Et in Arcadia ego. Rom als deutscher Erinnerungsort
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Liste der Mitwirkenden
- Vorwort
- Winckelmann in Rom oder wie lässt sich das Nicht-Seiende beschreiben?: (Krzysztof Tkaczyk)
- „Italiam! Italiam!“ Ein Traum wird wahr. Zu Carl Herrmanns Aufenthalt in Rom und seiner Verbindung zu den Nazarenern: (Małgorzata Blach-Margos)
- Rom als literarisch-romantisches Modell in Franz Sternbalds Wanderungen: (Caroline Will)
- Sehnsucht nach der Kunstheimat. Die Geschwister Tieck in Rom: (Hannelore Scholz-Lübbering)
- Römischer Karneval oder ‚die verbotene Frucht der Freiheit‘ – Fanny Lewalds Italienisches Bilderbuch (1847): (Carola Hilmes)
- Heiliges Römisches Totenreich. Alexander Lernet-Holenias Der Graf Luna (1955) – ein österreichisches Traum(A)-Narrativ zwischen KZ und Katakomben: (Clemens Ruthner)
- Umdeutung der Rom-Chiffre nach dem Faschismus: Wolfgang Koeppen, Werner Bergengruen, Marie Luise Kaschnitz, Ingeborg Bachmann: (Joanna Jabłkowska)
- Rom – Morbide Stadt. Ruinöse Größen als Geschichts- und Seelenlandschaft. Joachim du Bellay, Wolfgang Koeppen, Peter Greenaway: (Torsten Voß)
- Queeres Rom literarisch. Homosexuelle Topografien in Texten von Hubert Fichte, Wolfgang Koeppen und Josef Winkler: (Artur Pełka)
- „Das tote Immergrün“: das katholische Rom bei Martin Mosebach und Josef Winkler: (Marek Jakubów)
- „Treten, Schritte, Sehen: klack, ein Foto!: Gegenwart eingefroren.“ Arkadien (sex)touristisch reloaded in Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke: (Gudrun Heidemann)
- Rom – ein sinnliches Abenteuer. Uwe Timms Römische Aufzeichnungen: (Elżbieta Tomasi-Kapral)
- Vom Fenster der Villa Massimo aus: Rom mit den Augen Hanns-Josef Ortheils: (Joanna Firaza)
- Das Rom-Erlebnis in Rom. Villa Massimo von Hanns-Josef Ortheil und Die römische Saison von Lutz Seiler: (Agnieszka Sowa)
- Rom-Images in Texten der Reiseliteratur: (Elke Mehnert)
- Alle Wege führen nach Rom und zu dem, was es meint – oder: womöglich jüdische Erörterungen zu der Stadt: (Martin A. Hainz)
- Rom – vom Sehnsuchtsort Bildungsreisender zum Melting Pot gescheiterter europäischer Migrationspolitik?: (Heike Knortz)
- Autorinnen und Autoren
- Personenregister
- Reihenübersicht
LISTE DER MITWIRKENDEN
Małgorzata Blach-Margos
Archiwum Państwowe w Opolu
Joanna Firaza
Uniwersytet Łódzki
Martin A. Hainz
Pädagogische Hochschule Burgenland
Gudrun Heidemann
Uniwersytet Łódzki
Carola Hilmes
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Joanna Jabłkowska
Uniwersytet Łódzki
Marek Jakubów
Katolicki Uniwersytet Lubelski Jana Pawła II
Heike Knortz
Pädagogische Hochschule Karlsruhe
Elke Mehnert
Westböhmische Universität Pilsen /Technische Universität Chemnitz
Artur Pełka
Uniwersytet Łódzki
Clemens Ruthner
Trinity College Dublin
Hannelore Scholz-Lübbering
Berlin
Agnieszka Sowa
Uniwersytet Jagielloński
Krzysztof Tkaczyk
Uniwersytet Warszawski
Elżbieta Tomasi-Kapral
Uniwersytet Łódzki
Torsten Voß
Bergische Universität Wuppertal
Caroline Desirée Will
Friedrich-Schiller-Universität Jena
VORWORT
Der vorliegende Band ist Resultat aus einer wissenschaftlichen Tagung, die vom 20. bis 22. September 2018 an der Universität Lodz stattfand. Die Vortragenden aus verschiedenen europäischen Ländern (Deutschland, Dänemark, Italien, Griechenland, Österreich und Polen) befassten sich innerhalb von drei Konferenztagen mit dem Schwerpunkt „Rom als Erinnerungsort in europäischen Kulturen“ aus unterschiedlichen Blickwinkeln, wobei die literaturwissenschaftliche Perspektive neben der historischen, kunst- und medienkritischen oder politischen deutlich überwog. Der Band versammelt Artikel in deutscher Sprache, die eine germanistische Sicht auf Rom problematisieren. Geschichtlich gesehen werden dafür Texte verschiedenster Autoren_innen herangezogen: angefangen mit klassischen Werken bis zur Gegenwartsliteratur von Schriftsteller_innen, die zumeist als Stipendiat_innen der Villa Massimo ihre Erfahrungen in Rom aufgezeichnet hatten. Johann Wolfgang Goethes (1749–1832) Aufenthalt in Rom wird in keinem Beitrag direkt thematisiert, doch der berühmteste Rom-Reisende der deutschsprachigen Dichtung ist als Bezugspunkt in den Artikeln des Bandes stets präsent. Wie die im Band versammelten Texte wohl zeigen, sind die deutschen Reflexionen über Rom als (Erinnerungs-)Ort sowie über die kulturelle und literarische Tradition der ‚Ewigen Stadt‘ keineswegs nur affirmativ, sondern variieren von einer enthusiastischen Bewunderung im Stil Goethes bis zu Überdruss, Irritation und kritischem Hinterfragen. Nicht selten handelt es sich um ein intertextuelles Spiel mit den etablierten Mustern und Konventionen. Eins ist sicher: Ob bewundert oder abgelehnt, lässt sich das kulturelle Erbe, das in Goethes Werk wohl am nachhaltigsten und ausdruckvollsten gewürdigt wurde, nicht ignorieren.
Die Anordnung der Beiträge erfolgte aus chronologischer Sicht. Sie beginnt mit Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der Mitte des 18. Jahrhunderts nach Rom kam, um dort die antike Kunst und das antike Schönheitsideal zu studieren. Der Beitrag von Krzysztof Tkaczyk präsentiert Winckelmanns Beschreibung des Torso im Belvedere als eine geniale Ekphrasis, die sich durch eine besondere narrative Dynamik von ihrem Objekt distanziert, eine Autonomie erlangt und einen kontemplativen Zugang zu der unvollständig erhaltenen Skulptur gewährt. Über die Aktivierung der Vorstellungen, Assoziationen und Emotionen der Rezipient_innen sowie gleichzeitige Berufung auf das mythologische Wissen würde die Geschichte des griechischen Heros (nach Winckelmann ←9 | 10→gehört der Torso dem Halbgott Herkules) neu erzählt und mit den Leser_innen ein Dialog auf mehreren Ebenen geführt.
Die Kunst – zwar nicht die plastische, sondern die Malerei – liegt auch im Fokus des zweiten Artikels, in dem Małgorzata Blach-Margos das römische Abenteuer des Oppelner Malers Carl Herrmann (1791–1845) anhand seiner Tagebuch-Aufzeichnungen schildert. Herrmann erhoffte sich von seinem Stipendium in der ‚Ewigen Stadt‘ neue Anregungen und Inspirationen für sein Schaffen. Ähnliche Erwartungen hegten die 1809 im Lukasbund gesammelten Künstler, die aus Wien nach Italien aufbrachen und in Rom als Nazarener bekannt wurden. Sie lehnten die traditionelle akademische Kunstauffassung ab und suchten im Süden nach einer Erneuerung und Verinnerlichung der Kunst, einerseits durch die Hinwendung zur Religion, andererseits durch ein intensives Studium der berühmten Maler. Den Ansichten der Nazarener habe Herrmann schon vor seiner Abreise nahegestanden und er sei von deren Kreis freundlich aufgenommen worden – im Beitrag werden seine Erfahrungen, Begegnungen und Arbeiten in Rom und nach der Rückkehr nach Oppeln beschrieben.
Die ‚Ewige Stadt‘ diente bekanntermaßen nicht nur den Klassikern, sondern auch den Romantikern als Quelle der Inspiration. Caroline Will untersucht in ihrem Text – anhand von Ludwig Tiecks (1773–1853) Roman Franz Sternbalds Wanderungen – die Bedeutung Roms als Modell für romantische Erfüllung. Die Reise des Protagonisten nach Rom weist – so die Autorin – eine ‚telische‘ Struktur auf und stellt darüber hinaus eine Art säkularer Wallfahrt dar, indem an die Stelle der Religion die romantische Kunstfrömmigkeit rückt. Der reale Ort würde dabei von seinen symbolischen und imaginativen Merkmalen fast überblendet, obwohl er doch das faktische Reiseziel und Ort des Geschehens bleibe. Sternbald finde in Rom die romantischen Ideale der Kunst und Liebe verwirklicht und im Moment der Epiphanie erlebe er die Annäherung an das Absolute.
Auch Hannelore Scholz-Lübbering bezieht sich auf Tiecks Schaffen und vergleicht es mit der Dichtung seiner Schwester Sophie Bernhardi (geb. Tieck, 1775–1833). Für beide fungierte Rom als Ort der physischen und seelischen Erneuerung: Ludwig Tieck habe zu jener Zeit mit einer Schaffenskrise und mit gesundheitlichen Problemen gekämpft, die seine Reise nach Rom eine Zeit lang verzögerten, Sophie habe sich in einer tiefen Ehekrise befunden. Scholz-Lübbering beschreibt das dichterische Werk der Geschwister, wobei sie Ludwig Tiecks Reisegedichte als spontane Rom-Impressionen und zugleich komplexe und kontextreiche Gelegenheitsdichtung auffasst und Sophie Bernhardis Bearbeitung des mittelalterlichen Epos Flore und Blanscheflur als deren Versuch einer eigenen weiblichen Werkinterpretation betrachtet. Die Geschwister interessierten sich eher für mittelalterliche Überlieferungen als für klassische antike ←10 | 11→Werke, insbesondere Sophie habe im Mittelalter den Ursprung vieler wichtiger romantischer Impulse gesehen.
Der weibliche Blick und eine genderspezifische Perspektive kommen im folgenden Beitrag noch viel stärker zum Ausdruck: Carola Hilmes analysiert darin ein Kapitel aus Fanny Lewalds (1811–1889) Italienischem Bilderbuch, in dem die Literatin den römischen Karneval beschreibt und dabei auf den demokratischen, heiteren Charakter dieses Volksfestes hinweist. Diese Sichtweise, die vieles mit Madame de Staëls romanhaften Schilderungen des Lebens in Rom gemeinsam habe, differiere wesentlich von der männlichen Perspektive Goethes, der im römischen Fest eine anarchistische Komponente gesehen habe. Generell erscheint für die Autorin des Artikels das Thema der Freiheit und ausdrücklich der weiblichen Emanzipation, die wesentlich durch Reisen ermöglicht wurde, als höchst relevant, und das Reisen selbst als eine sehr produktive Quelle der schriftstellerischen Arbeit.
Nach den ersten fünf Beiträgen, die römische Erfahrungen und Anspielungen bei den Künstler_innen des 18. und 19. Jahrhunderts darstellen, rückt in den folgenden Texten das 20. und 21. Jahrhundert in den Vordergrund. Clemens Ruthner präsentiert in seinem Artikel einen Roman des österreichischen Autors Alexander Lernet-Holenia (1897–1976) aus dem Jahre 1955, der die Mitschuld Österreichs an dem Nationalsozialismus thematisiert. In dieser Abrechnung mit der neueren Vergangenheit spielt Rom eine bedeutende Rolle: Der Protagonist, ein österreichischer Staatsbürger, der sich vom Opfer seiner ehemaligen Denunziation verfolgt wähnt, sucht ein Versteck in den römischen Katakomben, aus denen er nicht mehr herauskommt. Die unterirdischen Korridore, die bekanntlich als Grabstätten dienten, würden mit einem Zwangsarbeitslager (die Bezeichnung KZ wird im Buch absichtlich vermieden) assoziiert, in dem der Titelheld Graf Luna angeblich beim Salzabbau in der Berggrube ums Leben kam. Dass der dafür schuldtragende Romanprotagonist von einem fantastischen Verfolgungswahn geplagt wird und ausgerechnet im römischen ‚Totenreich‘ nach Zuflucht sucht, wird von Ruthner unter Berufung auf psychoanalytische Studien als Ausdruck seines NS-Traumas gedeutet.
Der Beitrag von Joanna Jabłkowska behandelt die deutsche Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit, genauer genommen die Werke vier ausgewählter Schriftsteller_innen und die Frage, inwieweit die Reiseliteratur, die in diesem Fall explizit die Rom-Erlebnisse wiederzugeben versucht, eher einer Selbstinszenierung der Schreibenden bzw. einer Inszenierung der (deutschen) Identität dient. Werner Bergengruens (1892–1964) Römisches Erinnerungsbuch wird als eher traditionelle Begegnung mit Roms Sehenswürdigkeiten aufgefasst, der Autor „idealisiert Rom und weicht den problematischen Themen aus, die gerade ←11 | 12→1949 an Aktualität gewannen“. Auch Wolfgang Koeppen (1906–1996) präsentiere in seinem Werk Neuer römischer Cicerone eine Art literarischen Reiseführer durch die ‚Ewige Stadt‘, jedoch deute er in diesem Text, ähnlich wie in seinem Roman Der Tod in Rom auch auf Parallelen zwischen dem faschistischen Rom und Berlin im Nationalsozialismus hin. Die Essays von Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) und Ingeborg Bachmann (1926–1973) seien im Vergleich zu den genannten Texten viel subjektiver und thematisieren nur ausgewählte Rom-Aspekte. Die Autorinnen seien nur selten darum bemüht, ihre römischen Eindrücke auf die deutsche Geschichte und Gegenwart zu beziehen und konzentrieren sich auf die Suche nach persönlichen „Formeln“ für die Stadt.
Koeppens Roman wird auch von Torsten Voß analysiert, wobei im Ausgangspunkt der Untersuchung ein Sonettzyklus von Joachim du Bellay (1522–1560) aus der Mitte des 16. Jahrhundert steht. In dieser Dichtung erblickt Voß den Ursprung einer ambivalenten Rom-Rezeption als Ruinen-Stadt, die er in der modernen Literatur und (Film-)Kunst wiederzufinden glaubt. In Koeppens Tod in Rom werde ebenso wie in Peter Greenaways (geb. 1942) Film Der Bauch des Architekten Rom zur symbolischen Widerspiegelung der Seelenlandschaft der sich in der ‚Ewigen Stadt‘ bewegenden Figuren; die Korrespondenzen zwischen der morbiden Stadt und diffundierten (post)modernen Existenzen seien unübersehbar. Sowohl die postfaschistoiden Charaktere bei Koeppen als auch Greenaways erkrankte und scheiternde Titelfigur, der Architekt Kracklite, erfahren dem Verfasser zufolge im römischen Ruinenpanorama und der damit verknüpften Geschichtsreflexion eine Visualisierung ihrer Situation. Darüber hinaus fungierten du Bellays, Koeppens und Greenaways Rom-Imaginationen als allegorisierte Zeiterfahrungen, wodurch sich die Autoren mit dem Motiv der unausweichlichen Vergänglichkeit auf eine positive Art und Weise auseinanderzusetzen versuchen.
Eine ganz andere Perspektive auf Koeppens Werk schlägt Artur Pełka vor, der in seinem Beitrag Hubert Fichtes (1935–1986) und Josef Winklers (geb. 1953) Texte, deren Handlung in Rom angesiedelt ist, hinzuzieht. Die Fragestellung konzentriert sich in diesem Fall auf das Thema der Homosexualität vor dem Hintergrund der Homosexuellenverfolgung im nationalsozialistischen Regime. Im Gegensatz dazu erscheinen Italien und Rom als Inbegriff der Freizügigkeit im Hinblick auf nicht heteronormative sexuelle Praktiken und somit als ein perfekter Ort für die Hervorhebung dieser Problematik. Der Autor unterstreicht die Kongruenzen zwischen den ganz unterschiedlichen Werken von Koeppen und Winkler, indem er bei beiden Literaten Elemente einer Ästhetik des Hässlichen bemerkt und eine Tendenz, die Aufmerksamkeit auf das Periphere der Stadt zu lenken, was meistens mit der homosexuellen Motivik einhergehe. In Bezug auf ←12 | 13→die Anhäufung der literarischen Wahrnehmungsbilder wird auch auf Freuds Erinnerungsarbeit verwiesen und das Fazit formuliert, Rom sei „gewissermaßen als Projektionsfläche für eine narrative Selbstinspektion der beiden Autoren“ zu verstehen.
Marek Jakubów befasst sich ebenfalls mit Josef Winklers Werken (Natura morta, Friedhof der bitteren Orangen) und darüber hinaus mit ausgewählten Essays von Martin Mosebach (geb. 1951) aus einer neuen Perspektive. Im Mittelpunkt seines Interesses steht der katholische Rom- und Italiendiskurs, der laut Jakubów seit dem 19. Jahrhundert als Alternative zu klassizistischen Romvorstellungen disparate und gegensätzliche Merkmale zu vereinigen bemüht war. In den Werken beider Autoren sieht Jakubów eine neue Auffassung dieses Diskurses und seiner Bildlichkeit und potenziell neue Wahrnehmungsweisen der Wirklichkeit. Mosebachs Schriften präsentierten Rom als ein Kunstwerk, in dem jedoch die Widersprüche in Form einer vielschichtigen Tradition deutlich hervortreten, wodurch die Stadt einen lebendigen, oszillierenden Eindruck mache und diverse, auch transzendentale Erfahrungen ermögliche. Für Winkler bildeten die katholischen Requisiten einen notwendigen Rahmen, um das Radikal-Sinnliche zum Ausdruck zu bringen, das in Verbindung mit dem Ästhetischen sein subjektives Rom-Bild konstituiere.
Der folgende Beitrag von Gudrun Heidemann ist den Rom-Bildern von Rolf Dieter Brinkmann (1940–1975) gewidmet, der sich als Stipendiat der Villa Massimo der weitreichenden Tradition und konventionellen Vorstellungen dieser Stadt entgegenstellt. Sein Band Rom, Blicke besteht aus Bild-Text-Collagen, in denen der Autor seine Eindrücke beim Flanieren durch Rom festhielt, wobei seine Blicke äußerst kritisch den unübersehbaren Verfall, Verschmutzung und Verlogenheit registrierten. Nicht nur touristische Attraktionen und die naiven Tourist_innen sowie auch die Einheimischen würden diffamiert – Brinkmanns umstürzlerisches Verfahren richte sich auch mehrmals gegen Goethe und seine literarischen Italienimpressionen, die auf Dauer zur Verklärung von Rom-Vorstellungen beigetragen haben. Die hohe Kultur stoße auf die triviale, nicht zuletzt durch Brinkmanns Amateuraufnahmen, von denen einige Reproduktionen den Artikel bereichern. Sie zeigen der Verfasserin zufolge Rom-Motive und Randerscheinungen aus überraschender Perspektive und stellen einerseits das Illusionäre der bunten Postkarten und Kunstfotografien bloß, andererseits bringen sie – als Ergänzung zum Autorenkommentar – die Doppelmoral des Sextourismus und der pornographischen Industrie ans Licht.
Wurde im Kontext von Brinkmanns multimedialem Band u.a. die Problematik des Blicks und Blickwechsels berührt, so bleibt auch im folgenden Artikel der Seh- neben dem Tastsinn ein wichtiges Thema. In Bezug auf Uwe Timms (geb. ←13 | 14→1940) Römische Aufzeichnungen stellt Elżbieta Tomasi-Kapral die Frage nach der Rolle dieser beiden Sinne bei der Erkundung einer fremden Welt und Kultur. Timms Inspiration für solche Überlegungen seien plastische und malerische Werke von Bernini und Caravaggio gewesen, die er in Rom bewunderte. Die Problematik der Sinnlichkeit bleibt auch im zweiten Teil des Beitrags von Relevanz, wo die Betrachtungen des Schriftstellers über kulturelle und mentale Differenzen zwischen der italienischen und der deutschen Lebensweise thematisiert werden. Für Timm erweise sich Rom als Konglomerat der sinnlichen, vor allem visuellen und taktilen Eindrücke, was ihn auch zur Reflexion über die eigene Kultur und Sozialisation bewogen habe.
Zwei Autorinnen des vorliegenden Bandes machten das Werk von Hanns-Josef Ortheil (geb. 1951), der ebenfalls Villa-Massimo-Stipendiat war, zu ihrem Forschungsgegenstand: Joanna Firaza fokussiert seinen ‚Institutionsroman‘ Rom, Villa Massimo und unterstreicht die vom Autor gewählte Strategie der ästhetischen Wahrnehmung durch Reizbeschränkung. Vor diesem Hintergrund hebt sie die besondere Rolle der Fenster-Symbolik hervor, die Ortheils Protagonisten Peter Ka mit Goethe und seinen Rom-Erfahrungen verbinde, anschaulich dargestellt an Tischbeins Graphiken und Gemälden. Der analysierte Roman weist laut Firaza auf eine Katalysatorfunktion des Italienerlebnisses hin und Villa Massimo scheint ihr als Ort einer speziellen künstlerischen Konzentration und Reflexivität für dessen kreative Nutzung „besonders prädestiniert“. Im Beitrag von Agnieszka Sowa wird der besagte Roman Ortheils mit Lutz Seilers (geb. 1963) Die römische Saison. Zwei Erzählungen verglichen. Auch hier steht das Thema der Kreativität und der Erwartungen hinsichtlich der schriftstellerischen Produktion der Villa Massimo-Stipendiaten im Mittelpunkt. Die ‚Ewige Stadt‘, die konventionell als idealer Auslöser des Schreibprozesses gilt, werde bei Seiler doch als Störfaktor bei der eigentlichen schöpferischen Tätigkeit wahrgenommen, die erst aktiv erkämpft werden müsse, wohingegen Ortheils Protagonist, der Rom als eine Inspirationsquelle empfinde, eher passiv handle. Letztendlich gehe es in den beiden Werken „nicht um Rom an sich, sondern um Roms Einfluss auf das Schreiben, um seinen Einfluss auf den Geist des Menschen und seine künstlerische Eingebung.“ Die Flucht vor dem Einfluss des Erinnerungsortes Rom misslinge – aber selbst das Ringen mit diesem Konzept könne sich als fruchtbar erweisen.
Die kulturbildende Funktion der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo wird im Weiteren von Elke Mehnert bestätigt und hervorgehoben. Im Hinblick auf einige deutsche Schriftsteller_innen wie Hanns-Josef Ortheil, Tina Stroheker (geb. 1948), Christine Wolter (geb. 1939) und Ingo Schulze (geb. 1962) untersucht die Autorin verschiedene Rom-Bilder der zeitgenössischen Reiseliteratur ←14 | 15→unter Berücksichtigung ihrer kulturpolitischen Bedeutung. Mit Adolf Muschg stellt sie die Frage nach dem Wesen der europäischen Identität, die in Zeiten von Flüchtlingskrise und BREXIT besonders heikel geworden sei, und verweist in der Antwort auf die gemeinsamen kulturellen Wurzeln der europäischen Länder in der römischen und griechischen Antike und im Christentum, woran die literarischen Rom- und Italienimpressionen gut erinnern mögen.
Martin Hainz’ stark essayistischer Text beschäftigt sich mit der Stadt Rom als Modell und Paradigma im geopolitischen und philosophischen Sinne. Rom sei ein „Knoten, der sich sein Netz etabliert“, primus inter pares und zugleich ein Ort, der sich selbst transzendiert, Inbegriff der Universalität. Die oszillierenden Bedeutungen und Funktionen der ‚Ewigen Stadt‘, in der das Urbane mit dem Globalen (wie in der urbi et orbi-Formel) zusammentrifft, werden vom Autor im Kontext der philosophischen Schriften jüdischer Denker_innen und in Rekurs auf Goethes Dichtung erörtert, wobei die inneren Spannungen, Paradoxien, Hoffnungen und Enttäuschungen sich auch miteinander zu einem netzartigen Gebilde verflechten.
In dem Abschluss-Artikel des Bandes greift Heike Knortz noch einmal das Problem der europäischen Integration auf und korrespondiert somit mit den Reflexionen von Elke Mehnert; ihre Einsichten erweisen sich jedoch weniger optimistisch. Rom und Italien werden nicht nur als traditionelles Reiseziel des Adels und des Bildungsbürgertums charakterisiert, sondern auch als Quelle wichtiger europäischer Integrationsinitiativen. Die italienische Regierung fungierte nach 1945 öfter als Initiatorin der Einigungsbewegung, wenn auch nicht uneigennützig, denn darin habe man eine Lösung der massiven Arbeitslosigkeit gesehen. Habe Italien so auf die innereuropäische Freizügigkeit gedrängt, sollte es später im Schengen-Raum zu dessen größter Gefahr werden: Anstatt seine Funktion als Grenzposten einer EU-Außengrenze wahrzunehmen, habe es sich auf das ‚Durchwinken‘ von Migrant_innen verlegt. Das im Titel des Beitrags in Frage gestellte Gelingen der Migrationspolitik scheint eine reale Gefahr nicht nur für Rom als identitätsstiftenden Erinnerungsort, sondern für ganz Europa darzustellen.
Die Herausgeberinnen möchten sich bei allen an diesem Band Beteiligten bedanken und die Hoffnung äußern, dass das gemeinsame Erinnern an die Wurzeln der abendländischen Kultur die polnisch- und deutschsprachigen Europäer_innen einander noch näher gebracht hat.
Der Philologischen Fakultät der Universität Lodz danken wir für die Finanzierung dieses Bandes.
Details
- Seiten
- 306
- Erscheinungsjahr
- 2020
- ISBN (PDF)
- 9783631830314
- ISBN (ePUB)
- 9783631830321
- ISBN (MOBI)
- 9783631830338
- ISBN (Hardcover)
- 9783631829233
- DOI
- 10.3726/b17324
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2020 (Dezember)
- Schlagworte
- Klassik Romantik Italienbilder Bildungsreisen Villa Massimo Intertextualität Intermedialität Ruine Morbidität
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 306 S., 6 s/w Abb.