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Manfred Gerlach, LDP(D) – Eine politische Biographie

von David Bordiehn (Autor:in)
©2022 Dissertation 462 Seiten

Zusammenfassung

Prominent winkt Erich Honecker vom Cover der Biographie Manfred Gerlachs (1928-2011). Erst ein genauerer Blick lässt den Biographierten schräg hinter dem Staatschef der DDR erkennen. Dem damit versinnbildlichten Problem der politischen Akteure ‚zweiter Reihe‘, ihrer Rolle und Verantwortung, nähert sich die vorliegende Biographie auf doppelte Weise.
Zum einen werden Karriere und Wirken des umstrittenen Blockparteivorsitzenden der LDP(D) und letzten Staatsratsvorsitzenden der DDR nachgezeichnet und dessen Rolle im Herrschaftssystem der DDR analysiert. Zum anderen leuchtet die Biographie die Herrschaftsmechanismen der SED-Diktatur weiter aus.
In den Fokus rückt ein überraschender Befund: Dass es gerade Manfred Gerlachs nonkonformes, »SED-kritisches« Auftreten gewesen ist, das einen eigenen, von der SED einkalkulierten, systemstabilisierenden Beitrag geleistet hat.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Résumé
  • Abstract
  • Zusammenfassung
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Teil: Etablierung (1945–1963)
  • 1.1. Voraussetzungen (1928–1948)
  • Jugendjahre – Von HJ-Karriere und Widerstand
  • Vom Liberalismus zum Sozialismus?
  • 1.2. Profilierung (1948–1954)
  • Ringen um die Jugend: Natonek, Mischnick, Gerlach
  • Jüngster Bürgermeister und Gallionsfigur der ‚gesamtdeutschen Jugend‘
  • „Hamann“ als Lektion
  • „Kritik und Selbstkritik“
  • „10-Punkte“
  • Generalsekretär
  • 1.3. Aufgaben des Funktionärs (1954–1963)
  • Im Zentrum der Partei
  • Die „politische Orientierung“ der Partei
  • „Generalstab ohne Armee“
  • Der Graben zwischen Basis und Führung
  • Die Kultur der Scheindiskussion
  • ‚Demokratie ist, wenn es dem Staate nützt‘
  • 1.4. Bewährungsproben der „Überzeugungsarbeit“
  • Die Verstaatlichung der 50er Jahre
  • Der Mauerbau
  • Vom Scheitern des Funktionärs
  • 1.5. Zwischenergebnis: Antizipierende Folgsamkeit
  • Zum Verhältnis von Gehorchen und Folgsamkeit
  • Vom ‚Zuhören‘
  • Vom ‚Zuhören wollen‘
  • 2. Teil: Alltag des Blockpolitikers (1963–1979)
  • 2.1. Die Zäsur (1961–1963)
  • Kritik im Schatten der Mauer
  • Remis mit der ‚Abteilung‘
  • 2.2. Dienst nach Vorschrift (1963–1972)
  • Die Neuausrichtung der LDPD
  • Die Abschaffung des Generalsekretärs
  • Prag, 1968
  • Die Bedeutung der „Interessenvertretung“
  • Die Verstaatlichung ´72
  • 2.3. Exkurs: Basisrückhalt
  • Besondere Einsichten
  • Verantwortungsbewusstsein
  • Glaubwürdigkeit
  • Autorität
  • 2.4. Enttäuschung (1972–1979)
  • Bitterer Machtwechsel
  • Illusionen fehl am Platz − Die Wirtschaftsentwicklung
  • Enttäuschter Idealismus
  • 2.5. Zwischenergebnis: Fügsamkeit
  • Routine
  • Zur Gleichzeitigkeit von Widerspruch und Treue
  • 3. Teil: Reformjäger oder Reformgejagter? (1979–1990)
  • 3.1. Das Reform-Manuskript (1979–81)
  • Das Schweigen der Funktionäre
  • ‚Lautes Nachdenken‘1374
  • Der übersehene Zensor
  • Die SED hält zu Gerlach
  • 3.2. Das Narrativ einer Liberalisierung seit 1982
  • Von Strategiewechsel und Erfolg
  • Unter den Augen der SED?
  • Innerparteiliche Demokratie und Kommunalpolitik?
  • Sonderfall „Westarbeit“?
  • Der Selbsterhaltungstrieb der Macht
  • Tragische Emanzipation
  • 3.3. Das Ende (1987–1990)
  • Keine Geschenke mehr (´87–´88)
  • Reformer (Frühjahr bis Herbst ´89)
  • Zögerer (November und Dezember ´89)
  • Verloren (Januar und Februar ´90)
  • Epilog (nach 1990)
  • 3.4. Zwischenergebnis: Systemimmanenter Reformer
  • Das Verlassen der Fügsamkeit
  • Falsche Fährte: Die Kategorien Widerstand, Opposition, Dissidenz
  • Reform oder Systemüberwindung?
  • Fazit
  • Politischer Einfluss vor dem Hintergrund der Abhängigkeit von der SED
  • Abschließende Betrachtung zur Mitverantwortung
  • Forschungsdesiderate
  • Archiv- und Literaturverzeichnis
  • Archivalien
  • Gedruckte Quellen und Literatur
  • Personenregister
  • Reihenübersicht

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Einleitung

Gegenstand und Problem

„Offiziell war er in der DDR das, was man ein hohes Tier nannte“, so beginnt der Nachruf eines bekannten wöchentlichen Nachrichtenmagazins auf Manfred Gerlach. Doch schon im Nachsatz scheint sich der Autor in der Assoziation vom einflussreichen Politiker zu widersprechen: Der „Chef eines Abnickervereins“ sei er gewesen.1 Eine solche Widersprüchlichkeit ist symptomatisch für die Einschätzung des politischen Wirkens Manfred Gerlachs auch noch ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Ende der DDR.

Wohlwollende Urteile sehen in Gerlach eine „Ausnahmeerscheinung zwischen rückgratlosen Opportunisten“, wie etwa der mit seinem harschen „Blockflöten“-Urteil über die Blockparteipolitiker gern zitierte Christian von Ditfurth.2 Ein anderer beurteilt Gerlach als einen „gratwandelnden Demokraten“3 und Gerlach selbst erinnert sich an tosenden, minutenlangen Beifall der sich von den Plätzen erhoben habenden Delegierten des letzten Parteitages der LDP(D) im Frühjahr 1990. Eng umringt sei er als Parteivorsitzender nach Jahrzehnten verabschiedet worden. Autogramme seien erbeten worden. Mut habe er gemacht, habe es anerkennend geheißen.4

Am anderen Ende der Skala wird dagegen die „Mär vom liberalen Widerstandsnest um den LDPD-Chef Manfred Gerlach“ kritisiert,5 wird festgestellt, dass Manfred Gerlach vieles gewesen sei, „aber gewiss kein Liberaler“6, und wird die LDPD mitsamt ihrem Vorsitzenden gleich ganz zu „nützlichen Idioten der SED“ erklärt.7

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Zwischen diesen Polen kursieren eine Vielzahl weiterer Vorschläge zur begrifflichen Fassung und Einordnung des Vorsitzenden der LDPD und letzten Staatsratsvorsitzenden der DDR in die Geschichte und das politische System der DDR. Ob Manfred Gerlach ein „Oppositioneller“ gewesen sei, fragt etwa ein Zuhörer auf einer Tagung, während ein anderer im gleichen Raum vom „Wendehals“ Manfred Gerlach überzeugt ist. Zeitgleich werden Bilder vom „Reformer“ und vom „Memorandenoppositionellen“ bemüht, von der „Marionette“, von der „Schaufensterpuppe“ und vom „Liberaldemokraten in Ketten“, um nur einige zu nennen. Woher aber kommen diese widersprüchlichen Einschätzungen, da doch der zu Grunde zu legende Lebens- und Karriereweg Manfred Gerlachs schnell und vor allem unstrittig skizziert ist?

1945 vor dem Hintergrund eines allgegenwärtigen politischen Aufbruchs in die neu gegründete LDPD eingetreten, engagierte sich Manfred Gerlach zunächst vornehmlich in der noch jungen FDJ, die zu diesem Zeitpunkt noch eine Organisation mit überparteilichem Anspruch war. Er gründet die erste Ortsgruppe der FDJ in Leipzig mit, errang in diesen Kreisen bereits Ende der vierziger Jahre überregionale Bekanntheit und machte Bekanntschaft mit anderen Jungfunktionären, von denen nicht wenige später (zumeist SED-)Politgrößen wurden. Im FDJ-Zentralvorstand angekommen, arbeitete er unter anderem mit dem aufstrebenden Erich Honecker zusammen. Als Jungfunktionär in FDJ und zugleich LDPD absolvierte er ein Arbeitspensum, das selbst politischen Gegnern Respekt abnötigte. Er scheute weder die Konfrontation mit älteren und einflussreicheren Politikern und Funktionären noch mit den eigenen Mitgliedern. 1950 wurde er 21-jährig Leipzigs jüngster Bürgermeister, 1954 Generalsekretär der LDPD, später ihr langjähriger Vorsitzender. 1960 berief man ihn als jüngstes Mitglied in den neu gegründeten Staatsrat unter Walter Ulbricht. Dort war er über Jahre für das staatliche Eingabewesen zuständig und kannte daher, wenn auch nicht nur, die Sorgen und Nöte der Bürger aus erster, teils recht unverblümter Hand. Er sprach Missstände öffentlich an und versuchte im Einzelfall persönlich zu helfen. 1989 gehörte er zu denjenigen unter den Spitzenpolitikern, denen man Reformen zutraute. Dennoch stützte er im Wendeherbst, und für Außenstehende überraschend, den von vielen Seiten kritisierten Egon Krenz und folgte diesem schließlich im Amt des Staatsratsvorsitzenden nach. Kein halbes Jahr später trat Gerlach vom Vorsitz der LDPD zurück und wurde nach der ersten freien und zugleich auch letzten Volkskammerwahl (März 1990) von der neuen, übergangsweise mit den Aufgaben eines Staatsratsvorsitzenden betrauten Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl abgelöst. Seine Karriere nahm damit ein Ende und die ←20 | 21→DDR, die mitgegründet zu haben er zeitlebens für sich in Anspruch genommen hatte, endete kaum ein halbes Jahr später.

Wie ist also eine Antwort auf die Frage nach vierzig Jahren „Verantwortung und Mitschuld“ zu geben? Eine Frage, die Gerlach selbst als einer der Ersten nach der Wende gestellt hatte.8 Wie ist eine Antwort zu geben, wenn sie sich nicht in Reduktion, Anklage oder Apologie erschöpfen soll, oder, wenn sie sich nicht, wie es bisweilen wirken kann, von der politischen Nähe bzw. Ferne des jeweils Urteilenden zu Manfred Gerlach beeinflussen lassen soll?

Schnell wird deutlich, dass eine Antwort und bereits die Suche nach einer Antwort weit über die Person Manfred Gerlachs hinausreichen. So sprachen und sprechen andere ehemalige Funktionäre und Blockpolitiker von ihrer damaligen Ohnmacht,9 während Erich Honecker nicht unbegründet feststellte: 40 Jahre DDR, das „waren nicht nur SED, das waren ja auch 40 Jahre CDU, LDPD, NDPD, DBD, das waren Götting und Gerlach und Homann und Goldenbaum“.10 Die Biographie Manfred Gerlachs wird so zur „Sonde, die man in den SED-Staat hineinhalten und die uns interessante Aufschlüsse über den politischen Betrieb der DDR und dessen Personal sowie deren strukturelle Veränderungen vermitteln kann“.11

Forschungsstand und Erkenntnisinteresse

Die Auseinandersetzung mit der Rolle Manfred Gerlachs kann sich auf nur wenige Gerlach-fokussierte Vorarbeiten stützen. Zugleich aber kommt kaum ←21 | 22→einer der vielzähligen Beiträge zur LDPD-Forschung ohne eine Berücksichtigung Manfred Gerlachs aus, teils in analytischer Tiefe.

Zuerst hat sich O. Pfefferkorn für das SBZ-Archiv mit Verantwortung und Einfluss des „Liberaldemokraten“ Manfred Gerlach befasst (1955).12 Sieht man von der dem Zeitkontext einer scharfen Auseinandersetzung zwischen „fortschrittlichen“ und „reaktionären“ Kräften geschuldeten Polemik („Verrat!“) ab, werden von Pfefferkorn bereits zentrale, für Gerlachs Mitverantwortung zu analysierende Felder, wie dessen Positionierung zu politischen Ideen, seine personelle Vernetzung, seine Funktionen und Ämter, benannt.

In der Folgezeit begrenzten zwei Faktoren die weitere (westdeutsche) Auseinandersetzung mit Manfred Gerlach. Zum einen gewährte die beschränkte Quellenlage keinen tieferen Einblick in das Innere des Politikbetriebes der DDR, zum anderen ging die Forschung seit Ekkehart Krippendorffs 1961 erschienener Untersuchung zur Frühphase der LDP(D) von einem „Ende des Parteilebens“ spätestens seit 1952 aus.13 Das hatte zur Folge, dass zwar eine Geschichte der LDPD im Sinne einer Institutionsgeschichte erforscht wurde mit dem Ergebnis, es mit einer „Gefolgschaftsorganisation ohne eigenen politischen Willen“ zu tun zu haben, damit im Anschluss aber auch historischen Vorgängen innerhalb der Partei keine Beachtung beigemessen wurde und werden konnte.14 Auch Manfred Gerlach blieb damit weitgehend unbeleuchtet.

Mit veränderter Quellenlage nach 1989 verwob Gerhard Papke für die Enquete-Kommission des Bundestags unter dem Titel „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ erstmalig die Handlungsspielräume mit der Persönlichkeit Manfred Gerlachs und bescheinigte diesem einen „kontrollierte[n]‌, systemimmanente[n] Nonkonformismus“.15 Nur wenig später zeichnete Ulf Sommer im Rahmen seiner LDPD-Geschichte den Aufstieg Manfred Gerlachs in den fünfziger Jahren nach. Dabei setzte er ←22 | 23→ebenfalls dessen Persönlichkeit in Verbindung mit den Strukturen des Herrschaftssystems und führte dessen Aufstieg dann nicht nur auf eine beanstandungsfreie Pflichterfüllung zurück, sondern zu einem guten Teil auch auf dessen Persönlichkeitszüge: Gerlach habe aufgrund seines Charakters, anders als seine Kollegen, Aufträge der SED nicht „devot“ entgegengenommen, sondern diese „mit eigenem Enthusiasmus“ angereichert.16

Mit dem Abbruch seiner detaillierten Darstellung der Geschichte der LDPD mit dem Mauerbau 1961 und der nur noch kursorischen Abhandlung der übrigen drei Jahrzehnte steht Ulf Sommers Arbeit geradezu exemplarisch für die gesamte LDPD-Forschung: Die Dekaden nach dem Mauerbau sind weder davor noch danach zusammenhängend dargestellt worden.17 Neben der intensiv erforschten Frühzeit der LDPD (bis etwa 1952) hat nur die Rolle der LDPD zur Wendezeit größeres Interesse gefunden.18 Daneben sind verschiedentlich Einzelereignisse, Zeitabschnitte oder Einzelpersonen näher untersucht worden. ←23 | 24→Mit Bezug auf Manfred Gerlach hat Siegfried Suckut im Rahmen der Untersuchung der Gespräche zwischen FDP und LDPD im Jahr 1956 eine engere Verbindung Gerlachs zur Deutschlandpolitik der SED als zu den westdeutschen Liberalen festgestellt.19 Monika Kaisers zentraler Beitrag zur Ausschaltung des Mittelstandes 1972 bezeichnet die Rolle Manfred Gerlachs in diesem Zusammenhang als „unterordnend“ und „kommentarlos“.20 Carsten Tessmer konstatiert dagegen für 1985 ein „wirkliches Bemühen der LDPD“, ihre Vorstellungen gegenüber der SED durchzusetzen, und führt dazu das beharrliche Insistieren Manfred Gerlachs bei der SED auf einen Besuch in der Bundesrepublik an.21 Auch in den zahlreichen Beiträgen Jürgen Frölichs, etwa in der Untersuchung zur Beziehung zwischen FDP und LDPD in den 1970er- und 1980er-Jahren, erscheint der Vorsitzende Manfred Gerlach zumeist als geschickt taktierend und als Kontrast zu Rudolf Agsten, dem SED-nahen „Hardliner“ im LDPD-Vorstand. Schließlich hat Jürgen Frölich den Vorsitzenden Manfred Gerlach als Urheber der „liberal-emanzipatorischen“ Tendenz der LDPD seit Mitte der achtziger Jahre herausgestellt.22 Ähnlich taktierend sieht sich Manfred Gerlach selbst in seiner 1991 erschienenen Autobiographie, die in ihrem apologetischen Tenor doch auch Teile an Selbstkritik enthält.23 2003 hat Reiner Marcowitz in einer biographischen Skizze Manfred Gerlachs Karriere unter der Frage nach dem „Liberalen im SED-Staat“ anhand einer politisch-moralischen Kategorie analysiert.24 Details der Machtstrukturen und des Zeitkontextes werden dabei aber der Kürze der Darstellung wegen größtenteils ausgespart.

Reiner Marcowitz‘ biographische Skizze Gerlachs kann zugleich als Vertreter einer Periodisierungs- oder auch Läuterungsthese eingeordnet werden, die zwischen einem besonders SED-treuen Jungfunktionär und einem sich von der ←24 | 25→SED absetzenden „späten“ Manfred Gerlach unterscheidet.25 – Oder in der Formulierung des eingangs zitierten Spiegel: Nach Jahren der Anpassung habe es Manfred Gerlach doch noch „gedämmert“, dass die Alleinherrschaft der SED „nicht die beste Staatsform“ gewesen sei, und so habe er schließlich für Reformen geworben.26 Diese Läuterungsthese, so oder ähnlich formuliert, kann für sich beanspruchen, herrschende Meinung der Gerlach-Forschung zu sein.

Einigkeit herrscht auch über den Auftrag der LDPD als „de facto extension[s]‌ of the communist party“27 und damit auch über den Auftrag ihres Generalsekretärs und späteren Vorsitzenden Manfred Gerlach, nämlich die der LDPD zugewiesenen Schichten an den Sozialismus heranzuführen,28 was „ein nahezu aussichtsloses Unterfangen“ gewesen sei.29 Während „Anleitung“ und „Kontrolle“ als Instrumente des Herrschaftsmodell der SED mit gegenüber den „befreundeten Parteien“ unstrittig sind, ist deren konkrete Praxis nur wenig beleuchtet: Welche genaueren Abstimmungsprozesse mit der SED zugrunde lagen, kann beim derzeitigen Forschungsstand nicht beantwortet werden.30 Auch die konkrete Ausgestaltung der „Überzeugungsarbeit“ in diesem Zusammenhang ist bislang wenig beleuchtet worden. Dabei seien Parteiführer, so Siegfried Suckut spartanisch, in Nöte geraten, wenn sie die Unterstützung der leninistischen Staatspolitik mit dem weltanschaulichen Charakter ihrer ←25 | 26→Partei argumentativ in Einklang hätten bringen sollen.31 Während die Analyse der Rolle und Funktion Manfred Gerlachs hier Aufschluss bietet, stellt sich zugleich die Frage, welchen Anteil sein Charakter und seine Persönlichkeit an diesem Prozess hatten; an einem Prozess, der bislang vereinfacht als „mechanistische Politik“ aufgefasst wird.32 Gleiche Überlegungen betreffen auch die in der Literatur häufig erwähnte „Ventilfunktion“ der LDPD, ohne dass bislang aufgeklärt worden ist, wie diese praktisch ausgefüllt wurde. Beschränkte sich diese auf die Pflege eines „Meckertums“? Reiner Marcowitz vermutet auch hier einen speziellen Anteil Manfred Gerlachs.33

Der Forschungsstand offenbart zur Rolle Manfred Gerlachs drei die Untersuchung leitende Probleme:

Erstens erscheint die genannte Läuterungsthese zwar aufgrund ihrer vielen Belege plausibel, doch finden sich beim zweiten Blick in die Akten ebenso viele Belege für ein Verhalten Gerlachs, das ihr widerspricht. So kommt es beispielsweise schon 1953, also noch während der von der Läuterungsthese konstatierten Treue-Phase Gerlachs, zu ersten Reibereien mit der SED. Auch danach werden SED-Funktionäre über Jahrzehnte in Gerlach einen schwankenden Kantonisten sehen und sich darüber auch bei ihren Vorgesetzten immer wieder beschweren.34 Für das Ende der 80er Jahre hat Reiner Marcowitz zunächst im Einklang mit der Läuterungsthese die im Kontrast zur SED-Spitze stehende Reformbereitschaft Gerlachs herausgestellt, musste zugleich aber auch auf die Grenzen dieser Reformbereitschaft hinweisen.35 Ließe sich Gerlachs begrenzte Reformbereitschaft vielleicht noch mit der These einer schwachen ‚Läuterung‘ vereinbaren, käme diese dennoch spätestens mit dem Hinweis auf die offene Unterstützung Gerlachs für Egon Krenz während des Wendeherbstes in Erklärungsnot. Könnte die Läuterungsthese derart modifiziert werden, dass sie die ihr widersprechende Belege doch integrieren könnte, oder müsste sie aufgegeben werden?

Eng mit diesem Problem verwoben ist die Frage nach der Gleichzeitigkeit von Widerspruch und Treue Manfred Gerlachs gegenüber der SED. Genügt es hier, „Brüche“ und „Ambivalenzen“ in der Persönlichkeit Gerlachs festzustellen? ←26 | 27→Zumal um den Preis, auf diese Weise das eigentlich zu erklärende Verhalten schlicht als unerklärlich und unauflösbar stehen zu lassen?

In Konkurrenz zur Läuterungsthese steht zudem die These vom „Liberaldemokraten in Ketten“. Dieser Auffassung nach habe sich der „Liberaldemokrat“ Gerlach dem Herrschaftssystem früh angepasst, wobei der verbliebene liberale Persönlichkeitskern dann den Konformismus vereinzelt, aber immer wieder durchbrochen habe. Kann anhand neuer Quellenbefunde zwischen Läuterungs- und Liberaldemokrat-in-Ketten-These eine Entscheidung getroffen werden?

Zweitens folgte die bisherige LDPD-/Manfred Gerlach-Forschung dem „Boom der Geschichte des unangepassten, oppositionellen und widerständigen Handelns“36 und konzentrierte sich in Folge vor allem auf „Konflikte“ und „Widerstand“. Auf diese Weise konnten zwar für konfliktreiche Zeitabschnitte differenzierte Erkenntnisse gewonnen werden, für andere Zeitabschnitte aber mussten im besten Fall „eintönige Kontinuität“, im äußersten Fall „weiße Flecken“ konstatiert werden. So konnte etwa Siegfried Suckut mit einer Fokussierung auf „Widerspruch und abweichendes Verhalten“ zwar Widerspruch an der LDPD-Basis vor dem Hintergrund der Vorgänge in der CSSR 1968 herausarbeiten, wohingegen die Rolle Manfred Gerlachs, genauer sein „Krisenmanagement“, aus demselben Grund unbeleuchtet bleiben musste.37 Exemplarisch dafür ist auch das Ergebnis des Ansatzes, den „äußerlichen Besonderheiten, die die LDPD unter den Blockparteien zwischen 1953 und 1980 auszeichnete“ nachzuspüren.38 Trotz anzunehmender Präsenz Gerlachs in der Darstellung aufgrund seiner parteipolitischen Exponiertheit bleibt er durch die gewählte Fragestellung bezeichnenderweise farblos. Nur am Rande finden sich Hinweise auf parteiinterne Prozesse und eine konkrete Verstrickung mit der SED, denen diese Fragestellung aber nicht nachgehen kann und will. Schließlich muss auf ←27 | 28→zukünftige Forschung verwiesen werden: „Wie sich die Wandlung Manfred Gerlachs […] vom loyalen SED-Verbündeten zum Vorkämpfer einer partiell sich emanzipierenden LDPD im Einzelnen vollzogen hat, ist noch nicht nachvollziehbar, insbesondere liegen ihre tiefen Ursachen nach wie vor im Dunkeln.“39

Zuletzt führt eine Fokussierung auf „Konflikt“ und „Widerstand“ zu Verzerrungen der Interpretation der Rolle und Person Manfred Gerlachs, dann nämlich, wenn das SED-konforme und loyale Verhalten zwar nicht geleugnet wird, aufgrund der Fokussierung auf „Opposition“ und „Widerstand“ aber an den Rand des Blickfeldes gerät. Um also ein differenziertes Bild Manfred Gerlachs zu erhalten, muss gerade auch dem Handeln jenseits von Konflikten und Widerspruch in den Zeiten „eintönig anmutender Kontinuität“ und „langer Agonie“ (Jürgen Frölich) nachgespürt werden.

Drittens kann die gegenwärtige Kategorisierung, die zwischen ‚Gehorsam/Folgsamkeit‘ auf der einen und ‚Opposition/Widerstand‘ auf der anderen Seite unterscheidet, Manfred Gerlach konzeptionell nicht fassen. Denn das zu Grunde liegende Konzept von Gehorsam –

Details

Seiten
462
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631866061
ISBN (ePUB)
9783631866078
ISBN (MOBI)
9783631866085
ISBN (Hardcover)
9783631866054
DOI
10.3726/b18976
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (November)
Schlagworte
Mitverantwortung SED Diktatur DDR Liberaldemokrat Reformsozialismus Akteure zweiter Reihe Fügsamkeit Vorauseilender Gehorsam
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 462 S.

Biographische Angaben

David Bordiehn (Autor:in)

David Bordiehn studierte Geschichte und Altphilologie und wurde an der Freien Universität Berlin promoviert. Neben seiner Tätigkeit als Schulleiter forscht er zu den Themen DDR und Nationalsozialismus.

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Titel: Manfred Gerlach, LDP(D) – Eine politische Biographie
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