Hans Albert und der Kritische Rationalismus
Festschrift zum 100. Geburtstag von Hans Albert
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titelseite
- Impressum
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort
- Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung: Zur Aktualität der Philosophie Hans Alberts Volker Gadenne und Reinhard Neck
- 1.1 Hans Albert, Philosoph des Kritischen Rationalismus
- 1.2 Übersicht zu den Beiträgen
- 2. Die drei Wahrheiten und das Korrespondenzproblem. Hans Alberts Komparativismus versus Karl Poppers Wahrheitsabsolutismus
- 2.1 Vorbemerkungen
- 2.2 Wahrheitssuche bei Karl Popper, Hans Albert und den Naturwissenschaftlern
- 2.2.1 Poppers emphatische Wahrheit
- 2.2.2 Alberts sparsamer Umgang mit Wahrheit
- 2.3 Das alte und das neue Korrespondenzproblem
- 2.3.1 Tarskis Korrespondenztheorie: die einfache Seite
- 2.3.2 Zwei Hilfsmittel: Poppers drei Welten und Welt-1-Klammern
- 2.3.3 Tarskis Korrespondenztheorie: die komplizierte Seite
- 2.3.4 Jenseits von ‘wahr’ und ‘falsch’
- 2.3.5 Die Zweideutigkeit der Tarskischen Objektsprache
- 2.3.6 Poppers Uminterpretation der Tarski-Definition zugunsten des Realismus
- 2.3.7 Die ‘erweiterte Korrespondenztheorie’
- 2.4 Drei Wahrheiten – drei Ungleichungen
- 2.4.1 Poppers emphatische Wahrheit wird hier nicht diskutiert
- 2.4.2 Die drei Wahrheiten
- 2.4.3 Keine der drei Wahrheiten kann die andere ersetzen
- 2.4.4 Poppers rehabilitierte Wahrheit ist mehr als eine bloße Definition
- 2.5 Weder wissentlicher noch unwissentlicher Wahrheitsbesitz ist möglich
- 2.5.1 Poppers Gedankenexperiment, ohne d-Wahrheit auszukommen
- 2.5.2 Wahrheitsbesitz unwissentlich erreichbar?
- 2.5.3 Wahrheit gibt es nur in der sprachlichen Welt
- 2.5.4 Wissen via Versuch und Irrtum kann nie Wahrheit als Übereinstimmung von Worten und <Tatsachen> sein
- 2.5.5 Unzählige Theorien passen auf dieselben Daten
- 2.5.6 Die Unmöglichkeit einer wahren strukturellen Übereinstimmung
- 2.5.7 Wahrheit als regulative Idee?
- 2.6 Die Verwechslung von Wahrheit und Wirklichkeit
- 2.6.1 Aristoteles‘ Konfusion von logischer Wahrheit und Übereinstimmungswahrheit
- 2.6.2 Ein wahrer Kürbis, das wahre Geschehen
- 2.6.3 Die wahren Werte in den Naturwissenschaften
- 2.6.4 Die traditionelle Verwechslung von Wahrheit und Wirklichkeit
- 2.6.5 Die Verwechslung von Tatsachen mit <Tatsachen>
- 2.7 Von Poppers Wahrheitsabsolutismus zu Alberts Komparativismus
- 2.7.1 Graduelle Wahrheitsähnlichkeit als Ersatz für die nicht-graduelle Wahrheit
- 2.7.2 Die Kriterien der Wahrheitsähnlichkeit sind die der zutreffenden Darstellung der Wirklichkeit
- 2.7.3 Wahrheit und Wahrheitsähnlichkeit: zwei irreführende Definitionen
- 2.7.4 Alberts Komparativismus versus Poppers absolute Wahrheit
- 2.7.5 Die Ziele der Wissenschaft
- 2.8 Schlussbemerkung
- 2.9 Literatur
- 3. Das Münchhausen-Trilemma und das Problem der Begründung im kritischen Rationalismus
- 3.1 Einleitung
- 3.2 Das Trilemma
- 3.3 Das Prinzip der Kritik und der kritische Rationalismus
- 3.4 Kritik am Münchhausen-Trilemma
- 3.5 Kritische Prüfung, Bewährung und die Akzeptanz von Theorien
- 3.6 Das Münchhausen-Trilemma und das Problem der Begründung
- 3.7 Literatur
- 4. Beschreiben
- 4.1 Alles Erkennen ist Beschreiben
- 4.2 Der Verlust des Irrtums
- 4.3 Der Irrtum beruht auf der Möglichkeit einer falschen Subsumtion
- 4.4 Nicht jede Beschreibung ist auch eine Erkenntnis
- 4.5 Die Theoriehaltigkeit der Beobachtung
- 4.6 Sprachwissen und theoretisches Wissen
- 4.7 Theorieneutrale Beschreibungen
- 4.8 Literatur
- 5. Deductivism within the Law
- 5.1 Preamble
- 5.2 Critical rationalism
- 5.3 Legal Argument
- 5.4 Probability in the law
- 5.5 Degrees of deductive validity
- 5.6 Probability and contraprobability further contrasted
- 5.7 Contraprobability in the law
- 5.8 Conclusion
- 5.9 References
- 6. Kumulative Erkenntnis in einer realistischen Soziologie
- 6.1 Einleitung
- 6.2 Grundprinzipien des Realismus in der kritisch-rationalen Tradition
- 6.3 Beobachtbare und nicht-beobachtbare Aspekte von Theorien: empirische und theoretische Gesetze
- 6.4 Stufe I der Wahrheitsannäherung: empirische Adäquatheit
- 6.5 Stufe II der Wahrheitsannäherung: taxonomische Korrektheit
- 6.6 Stufe III der Wahrheitsannäherung: Referenzialität
- 6.7 Stufe IV der Wahrheitsannäherung: Wahrheit
- 6.8 Der kumulative Aspekt: die Beibehaltungsbedingung
- 6.9 Der Eigenwert theoretischer Erkenntnis: über die „erklärende Soziologie“ hinaus
- 6.10 Der explanative Aspekt: das Wunder-Argument
- 6.11 Schlussbemerkung: Kumulative Erkenntnis als graduelle Annäherung an die Wahrheit
- 6.12 Literatur
- 7. Der Subjektivismus in der Kritischen Theorie
- 7.1 Fragestellung
- 7.2 Explikation und Entscheidung
- 7.3 Habermas‘ Auseinandersetzung mit dem „Objektivismus“
- 7.4 Habermas‘ Wahrheitsbegriff
- 7.5 Habermas‘ Subjektivismus
- 7.6 Nachbemerkung
- 7.7 Literatur
- 8. Zunehmende Erkenntnisse durch Analysen von falschen Ergebnissen
- 8.1 Welche Eigenschaften besitzen falsche Theorien, die unser Verständnis von Erklärungsproblemen vertiefen?
- 8.2 Beispiele von Alberts fortschrittlichen, aber problematischen Theorien
- 8.3 Die Theorie der Wahrheitsnähe
- 9. Gemeinsame Standpunkte zwischen Albert und Gadamer? Eine kritische Würdigung im Lichte ihres Briefwechsels
- 9.1 Einleitung
- 9.2 Alberts Anerkennung von Ähnlichkeiten mit Gadamers Hermeneutik
- 9.3 Annährungsversuche und Kritiken aus dem Briefwechsel
- 9.4 Die Rolle von Vorurteilen und Hintergrundwissen bei Popper
- 9.5 Revision von Vorurteilen und Tatsachen als hermeneutischer Begriff bei Gadamer
- 9.6 Zirkel des Verstehens und die Methode von Vermutung und Widerlegung
- 9.7 Kritisierbarkeit und Erkenntnisleistung der Überlieferungen bei Gadamer
- 9.8 Poppers kritisch-rationale Theorie der Tradition
- 9.9 Schlussbemerkungen
- 9.10 Literatur
- 10. Hans Alberts innovative Version des kritischen Rationalismus. Sozialtheorie jenseits von „konservativer Starrheit“, „Konsensus-Euphorie“ und „revolutionärer Begeisterung“
- 10.1 Alberts Philosophie des radikalen Kritizismus, konsequenten Fallibilismus und kritischen Realismus
- 10.2 Wider den Obskurantismus: Alberts Fundamentalkritik an Heidegger
- 10.3 Wider die „Konsensus-Euphorie“: Alberts Fundamentalkritik an Habermas
- 10.4 Kulturelles Kapital und rationale Praxis durch Aufklärung und Steuerung: zur Überlegenheit des demokratischen Fallibilismus im okzidentalen Gesellschaftstypus
- 10.5 Literatur
- 11. Der Anfang der Kopernikanischen Revolution
- 11.1 Die Herausforderung
- 11.2 Das Problem der Bewegung der Planeten
- 11.3 Prüfung und Falsifikation von Theorien
- 11.4 Turmexperiment
- 11.5 Die Theorienabhängigkeit der Erfahrung und Inkommensurabilität
- 11.6 Zusammenfassung
- 11.7 Literatur
- 12. Kreativität, Fantasie und geistige Offenheit im Kontext des Kritischen Rationalismus
- 12.1 Zur Idee der kritischen Prüfung: Konstruktion und Kritik
- 12.2 Kreativität in Alltag, Wissenschaft und Kunst
- 12.3 Zur Analyse von Kreativität
- 12.4 Kreativitätsbefördernde und -hemmende Faktoren
- 12.5 Kreativität und Gesellschaft: Zur Bedeutung des rechtlichen Rahmens
- 12.6 Literatur
- 13. Notizen über Hans Alberts Beziehung zu Ernst Topitsch
- 13.1 Notizen zur Biographie
- 13.2 Notizen zu fachlichen Konvergenzen zwischen Albert und Topitsch
- 13.2.1 Übereinstimmungen im Philosophieverständnis
- 13.2.2 Das gemeinsame Wissenschaftsverständnis
- 13.2.3 Aufklärungsethos und Ideologiekritik
- 13.2.4 Die Begriffe der „Immunisierungsstrategie” und des „Alternativ-Radikalismus”
- 13.3 Literatur
- 14. Entscheidung anhand von Erkenntnis
- 14.1 Fallibilismus und rationaler Kritizismus
- 14.2 Die Rolle des kritischen Realismus
- 14.3 Rationales Handeln und rationale Kritik
- 14.4 Kognitive Ethiken?
- 14.5 Politische Entscheidungen
- 14.6 Optionen des rationalen Kritizisten
- 14.7 Literatur
- 15. Hans Alberts Kritische Theorie
- 15.1 Einleitung
- 15.2 Hypothetische Imperative
- 15.3 Kritisch realistische Entscheidungspraxis
- 15.3.1 Technologien und Anweisungen
- 15.3.2 Der kritische Realismus im „Grundmodell der Entscheidung“
- 15.3.3 Als kritischer Realist aktiv entscheiden
- 15.4 Politische Signifikanz von Hans Alberts kritischer Theorie
- 15.5 Literatur
- 16. Robustheit und Approximation in der Ökonomie
- 16.1 Unrealistische Annahmen und Modellplatonismus
- 16.2 Theorie und Modell
- 16.3 Robustheit und die Methode der abnehmenden Abstraktion
- 16.4 Robustheitsvermutungen und ihre Überprüfung
- 16.5 Robustheit in der ökonomischen Forschung
- 16.6 Literatur
- 17. Das Problem der Wertfreiheit bei Max Weber und Hans Albert
- 17.1 Problemstellung
- 17.2 Max Webers Analyse des Problems der Wertfreiheit
- 17.2.1 Die Vorgeschichte
- 17.2.2 Webers wichtigste Argumente
- 17.3 Hans Alberts Analyse des Problems der Wertfreiheit
- 17.3.1 Albert (1956/1967)
- 17.3.2 Albert (1960)
- 17.3.3 Albert (1963/1984)
- 17.3.4 Albert (1966/1971)
- 17.3.5 Albert (1968/2001)
- 17.3.6 Albert (1970/2000)
- 17.3.7 Albert (1978)
- 17.3.8 Albert (2006)
- 17.4 Fazit: Wertfreiheit im Kritischen Rationalismus
- 17.5 Literatur
- 18. Ideologiekritik vs. Ideologiekritik. Rückblick auf eine missverständliche Kontroverse
- 18.1 Vorbemerkung
- 18.2 Ideologiekritik als Aufklärung
- 18.3 Formen der Ideologiekritik
- 18.4 Ideologiekritik als Erkenntniskritik
- 18.5 Ideologiekritik als politisch-moralische Kritik
- 18.5.1 Exkurs: Theorie als Kritik
- 18.5.2 Erfahrungswissenschaft als Ideologie
- 18.6 Fazit
- 18.7 Literatur
- 19. Objektive Praxis ganz ohne Brücken
- 19.1 Einleitung
- 19.2 Brücken zur Praxis
- 19.3 Wahrheit und Objektivität bei Popper
- 19.4 Ausblick
- 19.5 Literatur
- 20. Wann begann und wann endet der europäische Kapitalismus?.......
- 20.1 Vorbemerkungen
- 20.2 Der antike oder mittelalterliche ‚Kapitalismus‘
- 20.3 Der Merkantilismus als neuer Kapitalismus
- 20.4 Die Industrialisierung als ökonomischer und gesellschaftlicher Kapitalismus............................................................................................
- 20.5 Die marxistische Untergangstheorie des Kapitalismus
- 20.6 Das Ende des Kapitalismus im 21. Jahrhundert
- 20.7 Ausblick
- 20.8 Literatur
- Autorenverzeichnis
Kapitel 1
Einleitung: Zur Aktualität der Philosophie Hans Alberts
Volker Gadenne und Reinhard Neck
1.1Hans Albert, Philosoph des Kritischen Rationalismus
Am 8. Februar 2021 wird Hans Albert 100 Jahre alt. Freunde, Schüler und Kollegen haben dies zum Anlass genommen, ihm einen Sammelband zu widmen, in dem sie sich mit seiner Philosophie und seinen Werken auseinandersetzen.
Albert gehört zu den bedeutendsten Vertretern des Kritischen Rationalismus. Von Karl Popper übernahm er die Lehre von der Fehlbarkeit der Vernunft. Danach gibt es keine absolut sicheren Begründungen. Jeder Anspruch auf Gewissheit des eigenen Standpunktes muss daher als Dogmatismus oder Fundamentalismus abgelehnt werden. Berühmt ist in diesem Zusammenhang sein Münchhausen-Trilemma: Wer für alles eine sichere Begründung verlangt, muss entweder mit dem Begründen endlos fortfahren oder einen Begründungs-Zirkel begehen oder irgendeine Annahme zum Dogma erheben.
Dies darf allerdings nicht als Skeptizismus oder Relativismus missverstanden werden. Es gibt rationale Erkenntnis: Sie besteht in den bewährten Theorien, die der kritischen Prüfung standgehalten haben und die daher vorläufig beibehalten werden können.
Alberts Traktat über kritische Vernunft aus dem Jahre 1968 stellt seine erste große Synthese zum Kritischen Rationalismus dar und trug seinem Autor rasch weite Anerkennung ein. In seinen weiteren Werken ging es ihm aber nicht nur um Probleme der Erkenntnis, sondern auch um die Anwendung seiner Philosophie auf praktische Fragen, wie Wohlstandssteigerung, Friedenssicherung sowie Erhalt von Gerechtigkeit und individueller Freiheit. Hierzu veröffentlichte er 1978 seinen Traktat über rationale Praxis.
Albert hat die Lehre Poppers systematisiert, weiterentwickelt und auf die verschiedensten Arten menschlicher Praxis angewendet, von der Praxis der Erkenntnis bis hin zu Moral und Politik. Seine Anwendungen und kritischen Analysen beziehen, mehr als diejenigen Poppers und der meisten Wissenschaftsphilosophen, auch die Geistes- und Sozialwissenschaften mit ein sowie die Ökonomie, die Rechtswissenschaft und die Theologie. Wie man bis heute feststellen kann, hat Albert das Denken in diesen Disziplinen wesentlich beeinflusst ←17 | 18→und ihr Selbstverständnis in methodologischen Fragen teilweise verändert. Dies ist eines seiner großen Verdienste.
Weithin bekannt wurde Albert auch durch seine Beteiligung an dem sogenannten Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, in dem der Kritische Rationalismus und die Kritische Theorie der Frankfurter Schule einander gegenüberstanden. In einer Zeit, als die Intellektuellen in Europa stark von der neomarxistischen Ideologie beeinflusst waren, stand Albert für eine auf Vernunft gegründete Gegenposition, die er mit großer Überzeugungskraft und mit Erfolg verteidigte.
Albert ist immer wieder und mit Recht als der wichtigste Vertreter des Kritischen Rationalismus im deutschen Sprachraum gewürdigt worden. Viel zu selten wird aber darauf hingewiesen, dass er den Kritischen Rationalismus nicht nur bekannt gemacht und auf viele Gebiete angewendet, sondern auch modifiziert und weiterentwickelt hat. Albert verzichtet z.B. auf ein Abgrenzungskriterium, da er Grenzziehungen für wenig fruchtbar hält. Er klärte die Frage nach dem den Status der Methodologie, die von Popper nicht ganz zufriedenstellend beantwortet worden ist. Und er hob die von Popper für wichtig erachtete Trennung zwischen dem Kontext der Entdeckung und dem der Geltung auf: Entdeckung und Prüfung von Theorien greifen ineinander, und methodologische Regeln beziehen sich nicht nur auf Geltungsfragen, sondern haben auch eine Entdeckungsfunktion.
Seit den 1980er Jahren widmet sich Albert auch dem Kampf gegen den aufkommenden Relativismus und gegen die „postmoderne Beliebigkeit“. Der Kritische Rationalismus hält diesem Relativismus entgegen, dass menschliche Problemlösungen zwar fehlbar sind, jedoch sehr wohl rational diskutiert und bewertet werden können, sodass es stets vernünftige Gründe gibt, eine Theorie einer anderen bzw. eine Technologie einer anderen vorzuziehen.
Im neuen Jahrhundert hat Alberts Kritischer Rationalismus nichts an Bedeutung und Aktualität verloren. Er ist nach wie vor die wichtigste Position gegen jede Art von Fundamentalismus, wie er heute in mehreren gesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen anzutreffen ist. Viele der in den Medien derzeit diskutierten Fragen, z.B. unter den Stichworten „Fake News“ oder „alternative Tatsachen“, können nur adäquat analysiert und beantwortet werden, wenn man sich zuvor darüber Klarheit verschafft, welche Idee von Wahrheit mit überzeugenden Argumenten verteidigt werden kann und unter welchen Bedingungen es als rational gelten kann, eine Tatsachenaussage zu verwerfen oder sie vorläufig zu akzeptieren bzw. alternativen Tatsachenaussagen vorzuziehen. Und im Verlauf der Diskussionen über die Corona-Pandemie seit einem Jahr ist man in den Medien und der politischen Öffentlichkeit zunehmend auf einen Punkt aufmerksam geworden, der auch heute noch vielen Menschen nicht als Selbstverständlichkeit gilt: Wissenschaft kann sich irren, selbst dann, wenn sie vorbildlich, nach bestem Wissen und methodisch korrekt durchgeführt wird.
←18 | 19→Die in diesem Band versammelten Autoren haben sich zum Ziel gesetzt, Themen zu behandeln, die in Hans Alberts Werk eine wichtige Rolle spielen. Es geht ihnen aber keineswegs in erster Linie darum, die Ergebnisse von Alberts Schaffen ein weiteres Mal der Öffentlichkeit darzulegen. Vielmehr sollen seine Gedanken weitergeführt, angewendet und nicht zuletzt auch kritisch beleuchtet werden.
1.2Übersicht zu den Beiträgen
Hans-Joachim Niemann befasst sich in seinem Beitrag mit der Idee der Wahrheit als einer Korrespondenz und mit der Rolle, die diese Idee spielt, insbesondere in der Erkenntnistheorie und den Naturwissenschaften. Niemann unterscheidet drei Arten von Wahrheit, deren Verwechslung zu Problemen führt, die sich auch in Teilen von Poppers Werken finden. Das Ziel der Wissenschaft ist nach Niemann nicht die Wahrheit, auch nicht als regulative Idee oder als Wahrheitsähnlichkeit. Es ist vielmehr, wie Albert lehrt, die Darstellung der Wirklichkeit durch immer zutreffendere Theorien.
Im Zusammenhang mit seinem Münchhausen-Trilemma argumentiert Albert dafür, die Forderung nach sicherer Begründung aufzugeben und durch das Prinzip der kritischen Prüfung zu ersetzen. Doch benötigt nicht auch der Kritische Rationalismus Begründungen, wenn auch solche, die mit dem Fallibilismus vereinbar sind? Volker Gadenne zeigt in seinem Beitrag, dass sich kritische Rationalisten in dieser Frage uneinig sind. Während einige jegliches Begründungsdenken verwerfen, plädieren andere für ein Prinzip, das es erlaubt, eine hoch bewährte Annahme ihren konkurrierenden Annahmen unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit vorzuziehen. Einige Stellen in Alberts Texten sprechen dafür, dass er die letztgenannte Position vertritt.
Beschreibungen sind für die Erkenntnis von zentraler Bedeutung. Stimmt es, dass Beschreibungen die Erfahrung stets transzendieren? Sind sie grundsätzlich theorieabhängig? Mit dieser Problematik befasst sich Hans Jürgen Wendel. Er beginnt seine Überlegungen mit thematisch relevanten Ausführungen von Moritz Schlick und berücksichtigt im Weiteren sowohl die Ergebnisse der analytischen Wissenschaftstheorie wie auch die Einsichten der „kritisch revidierten Phänomenologie“, wie sie von Hermann Schmitz vertreten wird. Wendel untersucht eingehend, wie sich Erkenntnis auf die Begriffsbildung auswirkt, und er unterscheidet zwischen dem zu einer bestimmten Zeit gegebenen Erläuterungswissen und dem zugleich existierenden theoretischen Wissen. Auf dieser Grundlage zeigt er, dass ein Verständnis von Beobachtungsberichten möglich ist, nach dem diese „ohne Probleme als unabhängig von Theorien bezeichnet werden können.“
Der Kritische Rationalismus hat die erkenntnistheoretischen Probleme der Rechtswissenschaft weitgehend vernachlässigt. Welchen Status haben in dieser ←19 | 20→Wissenschaft Evidenz und Argument? Nach David Miller gibt der Kritische Rationalismus jegliche Rechtfertigungsprinzipien auf. Wie ist eine solche Auffassung mit der in westlichen Rechtssystemen für zentral gehaltenen Forderung nach Beweisen (proof) vereinbar? Miller entwirft eine deduktivistische Antwort auf diese Frage. Es ist dabei nicht sein Ziel, eine vollständige Explikation der juristischen Begriffe „proof beyond reasonable doubt“ und „proof on the balance of probability“ zu geben. Doch möchte er in seinem Beitrag zeigen, dass jedenfalls die Wahrscheinlichkeitstheorie nicht in der Lage ist, diesen beiden Ideen auf überzeugende Weise Rechnung zu tragen.
Gert Albert diskutiert das Problem, wie sich in der Soziologie die Idee kumulativer Erkenntnis explizieren lässt. Entgegen der in der Soziologie überwiegend vertretenen instrumentalistischen Position schlägt er einen Ansatz auf realistischer Grundlage vor. Der kumulative Aspekt wird dabei erfasst, indem fünf Stufen der Wahrheitsannäherung unterschieden werden. Albert illustriert seinen Ansatz am Beispiel von Handlungstheorien.
Gegenstand von Erwin Tegtmeiers Untersuchung ist das Wahrheits- und Wissenschaftsverständnis in der Kritischen Theorie. Er konzentriert sich dabei auf Schriften von Habermas aus der Zeit, bevor dieser seine Konsenstheorie der Wahrheit entwickelt hatte. Habermas kritisierte die Korrespondenzexplikation der Wahrheit und den mit ihr verbundenen Objektivismus. Er selbst vertrat eine pragmatische Wahrheitskonzeption, die Wahrheit durch den Bezug auf den Fortschritt des individuellen und kollektiven Erkenntnissubjekts definiert und ein subjektivistisches Entscheidungsverfahren vorsieht, das der Erfahrung des Gelingens und der Befreiung Selbstevidenz beimisst. Tegtmeier argumentiert, dass Habermas’ Kritik am Objektivismus nicht zu überzeugen vermag und dass sein Subjektivismus irrationalistisch ist.
John Wettersten beginnt seine Überlegungen mit einer Kritik an Poppers Versuchen, Wahrheitsnähe zu definieren. Als Alternative schlägt er vor, die Annäherung an die Wahrheit so zu verstehen, dass die jeweils neuen Auffassungen, selbst wenn sie falsch sein sollten, zu einem tieferen Verständnis von neuen Erklärungsproblemen führen. Auf dieser Grundlage diskutiert er anschließend einige Theorien Alberts, die er als problematisch beurteilt, von denen er aber zeigt, dass sie nichtsdestoweniger zu einem tieferen Verständnis von Erklärungsproblemen verholfen und uns dadurch der Wahrheit nähergebracht haben.
Giuseppe Franco befasst sich mit dem Verhältnis zwischen dem Kritischen Rationalismus und der Hermeneutik Gadamers. Er berücksichtigt bei seiner Analyse neben Aussagen Poppers vor allem den Briefwechsel zwischen Albert und Gadamer. Franco vermag zu zeigen, dass zwischen dem Kritischen Rationalismus und der Hermeneutik trotz einiger divergierender Aspekte bemerkenswerte ←20 | 21→Gemeinsamkeiten bestehen, die vor allem die Rolle von Vorverständnissen, Vorurteilen und Traditionen betreffen.
Alberts Sozial- und Kulturtheorie sowie seine politische Philosophie sind Gegenstand von Kapitel 10. Arpad-Andreas Sölter legt Alberts Auffassung einer rationalen Praxis dar, die in der Tradition der Aufklärung steht und sich gegen jeglichen Fundamentalismus, gegen totalitäre Ordnungen und geschlossene Gesellschaftsformen richtet. Sölter lässt die Hauptzüge von Alberts Philosophie dadurch besonders deutlich werden, dass er sie zum einen der von Heidegger, zum anderen der von Habermas gegenüberstellt. Alberts scharfe Kritik an diesen beiden „Antipoden“ kommt zur Sprache, und es wird aufgezeigt, dass Heidegger und Habermas, trotz beträchtlicher Unterschiede, gewisse problematische Auffassungen teilen, die auf ihrer kulturkritischen Perspektive beruhen.
Ein Falsifikationismus, der nur die Prüfung einzelner Hypothesen behandelt, wird durch bestimmte Einwände von Kuhn und Feyerabend getroffen. Ein Falsifikationismus, der die Prüfung ganzer theoretischer Systeme vorsieht, kann diese Einwände dagegen zurückweisen. Gunnar Andersson stellt einen solchen umfassenden Falsifikationismus dar und zeigt, dass man mit seiner Hilfe ein besseres Verständnis für die Wissenschaftsgeschichte gewinnen kann. Er demonstriert dies am Beispiel der Kopernikanischen Revolution.
Mit der Bedeutung von Kreativität und Fantasie im Kritischen Rationalismus befasst sich Eric Hilgendorf, wobei er insbesondere auch die Rechtswissenschaft berücksichtigt. Wenn sich Problemlösung nach dem Modell von Konstruktion und Kritik vollzieht, so ist klar, dass Problemlösungen ausgedacht und vorgeschlagen werden müssen, was Fantasie und eine schöpferische Tätigkeit voraussetzt. Hilgendorf stellt dar, welche Faktoren nach dem derzeitigen Forschungsstand die Fähigkeit zum Problemlösen fördern bzw. behindern. Hierzu gehören neben psychologischen Faktoren ein kreatives kulturelles und politisches Umfeld, wie es in einer offenen Gesellschaft angestrebt wird, und nicht zuletzt auch rechtliche Rahmenbedingungen, die den Austausch von Ideen begünstigen.
Kurt Salamun setzt sich in seinem Beitrag mit einem bedeutsamen Ausschnitt von Hans Alberts Lebensgeschichte auseinander, nämlich mit seiner Beziehung zu Ernst Topitsch, mit dem Albert in Gesprächen sowie in Briefen einen regen Gedankenaustausch führte. Sie waren zwar nicht in allen Fragen einer Auffassung, z.B. teilte Topitsch nicht Poppers und Alberts kritisch-ablehnende Haltung gegenüber dem Neopositivismus. Doch gab es, wie Salamun aufzeigt, Übereinstimmungen in zentralen Fragen. Zum Beispiel waren beide durch die Aufklärungsidee geprägt und beiden war die Ideologiekritik ein großes Anliegen.
Wir treffen ständig Entscheidungen, nicht nur in alltäglichen Angelegenheiten und bei moralischen Fragen, sondern, wie Albert betont, auch in der Erkenntnis. Aus ←21 | 22→der Sicht des rationalen Kritizismus sind alle Annahmen und Entscheidungen fehlbar. Wann entscheidet ein Kritizist unter dieser Voraussetzung rational? Dieser Problematik widmet sich Herbert Keuth. Er unterscheidet die Rationalität von Argumenten und die Zweckrationalität von Handlungen. Beide erläutert er zunächst anhand von Beispielen aus dem zivilen Bereich. Anschließend analysiert er eine Reihe von politischen Themen, unter anderem auch die mit dem Virus SARS-CoV-2 verbundene Problematik. Er zeigt auf, wie schwierig es ist, in komplexen Problemsituationen zu einheitlichen Entscheidungen darüber zu gelangen, was jeweils rational bzw. zweckrational ist.
Hans Alberts einflussreichstes Buch ist wohl sein Traktat über kritische Vernunft. Damit setzt sich Hartmut Kliemt auseinander, insbesondere mit Alberts Technologiekonzeption und deren Implikationen. Letzterer kommt nach Kliemt eine Schlüsselrolle zu. Er fasst Alberts Traktat selbst als eine Technologie auf, die die kritisch-rationale Praxis auf der Grundlage von Hypothesen über Problemlösungsmechanismen beschreibt. Im Licht des Traktats erscheint Kliemt die Idee einer Ethik als ein System hypothetisch begründeter Imperative problematisch. In diesem Sinne sei Alberts Auffassung eine kritische Theorie.
Ausgehend von Hans Alberts Kritik am Modellplatonismus untersucht Max Albert die Logik der empirischen Prüfung ökonomischer Modelle, wobei er insbesondere auf die Problematik der unrealistischen Annahmen eingeht. Als wichtig für eine Lösung erweist sich, innerhalb der Modelle zwischen Gesetzeshypothesen und Situationsbeschreibungen zu unterscheiden. Der auf dieser Grundlage erarbeitete Lösungsvorschlag macht von der Idee der Robustheit von Annahmen Gebrauch. Max Albert führt eine stärkere Definition von Robustheit ein, die zur Folge hat, dass Robustheit prüfbar ist. Er erörtert an Beispielen, wie sich auf diese Weise ein überzeugendes Bild von der ökonomischen Forschung ergibt.
Reinhard Neck befasst sich in seinem Beitrag mit der Werturteilsproblematik, wobei er vor allem das Ziel verfolgt, einige Missverständnisse und Fehlurteile zu korrigieren, die man zu diesem Thema bis heute vorfindet. Im Zentrum seiner Analyse stehen die beiden wichtigsten Vertreter einer wertfreien Wissenschaft, Max Weber und Hans Albert. Neck stellt zunächst die Vorgeschichte des Problems und die Position Max Webers im Detail dar. Anschließend zeichnet er die Argumentation von Hans Albert nach, die durch mehrfache Selbstkritik und stetige Weiterentwicklung gekennzeichnet ist, eine Entwicklung, die Neck mit den Worten charakterisiert: „Von der logischen und methodologischen Analyse zum Lebensentwurf eines Kritischen Rationalismus“.
Dem Thema Ideologiekritik ist der Beitrag von Evelyn Gröbl-Steinbach Schuster gewidmet. Ausgehend vom Positivismusstreit stellt sie zwei Formen der Ideologiekritik einander gegenüber, die zum einen von Hans Albert, zum anderen von der Kritischen Theorie vertreten wurden, für die Jürgen Habermas sprach. ←22 | 23→Beide haben eine aufklärerische Zielsetzung. Während jedoch Alberts Ideologiekritik das kognitive Ziel verfolgt, Aberglaube und Pseudowissen durch die kritisch-rationale Einstellung zu ersetzen, ist die Kritische Theorie darauf ausgerichtet, die sozialen Akteure dazu zu bringen, die moralische Falschheit der kapitalistischen Verhältnisse einzusehen. Habermas’ Position kann man allerdings vorwerfen, dass sie paternalistisch und utopistisch ist, während Alberts Ideologiekritik die sozialen Akteure nicht bevormundet.
Um auch Werturteile der Kritik zugänglich zu machen, schlägt Albert Brückenprinzipien vor, z.B. das vielzitierte „Sollen impliziert Können“. Aber werden Brückenprinzipien wirklich benötigt? Peter Monnerjahn bezweifelt dies. Er argumentiert, dass solche Prinzipien entbehrlich seien, wenn man von einer kritisch-rationalen Praxis ausgeht, nach der es objektives Wissen gibt, allerdings immer nur relativ zu bestimmten Annahmen, die sich aus dem Erkenntnisinteresse des jeweils betrachteten Bereichs ergeben.
„Wann begann und wann endet der europäische Kapitalismus?“ fragt Hubert Kiesewetter in seinem Beitrag. Es geht ihm hierbei nicht um eine vollständige Darstellung der Geschichte des europäischen Kapitalismus, vielmehr soll an einigen historischen Beispielen verdeutlicht werden, aufgrund welcher Kriterien eine exakte Abgrenzung kapitalistischer Perioden vorgenommen werden kann. Kiesewetter zitiert und diskutiert die verschiedenen, in der Forschung genannten Eigenschaften einer kapitalistischen Wirtschaft vom Neolithikum bis heute. Revolutionäre Bedeutung in diesem Entwicklungsprozess misst er der englischen Industrialisierung bei. Am Ende seiner Betrachtung kommt er zu dem Ergebnis, dass es keinen unverwechselbaren europäischen Kapitalismus gegeben hat, sondern vielmehr eine Folge unterschiedlicher kapitalistischer Wirtschaftssysteme. Zur Frage, ob sich der Kapitalismus weiterhin wird halten können, verweist Kiesewetter darauf, dass dies wesentlich vom Willen ökonomischer und politischer Akteure abhänge.
Kapitel 2
Die drei Wahrheiten und das Korrespondenzproblem. Hans Alberts Komparativismus versus Karl Poppers Wahrheitsabsolutismus
Hans-Joachim Niemann
2.1Vorbemerkungen
In einer von Giuseppe Franco 2019 herausgegebenen Hommage für Hans Albert haben kürzlich 80 Autoren darüber berichtet, wieviel sie dem Philosophen, Wissenschaftstheoretiker und Sozialwissenschaftler Hans Albert beruflich und menschlich verdanken. In diesem Rahmen hat Alberts einstiger Schüler Herbert Keuth einen vier Jahrzehnte zurückliegenden, interessanten Gelehrtenstreit in Erinnerung gerufen. Albert kritisierte damals Keuths Habilitationsschrift (Keuth 1978), fand sie aber so geistreich, dass er für ihre Anerkennung als Habilitationsarbeit stimmte (Albert 1979). Das von beiden diskutierte Korrespondenzproblem hielt Keuth auch viel später noch für so interessant und wichtig, dass er es dem nun fast hundertjährigen Hans Albert noch zweimal vorlegte (Keuth 2019a und 2019b). Dass das Korrespondenzproblem auch heute noch wichtig und weiterführend ist, ist auch meine im Folgenden vertretene Meinung.
Worum ging es? Karl Popper hatte versucht, mit Hilfe von Alfred Tarskis semantischer Definition der Wahrheit die alte Vorstellung von Wahrheit als Übereinstimmung mit den Tatsachen zu rehabilitieren und damit den Realismus zu stützen. Daran anknüpfend versuchte Herbert Keuth, so schreibt Albert, in seiner Schrift „nachzuweisen, daß alle diesbezüglichen Lösungsansätze Poppers gescheitert sind, und zieht daraus die Folgerung, daß der kritische Rationalismus insgesamt Schiffbruch erlitten“ habe (Albert 1979, S. 567).
Das Schiff dampft unterdessen unbeschädigt weiter, doch möchte ich auf Einzelheiten hier nicht eingehen, weil darüber genügend diskutiert wurde1. Stattdessen will ich Probleme behandeln, die das alte Korrespondenzproblem für ←25 | 26→Philosophen und Naturwissenschaftler (wie mich2) auch heute wieder interessant zu machen versprechen. Um dieses Interesse eventuell gleich zu Beginn zu wecken, möchte ich einige meiner Thesen voranstellen:
(1)Es gibt nirgendwo eine befriedigende Antwort auf die schon von Einstein gestellte Frage, in welcher Weise sprachlose Sachverhalte mit verbalen und mathematischen Theorien übereinstimmen können.
(2)Diese Frage muss scharf von der Frage der Feststellung solcher Übereinstimmungen unterschieden werden, die von den Naturwissenschaften beantwortet wird.
(3)In Poppers Objektive Erkenntnis kommt das Wort Wahrheit fast 500 Mal vor, bei Hans Albert viel weniger häufig, meist nur zur Abwehr illusionistischer Wahrheitsansprüche anderer, und in naturwissenschaftlichen Zeitschriften, Artikeln und Lehrbüchern so gut wie gar nicht. Offenbar können die Naturwissenschaften ohne Wahrheit auskommen, wenn auch nicht ohne die logische Wahrheit.
(4)Die logische Wahrheit ist nur eine von drei unterschiedlichen Wahrheiten, mit denen Wissenschaftler und Erkenntnistheoretiker ständig zu tun haben und die bisher nicht explizit voneinander unterschieden wurden: die als ‘Übereinstimmung mit den Tatsachen’ definierte ‘d-Wahrheit’, Tarskis semantische ‘t-Wahrheit’ und die logische ‘l-Wahrheit’.
(5)Keine der drei Wahrheiten ist mit einer der anderen äquivalent. Ihre Verwechslung führt zu gravierenden Problemen.
(6)Angesichts der von Popper seit 1960 vollzogenen Trennung zwischen der physikalischen Welt (‘Welt 1’) von der sprachlichen Welt (‘Welt 3’) sollte eine Verwechslung von Wahrheit und Wirklichkeit ausgeschlossen sein. Dennoch geschieht sie im Alltagsdenken häufig; und dieser Fehler unterläuft auch Popper an wichtigen Stellen seiner Erkenntnistheorie.
(7)Die Wörter ‘wahr’ und ‘falsch’ haben in der physischen Welt keine Bedeutung. Wenn sie vorkommen (der ‘wahre Schmelzpunkt von Gold’), handelt es sich um eine Kategorienverwechslung: Tatsachen im physischen Sinn können so wenig wahr sein wie eine Rosenschere.
←26 | 27→(8)Weder Tarski noch Popper unterscheiden in ihren Korrespondenztheorien klar zwischen Tatsachen in der sprachlichen Welt und Tatsachen in der physischen Welt. Die Vermischung beider führte zu schwerwiegenden Problemen.
(9)Poppers wiederholt geäußerte These, Wahrheit könne man unwissentlich besitzen, ist nie glaubhaft gemacht oder gar bewiesen worden. Schwerwiegende Argumente sprechen gegen die Vorstellung, dass Wahrheit als Übereinstimmung mit den physischen Tatsachen mehr sein könnte als eine Definition.
(10)Wahrheit kann, wie Popper annimmt, religiös verankert sein; es ist aber besser, wenn sie gar nicht verankert ist. Naturwissenschaftler und Erkenntnistheoretiker können, wenn sie wollen, ohne Poppers Wahrheit auskommen.
Details
- Seiten
- 452
- Erscheinungsjahr
- 2021
- ISBN (PDF)
- 9783631846872
- ISBN (ePUB)
- 9783631846889
- ISBN (MOBI)
- 9783631846896
- ISBN (Hardcover)
- 9783631845288
- DOI
- 10.3726/b18019
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2021 (Februar)
- Schlagworte
- Rationalität Münchhausen-Trilemma Kritischer Rationalismus Philosophie auch für das 21. Jahrhundert Erkenntnis
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 452 S., 1 farb. Abb., 9 s/w Abb., 2 Tab.