesellschaft zu konstatieren, aber eine kranke Gesellschaft wirkt viel stärker pathogen auf die Einzelperson als diese auf die Gesellschaft. Die Einzelperson befindet sich ihrer Umwelt gegenüber grundsätzlich in der schwächeren Position, vor allem während der besonders schutzbedürftigen Kindheits-und Jugendphase. Dass in kranken Gesellschaften dennoch krankhaft agierende Einzelpersonen eine Vielzahl von Machtpositionen besetzen können, ist weniger ihrer eigenen Kraft als der Ermächtigung durch die Gesellschaft zuzuschreiben, die sie dazu einlädt. Eine gesunde Gesellschaft lässt nachhaltig pathogene Einflüsse durch die Machtausübung seelisch kranker Menschen nicht zu.19

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In kranken Gesellschaften wie in kranken Individuen wird die Stimmigkeit des Wechselverhältnisses von Realität und Idealität durch realitätsfremde und feindliche Idealitäten ersetzt. Für den gesellschaftlichen Bereich lassen sich diese mit dem umgangssprachlich verstandenen Begriff „Ideologie“ zusammenfassen. Demnach sind Ideologien doktrinär vertretene Idealisierungen, nach denen sich die Realität zu richten haben soll. Sie tun der Natur Gewalt an und sind darum, wenn sie Macht erlangen, lebensfeindlich. Analog zeigt sich die seelische Krankheit des Individuums durch idealisierte Ansprüche sich selbst gegenüber, die nicht mit dem realen Entwicklungspotenzial korrespondieren. So wie die ideologischen Ansprüche mit den realen Gegebenheiten und Bedürfnissen der Sozialgemeinschaft in einer Gesellschaft nicht zusammenstimmen, passen auch die internalen Ansprüche einer Person nicht zu ihrer natürlichen Entfaltung. Darum entfremdet sie sich durch solche Diktate ihrer selbst. Die wesentliche Kraft dieser Dynamik kommt aus den vereinnahmenden Postulaten der ideologisch begründeten Ansprüche aus dem sozialen Umfeld des Individuums. Selbstentfremdung ist die Folge von Fremdbestimmung.

Das Modell der gesunden Demokratie entspricht dem Modell der gesunden Gesellschaft rechts oben in Abbildung 01. Die gesellschaftlichen Ideale müssen in einem förderlichen Bezug zu den realen Gegebenheiten der Sozialität stehen und das Leben in der sozialen Realität muss sich an jenen Idealen orientieren. Wenn die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft sich in ihr seelisch gesund entfalten sollen, müssen die gesellschaftlichen Ideale in der Unterstützung des Angleichungsvorgangs von Idealität und Realität in der Einzelperson zentriert sein. Dies ist unter Persönlichkeitsbildung zu verstehen. Gesund kann sich das nur in diskursiver Wechselseitigkeit und somit in Freiheit ereignen.

Die hochgradige Interdependenz individueller seelischer Gesundheit und gesellschaftlicher Gesundheit nicht nur gesehen, sondern zur Voraussetzung der gesamten anthropologischen und politischen Konzeption genommen zu haben, ist das Verdienst Platons.

1.2.Die Aktualität der Kardinaltugenden

1.2.1.Die theologische Preisgabe der Kardinaltugenden

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Moralphilosophie und Moraltheologie der Moderne und Postmoderne haben den Tugendbegriff an sich und als wesentlichen Teil davon das System der Kardinaltugenden weitgehend preisgegeben. In der Ethik des katholischen Katechismus nimmt es zwar nach wie vor großen Raum ein,20 aber man muss sich wohl fragen, wie weit das von den Katholiken selbst wahrgenommen und ernstgenommen wird, wie sie es anwenden und inwiefern ihre Moraltheologen sich damit identifizieren.

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Wenngleich der katholische Katechismus betont, dass die Praxis der Kardinaltugenden „dem Menschen Leichtigkeit, Sicherheit und Freude zur Führung eines sittlich guten Lebens“ verleiht,21 scheinen die Direktiven zu ihrer Verwirklichung dem nicht unbedingt zu entsprechen. Auch in der Einleitung zur Tugendlehre im „Leitfaden für den aszetischen Unterricht in Schwesterngenossenschaften“ von 1925 etwa heißt es, dass die „in der Seele wurzelnden Tugenden“ den Menschen nicht nur antreiben, „das Gute zu tun“, sondern dass sie ihm auch „zugleich die Kraft“ geben, „das Gute bereitwillig, mit Freuden, leicht und beharrlich zu tun.“22 Insbesondere die Explikation der Tugend „Mäßigung“ erweckt dann aber einen anderen Eindruck.23 Überwiegend wird sie als „Tugend der Demut“ entfaltet,24 wobei diese wiederum mit Topoi wie „Selbstverachtung“,25 Ablehnung jeglichen Lobes,26 Liebe zu „niedrigen Arbeiten und niedrigen Stellungen“27 und klagloser, selbstablehnender Leidensbereitschaft28 beschrieben ist.29 Der nordamerikanische katholische Bischof und Medienstar Fulton Sheen ordnete die Kardinaltugenden Texten aus der Passion Jesu zu und legte sie von dorther ebenfalls im Sinne der Weltentsagung aus.30 Die katholische Lehrerin und Journalistin Pia Theresia Bühler fokussiert noch 2004 die Tugend „Mäßigung“ traditionsgemäß unter dem Gesichtspunkt der Keuschheit auf die Sexualität und ordnet ihr das kirchliche Verbot jeder sexuellen Tätigkeit außerhalb der Ehe zu.31 Affirmative Auslegungen der Kardinaltugenden wie des Mailänder Erzbischofs Carlo Maria Martini, die explizit vom katholischen Katechismus ausgehen,32 ohne aber die Rechtfertigung überkommener kirchlicher Dogmen damit zu verbinden, scheinen sich hingegen eher selten zu finden.

Vielleicht liegt es vor allem an der Dominanz dieser Auslegungstradition in der Katholischen Kirche, dass selbst dort das System der Kardinaltugenden im 20. Jahrhundert nur noch wenig Aufmerksamkeit erfährt. Dem Thomisten Joseph Pieper ist es überzeugend gelungen, ihren Sinn und Gehalt für den modernen Menschen auszulegen.33 Seiner Ansicht nach sind die Kardinaltugenden die „vier Angeln, in denen das Tor zum Leben schwingt.“34 Aber die Wirkungen der herausragenden philosophiegeschichtlichen und psychagogischen Arbeit Piepers in dieser Hinsicht scheinen unverhältnismäßig gering zu sein.35

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Die von Karl Rahner und Bernhard Welte herausgegebene Aufsatzsammlung „Mut zur Tugend“ zum Beispiel erwähnt die Kardinaltugenden gar nicht,36 obwohl Piepers umfassende Einführung „Das Viergespann“ erst wenige Jahre zuvor erschienen war und er schon seit den 30er Jahren darüber geforscht und geschrieben hatte. Rahner behauptet dort gar, es sei eine „unbezweifelbare Tatsache“, „daß die Tugendkataloge, die ethischen Systeme und Terminologien in den einzelnen Zeiten, Kulturen und Lebensstilen sehr verschieden waren und sind und kaum gegenseitig zur Deckung gebracht werden können.“37 Das würde also heißen, dass eine normativ anthropologische ethische Orientierung, die unter den Tugendbegriff gefasst werden könnte, gar nicht existieren kann.

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Der Fundamentaltheologe Heinrich Fries führt im selben Band gegen die optimistische Ethik der Aufklärung und des überlieferten Systems der Kardinaltugenden unter Einschluss der drei „theologischen Tugenden“ Glaube, Hoffnung und Liebe ins Feld, dass seit den Katastrophen der Unmenschlichkeit im 20. Jahrhundert das „Prinzip Hoffnung“ seine Glaubwürdigkeit verloren habe. Das habe sich auch in der Kirche durchgesetzt. Von „Freude und Hoffnung“ sei wenig zu spüren.38 Der Moraltheologe Dietmar Mieth hält es zwar für geboten, eine neue Tugendlehre zu generieren, und er orientiert sich dafür auch an der Grundstruktur der Kardinaltugenden.39 Einerseits möchte er sie nicht aufgeben, weil eine „große Kontinuität der Tradition der Kardinaltugenden und ihrer christlichen Integrierung“ zu konstatieren sei. Man möge ihnen darum „jene Offenheit und Elastizität bescheinigen, die verschiedene soziale Trägerschaft […] zuläßt“, was daran liege, „daß diese Kardinaltugenden zugleich mit der Einsicht in die personale Freiheit und die ethischen Kriterien von Institutionen ‚geboren‘ wurden. Daher gehören sie weiterhin zum Einmaleins der Tugendlehre.“40 Andererseits müssten aber heute „neue Kardinaltugenden“ definiert werden. Außerdem stünde die „Idee des Tugendsystems mit seiner Gefahr, doch zu einer geschlossenen Größe zu werden“, der „Demokratisierung und Ausdifferenzierung der Lebensbereiche“ entgegen. „Sollten sich nicht verschiedene Ethosformen in fruchtbarer Konkurrenz entfalten?“ Er wolle darum „für eine Überwindung des Systems durch eine offene Reihe von Haltungsbildern im Sinne ethischer Modelle plädieren, die daran zu messen sind, wie sie dem einzelnen Menschen in seiner sittlichen Identität und Verantwortung bzw. durch eine kritische Provokation seiner falschen Einstellungen weiterhelfen.“41

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Eugen Drewermann schließlich lehnt das System der Kardinaltugenden seiner psychoanalytischen Sichtweise wegen vehement ab, die er mit dem augustinisch-lutherischen Dogma der Unfreiheit des Willens verbindet. Er bestätigt das kolportierte Diktum Augustins, die „Tugenden der Heiden“ seien „nichts als glänzende Laster.“42 Wie in der „heidnischen“ Kardinaltugendenlehre die „Erkenntnis wie das Tun des Guten in die menschliche Vernunft“ hineinzulegen habe „die Vorstellung von Gott als dem obersten Gesetzgeber und Hüter der Gerechtigkeit“ zur Folge, was „die Welt der bürgerlichen Gesellschaft ins Unendliche“ überhöhe, „so wie sie deren Repräsentanten auf Thron und Altar mit göttlichem Glanz überstrahlt und mit einer Autorität umgibt, die ihnen natürlicherweise nicht zukommt.“ Es sei darum kein Wunder, „dass sich die Lehre von den Tugenden und Lastern in der Zeit der Renaissance und im Absolutismus des Barocks der größten Beliebtheit erfreute. Die Fürsten diktierten den Gläubigen den Glauben, und die Gläubigen stützten mit ihrem Glauben das Regiment der Herrschenden.“43 Diese Pauschalkonstruktion des damaligen Herrschaftssystems identifiziert Drewermann mit dem Humanismus und setzt diesen in krassen Gegensatz zur Lehre der Reformatoren, die zu Recht herausgestellt hätten, dass der Mensch gerade „nicht frei“ sei, „das Gute zu tun“.44 Darum sei ein Mensch, der Böses tue, auch nicht dafür verantwortlich zu machen, sondern grundsätzlich als seelisch krank anzusehen.45 Mit der reformatorischen Erkenntnis von der vollständigen Unfähigkeit des Menschen zum Guten gehe „die gesamte Tugendlehre einer rein humanistischen Ethik“ zu Ende, „der ethische Optimismus in der Anthropologie“ und damit „jede Form einer bloßen Gesetzesfrömmigkeit.“46

Drewermanns Identifizierung von Humanismus und Absolutismus lässt sich wohl aus dem paradigmatisch gewordenen Urteil der Moderne und Postmoderne verstehen, wonach eine übergreifend normative Ethik notwendig der Aufrechterhaltung und Durchsetzung bestehender gesellschaftlicher Machtstrukturen dient. Als Antidot dagegen wird allenthalben der ethische Relativismus angesehen, der dem Dogma folgt, der „objektive Maßstab“ in ethischen Fragen sei eine Fiktion.47

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Das vorherrschende postmoderne Paradigma der Ethik ist radikal konstruktivistisch.48 Dieser Anschauung zufolge fehlte den überkommenen Formen eines „normativen Einheitskonzeptes“ die Begründung. Die Rationalität als Leitbegriff solcher Konzepte sei ideologisch überhöht worden, stattdessen müsse man sie, wie Andrea Marlen Esser Niklas Luhmanns Sichtweise referiert, auf „eine Form der Systemorganisation“ reduzieren, „in der die Unterscheidung von System und Umwelt im System selbst thematisch wird.“ Jedes System kann demnach Rationalität für sich beanspruchen, sofern es „seine eigene Differenz zur Umwelt in sich“ reflektiert.49 Eine systemübergreifende Rationalität wird davon ausgehend geleugnet.50 „Somit verabschiedet der Radikale Konstruktivismus ‚Rationalität‘ nicht nur als einen Einheitsbegriff, sondern auch als einen Normbegriff “, fasst Esser zusammen.51

1.2.2.Die philosophische Preisgabe der Kardinaltugenden

Man mag mit Anton Hügli den „Verlust der Tugend“52 im 20. Jahrhundert darin begründet sehen, dass durch die Dominanz des deontologischen Ethikverständnisses Kants einerseits und durch die „reine Sollensethik“ des Utilitarismus andererseits das eudämonistische Moment der „Selbstsorge“ verloren ging.53 Die antike Ethik hingegen habe die Pflicht stets unter der Prämisse gesehen, „dass moralisches Verhalten gegenüber den andern letztlich immer auch glücksförderlich und darum im wohlverstandenen Eigeninteresse sei.“54 Die Nachkriegsphilosophie sei nicht in der Lage gewesen, den Faden der Eudaimonie wieder aufzunehmen, weil man aufgrund der Individualisierung des Glücks geglaubt habe, die Praktische Philosophie könne zu dieser Frage nichts Definitives beitragen: jeder sei eben seines eigenen Glückes Schmied.55

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Dass die relativistische Auffassung von „Selbstsorge“ insbesondere im postmodernen Denken der Rückbesinnung auf anthropologisch verbindliche Definitionen des Glücks im Sinne gelingenden Leben entgegensteht, ist evident. Dasselbe gilt für die utilitaristische Nivellierung des individuellen Interesses zugunsten sozioökonomischer Kennzahlen. Ob der Verlust der ethischen Systeme antiker Lebensbejahung aber maßgeblich durch die Lehre vom kantischen Sittengesetz zustande kam, scheint jedoch allenfalls einer entsprechenden Auslegung desselben geschuldet werden zu können. Die Kantrezeption des 19. Jahrhunderts bestätigt das jedenfalls nicht. Erheblichen Einfluss auf die philosophische Disqualifizierung des antiken Paradigmas jener „Selbstsorge“ scheint vielmehr gerade die explizit gegen die kantische „Formalethik“ gerichtete so genannte „Wertethik“ Max Schelers gehabt zu haben. Durch sie wurde der bei Kant und seinen Epigonen zentrale Aspekt der intrinsisch motivierten „Selbstsorge“ in die extrinsische Norm unabhängig von der Selbstbestimmung des Menschen bestehender objektiver Werte verlagert.

1.2.2.1.Schelers „Rehabilitierung der Tugend“

Das Wort „Tugend“ klingt schon seit geraumer Zeit, das ist nicht zu leugnen, „angestaubt und nach erhobenem Zeigefinger“, wie Nida-Rümelin es ausdrückt, obwohl „die Tugenden von größter Bedeutung für ein gelungenes Leben“ sind.56 Max Scheler fand bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dieses Wort müsse zwar unbedingt wieder neu erschlossen werden; „zu anderen Zeiten“ habe es allerdings „ein höchst anmutiges, anlockendes und charmevolles Wesen“ repräsentiert, jedoch sei nunmehr eine „alte, keifende, zahnlose Jungfer“ daraus geworden, und die Schuld dafür trügen die „pathetischen und rührseligen“ Reden der „Dichter, Philosophen und Prediger“ der Aufklärung über sie.57 Schelers Plädoyer für die „Rehabilitierung der Tugend“, wie der Aufsatz heißt, dem das Zitat entstammt, fand auch noch am Ende des Jahrhunderts moraltheologischen Zuspruch. Johannes Gründel teilt Schelers Sicht, wonach seit der Aufklärung die Tugenden, sofern sie „überhaupt noch interessierten, […] zunehmend eine individualistische und gesetzliche Verengung“ erfahren hätten. Dagegen habe sich „vor allem die Kritik von Friedrich Nietzsche“ gerichtet.58 Speziell gegen die Rezeption der Kardinaltugenden in Form der „Übernahme des antiken heidnischen Tugendschemas als Gerüst einer christlichen Ethik“, referiert Gründel Anfang der 90er Jahre zustimmend, würden „auch heute Bedenken angemeldet:

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ein solches Verständnis führt zu einer individualistischen Verengung der Moral und des Personbegriffs, letztlich auch zu einer Verdienst- und Leistungsmoral. Die sittlichen Tugenden bleiben rein innerweltlich, anthropozentrisch, auf den Menschen bezogen; sie werden den vielfachen Möglichkeiten christlichen Lebens und Handelns sowie dem dialogischen und sozialen Charakter menschlichen Lebens nicht hinreichend gerecht. Die Lehre von den Kardinaltugenden kommt darum für eine Gliederung der christlichen Ethik nur begrenzt in Frage.“59

Auch Eugen Biser rekurriert im selben Buch auf Schelers Plädoyer und findet dessen Begründung für den Verlust des Tugendbegriffs „bedenkenswert“.60 Dass der „große Moralkritiker“ Nietzsche nur noch Spott für die kantische Pflichtethik übrig gehabt habe, weil er darin „Fanatismus und kleinbürgerliche Beamtentugend“ witterte, sei zwar der Sache nach falsch gewesen, weil sich „Kants Versuch bei näherem Zusehen als der einzige Weg“ darstelle, „auf dem die Sache der Tugend für eine Zeit, die alles von der intellektuellen und praktischen Leistungskraft des Menschen erwartete, überhaupt noch gerettet werden konnte.“ Sie sei aber eigentlich „gar nicht zu retten“ gewesen, „weil sie in der geistigen Landschaft der Neuzeit einen Fremdkörper, genauer noch einen Anachronismus darstellt.“61

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Schelers Polemik gegen das Tugendverständnis der Aufklärung richtet sich aus seiner eigenen christlichen Perspektive gegen Kants Moralphilosophie wie auch gegen die neostoizistische Ethik.62 Scheler hält die kantische wie stoische Einstellung, das sittlich Gute „auf den absoluten Wert der eigenen moralischen Gesinnung“ zu reduzieren,63 „nach [seinem] christlichen Gefühl“ für „teuflisch“.64 Als verbindliche ethische Maxime definiert Scheler im Gegensatz dazu „das echte ‚Loslassen‘ unseres Selbst und seines Wertes […], zu verzichten auf alle eure inneren vermeintlichen ‚Rechte‘, auf eure ‚Würdigkeiten‘, auf eure ‚Verdienste‘, auf aller Menschen Achtung – am meisten aber auf eure ‚Selbstachtung‘“.65 Darin liege das einzig wahre Tugendpostulat der Demut. Mithin ist Schelers „alte, keifende, zahnlose Jungfer“ nicht etwa durch die Seichtigkeit der bürgerlichen Moralverordnungen charakterisiert, sondern durch das stolze Selbstbewusstsein der moralischen Autonomie, das er mit der Anmaßung des Pharisäismus identifiziert: „Es gibt nur einen Stolz, der teuflisch ist: Das ist der Stolz auf den eigenen moralischen als den höchsten Wert, der Sittenstolz oder das Laster des Engels, der fiel – und den die Pharisäer ewig nachahmen werden.“66 Diese nachgerade dämonisierende Pauschalverurteilung der kantischen und stoischen Ethik ist zwar in christlichen Morallehren nicht wirklich ungewöhnlich, muss aber aufgrund ihres Irrtums grundsätzlich als moralphilosophische Sackgasse betrachtet werden. Weder Kant noch die Stoiker, auch nicht die der Neuzeit, haben die Intrinsität der sittlichen Werte mit pharisäischem Stolz als Eigenprodukt verstanden, sondern ihnen war die Ratio eine apriorisch dem menschlichen Bewusstsein gesetzte innere Nötigung zur Wahrheit, eine Nötigung durch den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“, mit Habermas gesprochen,67 und somit konnten sie Weisheit und Wahrheit, hierin wiederum Sokrates folgend, auch niemals als Besitz, sondern nur als innerlich ←33 | 34→ verpflichtende Idealbestimmung begreifen.68 Kants internales „Sittengesetz“ hat Fichte zu Recht als die identitätsstiftende Instanz des Gewissens ausgelegt, die Bewusstsein und Handeln des Menschen ethisch normiert: „Aus dem Gewissen allein stammt die Wahrheit: Was diesem, und der Möglichkeit, und dem Entschlusse, ihm Folge zu leisten, widerspricht, ist sicher falsch, und es ist keine Überzeugung davon möglich“.69 Nur um diesen einen Punkt gehe es in der Ethik, „auf welchen ich unablässig alles mein Nachdenken zu richten habe: was ich tun solle, und wie ich dieses Gebotene am zweckmäßigsten ausführen könne. Auf mein Tun muß alles mein Denken sich beziehen“.70 Scheler meint in dieser kantischen Praxisbestimmung der Vernunft einen krassen Gegensatz zur Ethik der „großen antiken Väter der europäischen Philosophie“ auszumachen, bei denen die Praxis immer aus der Theorie hervorgegangen sei, was bei ihm heißt: inspiriert durch objektiv erkannte Werte.71 Tatsächlich ist aber nach Fichte wie nach Kant die „Stimme des Gewissens, die jedem seine besondere Pflicht auflegt, […] der Strahl, an welchem wir aus dem Unendlichen ausgehen, und als einzelne, und besondere Wesen hingestellt werden; sie zieht die Grenzen unserer Persönlichkeit; sie ist also unser wahrer Urbestandteil“.72 Das „Ich“ ist bei Fichte wie auch schon bei Kant nur insofern „absolut“ und als solches autonom, als es dem Wahrheitsanspruch seines Gewissens unmittelbar und unabdingbar verpflichtet ist.73 Absolut ist das „Ich“ für Fichte „nicht ‚von sich, in sich, durch sich‘, wie Fichte Gott beschreibt“, sondern nur, „insofern es das Wissen begründet.“74

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Stolz auf die Stimme des eigenen Gewissens zu sein, als sei es Eigenprodukt und Besitz, das wäre schon eine seltsame Attitüde. Kant, den kantischen Idealisten und den Stoikern dergleichen zu unterstellen, zeugt, das darf pauschal so geantwortet werden, von einem bemerkenswerten Missverständnis.

Schelers Plädoyer für die Rehabilitierung der Tugend impliziert also die Dämonisierung der epistemologischen Begründung des platonisch-thomistischen Systems der Kardinaltugenden. Er stellt dieser die Heteronomie des in der Religion dem Menschen external verordneten göttlichen Gebots entgegen.75 Das verbindet sich bei Scheler mit dem Ethos der Selbstverachtung, das recht gut etwa zu jenem „Leitfaden für den aszetischen Unterricht in Schwesterngenossenschaften“ zu passen scheint, wie auch mit einer Kontrastierung von Christentum und Demokratie76, begründet durch die Behauptung, das aus dem Stoizismus überkommene Postulat der Gleichheit aller Menschen sei unchristlich, denn vor Gott seien die Menschen höchst ungleich,77 was auch beinhalte, dass unter der christlichen Liebe etwas völlig anderes verstanden werden müsse als die „moderne Menschenliebe.“78 Mithin ist die so genannte „philosophische Anthropologie“ Schelers79 ein explizit antihumanistischer Ansatz,80 den er nicht wie behauptet aus philosophischen, sondern aus theologischen Prämissen herleitet.

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Scheler setzt diesem pharisäischen „sittlichen Stolz“ also „die Tugend der Demut entgegen,“ resümiert Berthold Wald, „womit eine Haltung benannt werden soll, die das Gute nicht in sich selbst, sondern in der Anerkennung dessen findet, was als das Gut des Menschen […] objektiv vorgegeben ist und woran sich die moralische Gesinnung auszurichten hat, um gut zu sein.“81 Scheler entfaltet das unter dem Begriff seiner „materialen Wertethik“, die Nicolai Hartmann mit seiner 1926 erschienen „Ethik“82 wiederum für sein eigenes tugendethisches Modell rezipiert hat. Hartmanns objektives „Reich der Werte“ subsumiert das System der klassischen Kardinaltugenden.83 Wald zufolge entsteht durch diese Rezeption die „Objektivierung der Tugenden zu Sachverhaltswerten“.84 Die Kriterien seiner Tugendauswahl entnehme Hartmann der Bestandsaufnahme dessen, „was das Wertbewußtsein der Zeitalter herausgearbeitet und einigermaßen faßbar gemacht hat.“85 Das führe aber, so Wald, „unvermeidlich zu einer Zersplitterung sittlicher Grundhaltungen, die einer Vielzahl von sittlichen Werten entsprechen sollen“.86 Die „Spannung zwischen dem absoluten Geltungsanspruch materialer Werte und der geschichtlichen Bedingtheit von Tugendwerten“ kennzeichne dann auch einige der weiteren Rehabilitierungsversuche der Tugendethik.87

1.2.2.2.Nicolai Hartmanns Rezeption der Wertethik Schelers

Details

Seiten
486
Erscheinungsjahr
2021
ISBN (PDF)
9783631855973
ISBN (ePUB)
9783631855980
ISBN (MOBI)
9783631855997
ISBN (Hardcover)
9783631853290
DOI
10.3726/b18474
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Gesundheitspsychologie Tugendethik Positive Psychologie Philosophie der Psychologie Humanismus Dialektik Theologische Tugenden Lebenskunst Lebensbewältigung Idealismus
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 486 S., 7 s/w Abb., 6 Tab.

Biographische Angaben

Hans-Arved Willberg (Autor:in)

Hans-Arved Willberg ist promovierter Sozial- und Verhaltenswissenschaftler, Philosoph und Theologe in Ettlingen bei Karlsruhe. Er arbeitet selbständig als Coach, Leiter des Instituts für Seelsorgeausbildung (ISA) und Autor. Bislang sind mehr als 30 Fachbücher, Sachbücher und Ratgeber aus seiner Feder erschienen.

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Titel: Philosophie der Lebensbejahung