Die Fernwirkung der Beweisverbote
Ein Rechtsvergleich zwischen deutschem und chilenischem Strafprozessrecht
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit bietet durch die rechtsvergleichende Behandlung des Themas unter Einbeziehung einer ausführlichen Betrachtung des chilenischen und US-amerikanischen Rechts eine Diskussionsplattform.
Die im Mittelpunkt stehenden Fragen dieser wissenschaftlichen Abhandlung können die akademische Auseinandersetzung über das Strafprozessrecht hinaus im Bereich des vergleichenden Rechts bereichern und sind damit u.a. für Rechtswissenschaftler im internationalen Kommunikationsrahmen von besonderer Bedeutung.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort
- Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungen
- Einleitung
- Kapitel 1. Die Beweisverbote in der Bundesrepublik Deutschland
- A. Begriffsbestimmungen
- B. Die Funktion der Beweisverwertungsverbote im deutschen Strafprozessrecht
- I. Schutz der Wahrheitsfindung
- II. Disziplinierung der Strafverfolgungsorgane
- III. Schutz der spezialpräventiven Strafzwecke
- IV. Schutz der generalpräventiven Strafzwecke
- V. Schutzfunktion der Individualrechte des Bürgers
- VI. Stabilisierung von Normen
- C. Unselbständige Beweisverwertungsverbote in der Rechtsprechung
- I. Von der Rechtsprechung des Reichsgerichts bis zur Rechtskreistheorie142
- II. Die Kriterien der Rechtsprechung zur Feststellung von unselbständigen Beweisverwertungsverboten
- III. Die Widerspruchslösung
- D. Die Rechtsprechung des BVerfG zu den selbständigen Beweisverwertungsverbote
- E. Einheitskonzeption der Beweisverbote
- F. Die in der Literatur entwickelten Beweisverbotslehren bezüglich der unselbständigen Beweisverbote
- I. Einleitung
- II. Die Funktionslehre (Zwecktheorie)
- III. Die Kritik an der Funktionslehre
- IV. Die Schutzzwecklehre
- V. Die Kritik an der Schutzzwecklehre
- VI. Die Lehre vom informationellen Folgenbeseitigungs- und Unterlassungsanspruch
- VII. Die Kritik an der Lehre vom informationellen Folgenbeseitigungs- und Unterlassungsanspruch
- VIII. Die Abwägungslehre
- IX. Die Kritik an der Abwägungslehre
- X. Die normative Fehlerfolgenlehre
- XI. Die Kritik an der normativen Fehlerfolgenlehre
- XII. Stellungnahme
- Kapitel 2. Der Beweisausschluss im chilenischen Strafverfahren
- A. Rechtshistorische Einführung: der Código de Procedimiento Penal von 1906
- B. Der Código Procesal Penal (CPP) aus dem Jahr 2000
- C. Begriffsbestimmungen
- D. Die in Art. 276 CPP gesetzlich normierte Ausschlussregel
- E. Die Funktion der Beweisverbote im chilenischen Recht
- I. Die Achtung der Integrität der Rechtsordnung bzw. die Gewährleistung der ethischen Funktion der staatlichen Handlung als Zweck der Beweisverbote
- II. Die Disziplinierung der Strafverfolgungsorgane als Funktion der Beweisverbote
- III. Die Achtung der Menschenrechte bzw. der strafprozessualen Garantien im Strafverfahren als Funktion der Beweisverbote
- IV. Die Funktion der Beweisverbote nach der Rechtsprechung
- V. Stellungnahme
- F. Der erste Beweisausschlussgrund von Art. 276 Abs. 3 CPP: Ausschluss von Beweiselementen, die aus nichtig erklärten Handlungen oder Ermittlungen stammen
- I. Anwendungsbereich des ersten Beweisausschlussgrunds von Art. 276 Abs. 3 CPP
- II. Die prozessuale Nichtigkeit in der Hauptverhandlung
- G. Zweiter Beweisausschlussgrund von Art. 276 Abs. 3 CPP: Beweiselemente, die unter Verstoß gegen grundrechtliche Garantien erlangt wurden
- I. Der Begriff der „grundrechtlichen Garantien“ und seine Bedeutung für das Strafverfahren
- II. Die Art der verletzten Norm als entscheidendes Kriterium für die Feststellung eines unzulässigen Beweises
- III. Eventuelle Relativierungen der Ausschlussregel durch Abwägungen im Einzelfall
- IV. Aktiv- und Passivlegitimation beim Beweisausschluss gemäß der zweiten Hypothese des Art. 276 Abs. 3 CPP
- V. Einheitskonzeption der Beweisverbote in Chile
- 1. Zwischenverfahren
- 2. Anfechtungsmöglichkeiten des AAJO
- 3. Ermittlungsverfahren
- 4. Hauptverhandlung
- H. Selbständige Beweisverwertungsverbote im chilenischen Recht
- I. Zwischenergebnis
- Kapitel 3. Die Beweisverbotslehre im US-amerikanischen Recht unter besonderer Berücksichtigung der Fernwirkungsproblematik
- A. Die „exclusionary rule“
- I. Inhalt
- II. Materielle Begründung
- III. Ausnahmen
- B. Fernwirkung im US-amerikanischen Recht: „fruit of the poisonous tree doctrine“
- I. Inhalt
- II. Einschränkungen der Fernwirkung
- 1. Die „independent source exception“
- 2. Die „inevitable discovery exception“
- 3. Die „purged taint exception“ oder „attenuated connection“
- 4. Weitere Einschränkungen
- C. Zwischenergebnis
- Kapitel 4. Die Fernwirkung der Beweisverbote im deutschen Strafprozessrecht
- A. Abgrenzung des Problems und Grundlagen für die Feststellung von Fernwirkungsfällen
- I. Die Fernwirkung der Beweisverwertungsverbote im engen und weiten Sinne
- II. „Unmittelbare/primäre“ und „mittelbare/sekundäre“ Beweismittel
- III. Die Fortwirkung von Beweisverwertungsverboten
- IV. Die Frühwirkung von Beweisverwertungsverboten
- B. Die Fernwirkung der Beweisverwertungsverbote in der deutschen Rechtsprechung
- I. Die Rechtsprechung des BGH
- II. Instanzgerichte
- III. Die Rechtsprechung des BVerfG
- IV. Stellungnahme
- 1. Kriminalpolitische Argumente: Die Lahmlegung des gesamten Strafverfahrens und die Notwendigkeit einer wirksamen Verbrechensbekämpfung
- 2. Dogmatische strafprozessuale Argumente: Der Kausalzusammenhang und die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung
- 3. Die vermittelnde Auffassung
- C. Die Fernwirkung der Beweisverwertungsverbote in der Literatur
- I. Ablehnende Stellungnahmen
- 1. Der Wortlaut des § 136 a StPO als Ablehnungsgrund
- 2. Die Auslegung des Verwertungsbegriffs als Ablehnungsgrund
- 3. Unerträgliche kriminalpolitische Folgen als Ablehnungsgrund
- 4. Ablehnung aufgrund eines fehlenden Zusammenhangs zwischen dem Rechtsfehler und dem mittelbaren Beweismittel
- 5. Humanitäre und öffentliche Interessen als Ablehnungsgrund
- 6. Die Fernwirkung als Fremdkörper im deutschen Recht
- 7. Weitere ablehnende Meinung
- II. Befürwortende Stellungnahmen
- 1. Fernwirkung als eine Folge des Wortlautes des § 136 a Abs. 3, S. 2 StPO
- 2. Fernwirkung gemäß dem Willen des Gesetzgebers
- 3. Fernwirkung als Folge des Begriffes „Verwertung“
- 4. Fernwirkung aufgrund der Funktion des Verwertungsverbots
- 5. Fernwirkung im Rahmen der Lehre vom informationellen Folgenbeseitigungs- und Unterlassungsanspruch
- 6. Fernwirkung als Bekräftigung der Effizienz von Beweisverwertungsverboten
- 7. Fernwirkung wegen der Umgehungsgefahr von Beweisverwertungsverboten
- 8. Fernwirkung als notwendige Folge einer prozessual unzulässigen Primär-Erkenntnisquelle
- 9. Fernwirkung aufgrund der Entwicklung der polizeilichen Eingriffsbefugnisse im Ermittlungsverfahren
- 10. Fernwirkung zur Vermeidung einer Besserstellung der Strafverfolgungsorgane
- 11. Fernwirkung als Folge der materiellen Funktion des Strafverfahrens
- III. Die vermittelnden Auffassungen
- 1. Der Schutzzweck der Norm in der Fernwirkungsproblematik
- 2. Die Fernwirkung der Beweisverwertungsverbote in der sog. Beweisbefugnislehre
- 3. Fernwirkung nach der Einzelfallabwägung
- a) Abwägung zwischen widerstreitenden Interessen
- b) Moderne Auffassungen der Abwägungslehre
- 4. Kausale und normative Merkmale
- IV. Stellungnahme
- 1. Ablehnung extremer Positionen
- a) Die Gesetzesumgehungsgefahr als unerträgliche Folge der allumfassenden Verneinung einer Fernwirkung
- b) Die „Offenkundigkeit“ eines Beweismittels: ein irreführendes Argument
- c) Die Kausalitätsprüfung als Entstehungsvoraussetzung eines Fernwirkungsfalls
- d) Inkonsistenz bei der Behandlung von schwerwiegenden Rechtsverletzungen bei der Erlangung von mittelbaren Beweismitteln
- e) Die Kritik an der unbegrenzten Anerkennung einer Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten
- f) Die Beschlüsse des 67. Deutschen Juristentages und die extremen Positionen
- 2. Fernwirkung und Funktion von Beweisverwertungsverboten
- 3. Die Kritik am Wortlaut der Norm
- 4. Die Kritik an der Schutzzwecktheorie
- 5. Die Kritik an der „doppelten“ Abwägung
- V. Eigene Ansicht
- 1. Die Struktur der mittelbaren Beweisergebnisse
- 2. Autonomie bei der Prüfung des kausalen und normativen Zusammenhangs bezüglich des mittelbaren Beweismittels
- 3. Die normstabilisierende Funktion der Beweisverwertungsverbote in der Fernwirkungsproblematik
- 4. Die Ausnahme des Fernwirkungsgrundsatzes
- 5. Das Prüfungsschema der Fernwirkungsfrage
- Kapitel 5. Die Fernwirkung der Beweisverbote im chilenischen Recht
- A. Die Fernwirkung der Beweisverbote in der chilenischen Rechtsprechung
- I. Einleitung
- II. Die Rechtsprechung der Corte Suprema
- III. Die Rechtsprechung der Cortes de Apelaciones (Berufungsgericht)
- IV. Stellungnahme
- 1. Grundsätzliche Anerkennung einer Fernwirkung von Beweisverboten in der chilenischen Rechtsprechung
- 2. Ausnahme des Fernwirkungsgrundsatzes
- B. Die Fernwirkung der Beweisverbote in der Literatur
- I. Die Position der Lehre
- II. „Oficio FN Nr. 284/2010“ des Generalstaatsanwalts
- III. Stellungnahme
- IV. Die Kritik an der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft im „Oficio FN Nr. 284/2010“
- Kapitel 6. Der kausale Zusammenhang zwischen einer durch einen Prozessverstoß erlangten Wissensnutzung und der Erlangung von mittelbaren Beweismitteln im deutschen Recht
- A. Die Äquivalenztheorie
- B. Die alternative Kausalität
- C. Richtlinien für die Prüfung des Kausalzusammenhangs
- Kapitel 7. Der Kausalzusammenhang im chilenischen Recht
- A. Der fehlende Kausalzusammenhang im chilenischen Recht
- B. Leitlinien für die Prüfung der Kausalität
- Kapitel 8. Der Relevanzverlust des festgestellten Kausalzusammenhanges durch ein dazwischentretendes Ereignis im deutschen Recht
- A. Der Zeitablauf
- B. Die freiwillige und nicht mehr vom Verfahrensfehler beeinflusste Handlung des Zeugen bzw. des Beschuldigten
- C. Die Bedeutung des Verfahrensverstoßes für das rechtlich geschützte Interesse des Betroffenen
- Kapitel 9. Der Relevanzverlust des festgestellten Kausalzusammenhangs durch ein dazwischentretendes Ereignis im chilenischen Recht
- A. Die Voraussetzungen des „Oficio FN Nr. 284/2010“ für die Feststellung eines abgeschwächten Zusammenhangs
- Kapitel 10. Die hypothetischen Ermittlungsverläufe im deutschen Recht
- A. Darstellung des Problems
- B. Die Rechtsprechung des BGH und der OLG bezüglich der Berücksichtigung von hypothetischen Ermittlungsverläufen im Strafprozessrecht
- I. Entscheidungen, bei denen die Rechtsprechung hypothetische Ermittlungsverläufe zulässt
- II. Entscheidungen, bei denen die Rechtsprechung hypothetische Ermittlungsverläufe verneint
- C. Die Rechtsprechung des BGH und der OLG hinsichtlich der Berücksichtigung von hypothetischen Ermittlungsverläufen in der Fernwirkungsproblematik
- D. Der Meinungsstand in der Literatur
- E. Stellungnahme und Begründung der Beachtung der hypothetischen Ermittlungsverläufe im Strafverfahren
- I. Grenzen und Beschränkungen bei der grundsätzlichen Berücksichtigung von Verlaufshypothesen in der Lehre und Rechtsprechung
- II. Eigene Ansicht
- III. Die Wirkung der hypothetischen Ermittlungsverläufe im Zusammenspiel einer durch einen Prozessverstoß erlangten Wissensnutzung und der Erlangung von mittelbaren Beweismitteln
- F. Das Bezugsobjekt der Hypothese
- G. Die Bildung der Verlaufshypothese
- I. Abstrakte oder konkrete Hypothesenbildung?
- II. Erforderliches Beweismaß zur Berücksichtigung von Verlaufshypothesen
- III. Beweislast und Prüfung des hypothetischen Ermittlungsverlaufs
- Kapitel 11. Die hypothetischen Ermittlungsverläufe im chilenischen Recht
- A. Die hypothetischen Ermittlungsverläufe in der chilenischen Rechtsprechung
- B. Begründung der Berücksichtigung hypothetischer Ermittlungsverläufe im chilenischen Strafprozessrecht
- C. Die Wirkung hypothetischer Ermittlungsverläufe auf den Zusammenhang zwischen Rechtsverstoß und Beweiserlangung im chilenischen Recht
- D. Grenzen der Berücksichtigung von Verlaufshypothesen im chilenischen Recht
- E. Hypothesenbildung und erforderliches Beweismaß zur Berücksichtigung von Verlaufshypothesen im chilenischen Recht
- Kapitel 12. Darf die sog. „good faith exception“ bei der Fernwirkung von Beweisverboten im deutschen und chilenischen Recht eine Rolle spielen?
- Schlussfolgerungen
- Literaturverzeichnis
Einleitung
Mit Ernst Belings Antrittsvorlesung an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen zum Thema „Die Beweisverbote als Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafprozess“ wurde im Jahr 1903 eine neue Epoche in der Entwicklung der Strafverfahrensdogmatik eingeläutet. In Deutschland begann die Auseinandersetzung mit der sog. Beweisverbotslehre erstaunlicherweise bereits wenige Jahre vor dem Urteil „Weeks v. U.S.“ des Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika aus dem Jahre 1914, welches als die Geburtsstunde der sog. „exclusionary rule“ des US-amerikanischen Rechts gilt. Beide Ereignisse haben das Strafverfahrensrecht bis zum heutigen Tag entscheidend verändert. Wichtige Grundsätze der Strafverfolgung, die heute eine allgemeine Akzeptanz genießen, sind eine direkte Folge der Entstehung der Beweisverbotslehre: Die Wahrheitsermittlung im Strafverfahren hat ihre Grenzen, deren Überschreitung sogar zum Ausschluss eines Beweismittels für die richterliche Verwertung führen kann.
Der eigentliche Beginn der systematischen Untersuchung der Beweisverbotslehre in Deutschland ist aber ein halbes Jahrhundert später zu datieren, und zwar, als auf dem 46. Juristentag in Essen (1966) das Thema der Beweisverbote Gegenstand der strafrechtlichen Diskussion wurde. Seitdem gehören die Beweisverbote zu den meist diskutierten Themen der Strafrechtswissenschaft.
Eine zentrale Frage der relativ weitläufigen Beweisverbotslehre lautet, ob die Beweismittel, die aufgrund eines unmittelbar unverwertbaren Beweismittels erlangt wurden, ebenso unverwertbar sind oder nicht. Die wissenschaftliche Relevanz dieses Themas ist in den letzten 35 Jahren ständig gestiegen, vor allem seit der BGH Ende der 70er Jahre zum ersten Mal Stellung zu diesem Thema genommen hat. Heutzutage wird die Thematik der Beweisverbote nicht nur in fast jedem Lehrbuch und Kommentar zur StPO behandelt, sondern ist auch Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Aufsätze, Dissertationen sowie Anmerkungen zu Urteilen.
Das Problem der Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten wurde – nicht ohne Grund – von Dünnebier1 als „das schwerste Problem der Beweisverbote“ bezeichnet. Die Antwort auf die Frage, ob Beweisverbote eine Fernwirkung in sich tragen, ist kein autonomer Bereich innerhalb der Beweisverbotslehre, sondern muss vielmehr unter enger Berücksichtigung anderer Forschungsgegenstände im Rahmen dieser Lehre beantwortet werden. Besonders relevant für die Beantwortung der Fernwirkungsfrage sind u.a. die Funktion der Beweisverwertungsverbote, die Frage, wann aus einem Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot ein Beweisverwertungsverbot folgt, sowie der Umfang und Anwendungsbereich der möglichen Einschränkungen bzw. Ausnahmen der Fernwirkung. Eine Stellungnahme ←21 | 22→hierzu ist unvermeidbar, wenn man eine gelungene Antwort auf die Fernwirkungsfrage finden will.
Während in Deutschland und den USA dieses Thema sowohl in der Lehre als auch in der Rechtsprechung seit mehr als 100 Jahren intensiv diskutiert wird, wurde die Beweisverbotslehre – und somit folglich auch die Fernwirkung von Beweisverboten – im chilenischen Recht erst seit Beginn des neuen Jahrtausends Gegenstand einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung.
Während der fast 100 Jahre, in denen ein rein inquisitorisches Strafverfahren in Chile galt, wurde die Beweisverbotslehre von der Lehre und Rechtsprechung nahezu ausnahmslos ignoriert. Erst mit Inkrafttreten des neuen Código Procesal Penal (CPP – chilenische StPO) im Jahr 2000 wurde sie in der chilenischen Literatur und Rechtsprechung aufgegriffen: In Art. 276 Abs. 3 des neuen Gesetzbuches wurde – zum ersten Mal im chilenischen Recht – eine ausdrückliche Beweisausschlussregel formuliert.
Ein Vergleich zwischen dem deutschem und dem chilenischem Recht scheint bezüglich der Fernwirkung der Beweisverbote für beide Seiten sinnvoll und kann von großem Nutzen für die Weiterentwicklung der Dogmatik und für die Rechtsprechung sein.
Die Untersuchung der Fernwirkung der Beweisverbote – sowie der Beweisverbotslehre selbst – hat in der deutschen Lehre ständig zugenommen und zu einer Präzision und Differenzierung bei der Suche nach einer gerechten Lösung im konkreten Fall geführt. Heutzutage lässt sich die Fernwirkungsfrage nach der übereinstimmenden Lehre nicht mit einer „Ja-Nein“ Lösung beantworten, sondern erfordert eine komplexe und differenzierte Abwägung, die verschiedene Elemente berücksichtigt.
Die Komplexität, die die Lehre in der deutschen Literatur erreicht hat, spiegelt sich leider nicht in der deutschen Rechtsprechung wider. Der BGH hat seit den 1980en Jahren in seiner Rechtsprechung die Fernwirkung der Beweisverwertungsverbote grundsätzlich abgelehnt. Als Begründung dieser Haltung hat das Gericht vor allem kriminalpolitische Argumente vorgebracht, die heutzutage in der Literatur kaum Unterstützung finden.
Im Gegensatz dazu ist die Erforschung der Fernwirkung der Beweisverbote im chilenischen Recht ein neues Phänomen, das erst mit dem Inkrafttreten des CPP im Jahr 2000 begonnen hat. Die wenigen Autoren, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben, haben sich auf die Analyse der Situation im US-amerikanischen Recht beschränkt, dessen Ergebnisse mehr oder weniger einfach auf das chilenische Recht übertragen werden. Aus diesem Grund können die Komplexität und Vielfalt der analytischen Behandlung dieses Themas in Deutschland die Diskussion in Chile durch viele neue Elemente bereichern.
Andererseits hat die Corte Suprema (der chilenische Oberste Gerichtshof) in den letzten 15 Jahren eine Reihe interessanter Urteile erlassen, welche die grundsätzliche Bejahung einer Fernwirkung der Beweisverbote als Basis haben. Die Anerkennung der Fernwirkung in der Rechtsprechung gilt allerdings nicht unbegrenzt: Der Oberste Gerichtshof hat – vor allem unter Berufung auf das US-amerikanische ←22 | 23→Recht – mehrere Ausnahmen des Fernwirkungsgrundsatzes anerkannt. Die in den meisten Fällen konsistenten Ergebnisse, die die chilenische Rechtsprechung für die Behandlung der Fernwirkungsproblematik in der Praxis erreicht hat, zeigen, dass in einem kontinentalen Rechtssystem die Anerkennung einer Fernwirkung unter bestimmten Umständen nicht nur möglich, sondern auch empfehlenswert ist. Diese Erfahrung kann wiederum im Hinblick auf eine weitere Entwicklung der deutschen Rechtsprechung bezüglich der Fernwirkung der Beweisverbote von großer Bedeutung sein.
Die vorliegende Dissertation gliedert sich in zwölf Teile.
Im ersten Teil (Kap. 1) wird die Lehre der Beweisverbote in der Bundesrepublik Deutschland analysiert. Nach einer notwendigen Begriffsbestimmung (Kap. 1. A) wird die Funktion der Beweisverwertungsverbote im deutschen Strafprozessrecht ausführlich behandelt (Kap. 1. B). Anschließend wird näher auf die unselbstständigen Beweisverwertungsverbote in der Rechtsprechung (Kap. 1. C); die Rechtsprechung des BVerfG hinsichtlich der selbstständigen Beweisverwertungsverbote (Kap. 1. D) sowie die Rechtzeitigkeit des Ausschlusses von Beweisverwertungsverboten (Kap. 1. E) eingegangen. Zentraler Punkt dieses Kapitels ist die Untersuchung der in der Literatur entwickelten Beweisverbotslehren bezüglich der unselbstständigen Beweisverbote (Kap. 1. F), wobei die wichtigsten Meinungen in der Literatur bezüglich der Frage, wann aus einem Verstoß gegen eine gesetzlich normierte Beweiserhebungsvorschrift ein Beweisverwertungsverbot folgt, ausführlich dargestellt werden.
Der zweite Teil behandelt die Beweisverbote im chilenischen Strafprozessrecht (Kap. 2). Nach einer Darstellung der rechtshistorischen Entwicklung des Themas in Chile (Kap. 2. A) und der Begriffsbestimmungen (Kap. 2. C) folgt der wesentlichste Punkt dieses Teils: die Analyse des Art. 276 Abs. 3 des chilenischen Código Procesal Penal (Kap. 2. D; 2. F; 2. G), als zentrale Norm, die den Ausschluss von Beweisen im chilenischen Recht regelt.
Im dritten Teil der Dissertation (Kap. 3) geht es um die Verbotslehre im US-amerikanischen Recht unter besonderer Berücksichtigung der Fernwirkungsproblematik. Die Erörterung der sog. „fruits of the poisonous tree doctrine“ (Kap. 3. B) steht dabei im Mittelpunkt. Diese „doctrine“ ist eine Erschaffung des US-amerikanischen Supreme Court, die heutzutage einen wichtigen Referenzpunkt bei der Behandlung der Fernwirkungsfrage im deutschen und chilenischen Recht darstellt. Schließlich werden (Kap. 3. B. II) die verschiedenen Einschränkungen der Fernwirkung im US-amerikanischen Recht analysiert.
Im vierten Teil der Arbeit (Kap. 4) wird das zentrale Thema dieser Dissertation behandelt: Die Fernwirkung der Beweisverbote im deutschen Strafprozessrecht. Diese Untersuchung beginnt mit einer Abgrenzung der Problematik (Kap. 4. A). Anschließend wird die Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten in der deutschen Rechtsprechung analysiert (Kap. 4. B). Der größte Teil des Kapitels setzt sich mit der Fernwirkung der Beweisverwertungsverbote in der Literatur auseinander. Dort werden die verschiedenen Positionen der Lehre dargestellt, die entweder eine ablehnende (Kap. 4. C. I) eine befürwortende (Kap. 4. C. II) oder eine vermittelnde ←23 | 24→Auffassung (Kap. 4. C. III) vertreten. Schließlich (Kap. 4. C. IV) nimmt der Verfasser hierzu Stellung.
Im fünften Teil der Dissertation (Kap. 5) wird ausführlich auf die Fernwirkung der Beweisverbote im chilenischen Recht eingegangen. Dies erfolgt nach derselben Struktur, wie schon bei der Analyse des deutschen Rechts: Zunächst wird die Fernwirkung der Beweisverbote in der chilenischen Rechtsprechung (Kap. 5. A) sowie in der Literatur (Kap. 5. B) untersucht, bevor eine eigene Stellungnahme erfolgt.
In den letzten Kapiteln der Dissertation steht die Analyse der Ausnahmen der Fernwirkung der Beweisverbote im Mittelpunkt: Zunächst wird der kausale Zusammenhang zwischen einer durch einen Prozessverstoß erlangten Wissensnutzung und der Erlangung von mittelbaren Beweismitteln im deutschen (Kap. 6) und chilenischen (Kap. 7) Recht erörtert; anschließend wird auf den Relevanzverlust des festgestellten Kausalzusammenhanges durch ein dazwischentretendes Ereignis im deutschen (Kap. 8) und chilenischen (Kap. 9) Recht eingegangen. Abschließend werden die hypothetischen Ermittlungsverläufe im deutschen (Kap. 10) und chilenischen (Kap. 11) Recht untersucht. Als Exkurs (Kap. 12) wird noch auf die Rolle der umstrittenen „Good faith exception“ des US-amerikanischen Rechts als mögliche Ausnahme des Fernwirkungsgrundsatzes im deutschen und chilenischen Recht eingegangen.
1 Dünnebier, MDR 1964, 965 (967, Fn. 27).
Details
- Seiten
- 336
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631782453
- ISBN (ePUB)
- 9783631782460
- ISBN (MOBI)
- 9783631782477
- ISBN (Paperback)
- 9783631779965
- DOI
- 10.3726/b15315
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (Mai)
- Schlagworte
- Beweisrecht Vergleichendes Recht Chilenisches Recht Exclusionary rule Strafverfahren Prozessrecht
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 335 S.