Das moderne Theater in Österreich
Trends – Ideen – Fragestellungen
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Table of Contents
- Was ist vom österreichischen Drama der 1960er und 1970er Jahre geblieben?
- Literatur
- Land der Berge. Die Alpen als dramatischer Ort in Stücken von Martin Plattner und Thomas Arzt
- Literatur
- Beschwörungen des Archaischen: Politisches Theater nach Peter Turrini
- Kinski/Herzog-Chiffre
- Tarzans Ruf
- Zurück zum Organischen
- Literatur
- Theater in der Krise oder Krisentheater? Klimawandel und Engagement in Thomas Köcks Klimatrilogie
- „Our house is on fire!“ Die Tragödie der Erde
- Fakten, Performanz und Tragödie. Thomas Köcks Theatertext
- Sympoiesis und das Autor. Köcks theatrale Dramaturgie und Poetik
- Stop talking, start engaging!
- Literatur
- Daniel Kehlmanns ‚Literaturtheater‘
- Einführung
- Die Salzburger Rede – ein Plädoyer für die Werktreue
- Der Mentor – das ‚absurde Ernst‘
- Resümee
- Literatur
- Aspekte des neosozialen Dramas. Am Beispiel von Ewald Palmetshofer: Vor Sonnenaufgang, Thomas Arzt: Alpenvorland und Gerhild Steinbuch: schlafengehen
- Zur Ästhetik des Nach-Scheins sozialer Wirklichkeit im Postrealismus
- „Ich hab zu funktionieren, weißt?“ (Th. Arzt, Alpenvorland)
- „die Menschheit insgesamt liegt in Agonie“ (E. Palmetshofer, Vor Sonnenaufgang)
- „bis man nichts mehr so sehen kann wies wirklich ist“ (G. Steinbuch, schlafengehen)
- Literatur
- Man muss nicht dankbar sein! Die Frauensolidarität und der Kampf gegen den neoliberalen Konsens (Textil-Trilogie von Volker Schmidt)
- Literatur
- Österreichische ‚Frauendramatik‘? Zu Kathrin Rögglas Kinderkriegen und Sophie A. Reyers Mutterbrennen
- Literatur
- Das „Alter [ist] kein Verdienst […], aber auch kein Verbrechen“1 – Thanatopolitik in George Taboris Frühzeitiges Ableben und Constanze Dennigs Exstasy Rave
- Wer gilt als überzählig?
- „Es ist eine ausgezeichnete Idee, Menschen über fünfzig zu eliminieren“11 – künstliche Auslese bei Tabori
- Zwei Happy Ends, kein glücklicher Ausblick
- Literatur
- Willkommen in Auschwitz! Zur Institutionalisierung und Trivialisierung des Shoahgedenkens in Robert Menasses Theaterstück Doktor Hoechst. Ein Faust-Spiel
- Literatur
- Elfriede Jelineks Theaterstücke als Bühne für Kunst und Wissen
- Literatur
- Der Literaturkreis PODIUM und das Theater.Mit Anmerkungen zur polnischen Rezeption des dramatischen Schaffens von PODIUM-Autoren
- Literatur
- Über die Autorinnen und Autoren
- Personenregister
- Titres de la collection
Was ist vom österreichischen Drama der 1960er und 1970er Jahre geblieben?
Abstract: Der Beginn des modernen österreichischen Dramas setzt in den 1960er Jahren ein, seine Nachwirkungen sind auch bei den jüngsten Autoren und Autorinnen zu beobachten, wie der Autor zu zeigen sucht. Im Fokus seiner Erörterungen stehen Dramen von Ewald Palmetshofer und Volker Schmidt sowie Stellungnahmen von Elfride Jelinek.
Schlüsselwörter: österreichisches Theater, Ewald Palmetshofer, die unverheiratete, Peter Turrini, Ich liebe dieses Land, Volker Schmidt, Eigentlich schön
Es ist schon erstaunlich, dass man vom modernen österreichischen Drama sprechen kann. Es macht den Eindruck einer relativ großen Geschlossenheit, unbeeinflusst von Brecht, aber auch von den Schweizern Frisch und Dürrenmatt, und weitestgehend von den sogenannten Absurden. 1973 stellte ich in meinem Artikel „Młoda dramaturgia austriacka“ (Das zeitgenössische österreichische Drama), den ich für die polnische Monatsschrift Dialog verfasst hatte, die These auf, dass die Stücke der jungen Österreicher insbesondere in Westdeutschland die Lücke ausfüllen, die durch das Altern des absurden Dramas entstanden war, und dass sie einen Gegensatz zum engagierten Drama eines Hochhuth oder Peter Weiss darstellten.1 Daran würde ich noch heute festhalten. Ich suchte auch an konkreten Beispielen aufzuweisen, inwieweit wir es im Falle des neuen österreichischen Dramas mit einer Fortführung des absurden zu tun bzw. nicht zu tun haben.
Den Beginn des modernen österreichischen Dramas kann man bei den Skandalstücken von Wolfgang Bauer, wie Party for six (1964) oder Magic Afternoon (1967), bei Turrinis Rozznjogd (1967) oder Sauschlachten (1972) und vor allem Handkes Publikumsbeschimpfung (1966), Kaspar (1967), Sprechstücke genannt, sowie Das Mündel will Vormund sein (1969), wo nicht gesprochen wird, ansetzen. Bernhard folgt etwas später mit Ein Fest für Boris (1970) und Der Ignorant und der Wahnsinnige (1971). Eindrucksvoller waren vorerst dessen Prosawerke, ←13 | 14→von denen ja einige später inszeniert worden sind, insbesondere von Lupa. Unvergessen geblieben ist jedoch der Heldenplatz (1988), der in Österreich für viel Aufregung sorgte. Man kann das Stück sogar zum engagierten Theater rechnen.
Hauptthema der Österreicher sind die Österreicher selber, ihr Leben in der Enge, ihre Garstigkeit unter der Oberfläche des eleganten Freundlich-Seins, die Verdrängung ihrer Schuld bzw. Mitschuld an den deutschen Verbrechen in den späten 1930er Jahren und vor allem im Zweiten Weltkrieg.
Wenn man von dem Weiterleben des modernen österreichischen Dramas bis hin zu Werner Schwab denkt, wird man sogleich Ewald Palmetshofers die unverheiratete (2014) nennen. Die Handlung ist einfach: Kurz vor Ende des Krieges, eine Woche nach dem Fall der Stadt Wien, d.h. am 13. April 1945, und eine Woche vor „des Führers feigem Selbstmord“2, erzählte ein Soldat am Telefon auf dem Postamt in einem österreichischen Dorf, er überlege sich zu desertieren, da der Krieg ohnehin verloren sei. Das hört eine junge Frau mit, die es an den Zellenleiter weitermeldet. Die Folge war, dass der Soldat kurz darauf standrechtlich erschossen wird. Die Denunziantin wird ein Jahr später zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Mich erinnert das an einen Fall, den ich in meinem Denunziationsbuch beschrieben habe: Ein Berliner Feuerwehrmann, welcher der SA angehörte, erzählt in einer Fernsehsendung, wie er während eines Einsatzes nach einer Bombardierung in eines der betroffenen Häuser ging und dort in einer Wohnung die ganze Familie mit einem kleinen Baby dazwischen leblos vorfand. Nur die Wirtschafterin war heil davongekommen. Sie „weinte, war ganz verzweifelt und aufgelöst, sie schimpfte sehr laut und sehr heftig auf die Regierung, die schrecklichen Gesetze usw.“, berichtet der Feuerwehrmann, um fortzusetzen: „und ich, ich war doch in der Uniform eines Polizei-Offiziers.“ Pause, etwas leiser: „Ich sagte zu ihr, hören Sie auf, gute Frau, Sie bringen uns beide um Kopf und Kragen. Ich bin nicht hingegangen und habe gesagt, die alte Schlampe da wagt sie noch […].“3 Irmhild Kohte-Meyer interpretierte diese Nicht-Denunziation in ihrem Artikel „Denunzierung – eine psychoanalytische Sicht auf individuelle und kollektive psychische Geschehnisse“ als ←14 | 15→den Akt eines Mannes, dessen „Ich stabil“ ist, denn er „kann depressive Angst und Sorge zulassen.“ Und er habe auch gesehen, wie er nach eigenen Worten „eine andere Menschlichkeit erlebte.“4 Diese Einschätzung ist absolut übertrieben, denn wovor sollte dieser Feuerwehrmann Angst gehabt haben, wenn er mit der Frau allein in dem zerstörten Haus war. Noch in der Fernsehsendung hatte er nicht die Absurdität der Vorstellung erkannt, dass ihm die Situation als gefährlich erschienen war. Die einzige Zeugin war schließlich die Frau. Sie hätte zu einer oberen Instanz gehen und ihr mitteilen müssen, der Feuerwehrmann habe sich ihr gegenüber nicht wie ein guter Volksgenosse benommen, ein solcher hätte sie ordnungsgemäß als Defätistin anzeigen müssen. Aber das Bekenntnis des Mannes zeigt, wie groß noch am Kriegsende die Bereitschaft zur Denunziation war, so dass man Palmetshofer gern glaubt, zumal er sich auf einen wirklichen, selbst recherchierten Fall berufen kann.
Sein Stück beginnt mit der Einlieferung der mittlerweile über sechsundneunzig Jahre alten Denunziantin in eine Pflegeanstalt, die zugleich ihre einstige Gefängniszelle sein könnte. Die Enkelin bekommt das Tagebuch der Großmutter in die Hand, in der diese ihre Denunziationsgeschichte ohne Gewissensbisse, gleichsam ganz objektiv, aufgezeichnet hatte. Nun setzt die Aufarbeitung der Geschichte, wie es neudeutsch heißt, ein; durch die Spätgeborene. Die Großmutter bedauert nichts, schließlich habe sie ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet, sei nie krank gewesen, habe aber ein Augenleiden durch den Gefängnisaufenthalt davongetragen. Man müsse sich in die damalige Zeit hineinversetzen, will sie sagen. Sie wiederholt die Worte ihres Anwalts, dass der Richter „ein Volljud“5 und der Staatsanwalt „Doppelvolljud“6 gewesen seien. Verhaftet hätten sie „selbst ernannte Polizisten“.7 Die Enkelin stört sich an solchen Worten nicht, sie versucht, die ihr so fremde Situation zu verstehen, schließlich ist sie so alt, wie die Großmutter damals war. Gleichzeitig ist sie mit sich beschäftigt, mit dem Fang von Männern. Im Hintergrund spielen vier Schwestern, die Hundsmäuligen genannt, als Erinnyen das Gericht. Eine wirkliche Abrechnung erfolgt erwartungsgemäß nicht. Die Großmutter nimmt sich am Ende das Leben. Die Theaterkritik verweist auf Bernhard. Wie auch immer sein Einfluss aussehen mag, mit seinen Vorgängern hat Palmetshofer gemein, dass er der Sprache höchste Aufmerksamkeit zuwendet. Hier wäre ←15 | 16→insbesondere der junge Handke zu zitieren, dessen Sprachauffassung ich in Verbindung mit seiner Abgrenzung vom engagierten Drama in meinem Artikel von 1973 als etwas Bemerkenswertes hervorgehoben hatte.8 Palmetshofers Kunstgriff besteht allerdings im Unterschied zu seinen Vorgängern darin, dass er seine Figuren im jambischen Versmaß sprechen lässt, das an das Antike erinnern soll. Die Kritik hebt immer wieder sein Sprachtalent hervor, es handle sich um eine „hoch artifizielle rhythmische Sprache“,9 eine „flexible alltagsnahe Kunstsprache“ oder – kritisch gesehen – „arg kunsthandwerkliche Sprache“.10 Zeitgemäß für das beginnende 21. Jahrhundert ist dagegen, dass im Stück nur Schauspielerinnen auftreten – insgesamt sieben –, was man Jahrzehnte zuvor sich kaum hätte vorstellen können. Palmetshofer beruft sich hierbei auf den historischen Umstand, dass die Jahre nach dem Krieg eine Zeit der Frauenherrschaft war, die Männer waren zum großen Teil auf den Schlachtfeldern geblieben.
Palmetshofer ist sicherlich auch dem Dramentyp á la Wolfgang Bauer verpflichtet. Ich denke hier all das, was die Junge mit den Männern in den in der unverheirateten veranstaltet, u.a. fotografiert sie insgeheim die Genitalien ihrer Bettgenossen und verschickt die Aufnahmen übers Handy. Am Ende erscheint einer der Männer, um sie nach Strich und Faden zu verprügeln. Das hätte auch der Phantasie eines Wolfgang Bauer entspringen können. Man denke an Film und Frau (Shakespeare, der Sadist).
Zu Palmetshofers Textsammlung faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete hieß es im „Spiegel“: „Wer zu Hause Thomas Bernhard stehen hat, Werner Schwab und Elfriede Jelinek, der wird sich über diesen Band ←16 | 17→freuen – und ihn direkt daneben platzieren. Denn die philosophischen Tragikomödien des jungen Österreichers Ewald Palmetshofer, 36, haben das, was die Texte seiner großen Landsleute auch haben: einen eigenen Sound. Den hört man sogar beim Lesen“.11
Nun ist es nicht so, dass in allen Dramen Österreich bzw. die Österreicher thematisiert werden. Man denke nur an Palmetshofers Stück Vor Sonnenaufgang (2017), dem Hauptmanns Drama zugrunde liegt. Es treten die gleichen Personen auf, aber ohne Dialekt zu sprechen und ohne Heranziehung der damals kaum angefochtenen Vererbungstheorie in Bezug auf die Sucht, sich zu betrinken. Und man könnte auch Turrinis recht verrücktes Stück Ich liebe dieses Land aus dem Jahre 2001 als Beispiel anführen. Mit dem Land ist Deutschland gemeint. Ein fünfundzwanzigjähriger Schwarzer aus Nigeria landet in einem elenden Abschiebungsgefängnis. Er hatte, wie man im Laufe der Handlung erfährt, schon in Nigeria unter unmenschlichen Bedingungen im Gefängnis gesessen oder besser gestanden. Ihm wurde gesagt, Deutschland sei ein ideales Land, man könne es nur lieben. Er, der ein Universitätsstudium auf Englisch absolviert hat, hat nur einen deutschen Satz gelernt: „Ich liebe dieses Land“, den er ständig wiederholt, während man ihn verhören will. Die fünfzigjährige Polin, Janina, Putzfrau im Gefängnis, lobt ebenfalls Deutschland. Alles sei besser als in Volkspolen, das sie etwa dreißig Jahre zuvor verlassen hatte. Die raue Behandlung durch den Wachbeamten lässt sie unbeachtet. Beide, der Schwarze, namens Beni, und Janina, kommen sich nah. Er versteht sie nicht, sie verfällt immer wieder ins Polnische, während er Englisch spricht, wenn kein Beamter gegenwärtig ist. Durch einen Zufall kommt er frei. Der Polizeipräsident gibt ihm als Verkleideter bei einer Loveparade die Karte, mit der man alle Gefängnistore öffnen kann. Der sympathische Schwarze erweist sich als jemand, der schnell zuschlägt, wenn man ihm zu nahe tritt. Er findet bei Janina Unterkunft, wird aber schnell wieder verhaftet. Er endet in einer Zelle, in der ein kleingewachsener Mann ihm beistehen möchte. Janina versucht vor dem Gefängnis mit Beni Kontakt aufzunehmen. Die Fensterluke ist jedoch zu hoch. Schließlich gelingt es dem kleinen Mann auf den Schultern des Schwarzen aus der Luke zu schauen und einen ihm unverständlichen Satz von Janina aufzuschnappen. Beni weiß, was er bedeutet, freudig ruft er: „Ich liebe dieses Land“, womit das Stück endet.
Details
- Seiten
- 200
- Jahr
- 2021
- ISBN (PDF)
- 9783631862346
- ISBN (ePUB)
- 9783631867242
- ISBN (Hardcover)
- 9783631833179
- DOI
- 10.3726/b19043
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2021 (Dezember)
- Schlagworte
- Österreichisches Theater der Gegenwart Postdramatisches Theater Theater und Politik Gesellschaftskritik Erinnerungskultur Feminismus
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 200 S., 1 s/w Abb.