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Kann der Autor tot sein? — Eine Studie zeitgenössischer westlicher Literaturtheorie

von Zhang Jiang (Autor:in)
©2022 Monographie VI, 378 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Werk stellt die Ergebnisse von Professor Zhang Jiangs langjähriger Forschung und seiner kritischen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen westlichen Literaturtheorie erstmals einem deutschsprachigem Lesepublikum vor.
Ausgehend von der Beziehung zwischen Autor, Text und Leser gliedert sich das Buch in zwei Teile: „Die zeitgenössischen westlichen Literaturtheorien: Entwicklungen und Tendenzen" und „Zeitgenössische westliche Interpretation: Zwang und Dogmatismus". Dieses Buch analysiert allgemeine Mängel und Probleme der gesamten westlichen Literaturtheorie und argumentiert im Einzelnen, dass die Akzeptanz der westlichen Literaturtheorie in akademischen Kreisen Chinas ein Phänomen „Zwangsinterpretation" darstellt. Es zeigt das tiefgreifende Denken des Autors zur zeitgenössischen westlichen Literaturtheorie.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Teil 1. Die zeitgenössischen westlichen Literaturtheorien: Entwicklungen und Tendenzen
  • 1. Allgemeine Defizite und Probleme
  • 1.1. Theoretische Mängel der zeitgenössischen westlichen Literaturtheorien
  • 1.2. Die Übertragung der westlichen Literaturtheorie in die chinesische Kultur
  • 1.3. Grundlegende Punkte der Konstruktion von chinesischen Literaturtheorien
  • 2. Zeitabschnitt, Positionierung sowie Grundtendenz
  • 2.1. Das Kriterium und die Bedeutung der historischen Periodisierung
  • 2.2. Fundamentale Positionierungen
  • 2.3. Grundlegende Trends
  • 3. Zur Zentrierung der Theorien, ausgehend von einer „Literaturtheorie“ ohne Literatur
  • 3.1. Die Veränderung und Umbildung der Untersuchungsgegenstände
  • 3.2. Der Weg der Theoriebildung
  • 3.3. Der zwanghafte Interpretationsansatz
  • Teil 2. Die Interpretation der zeitgenössischen westlichen Literaturtheorien, Zwanghaftigkeit und Dogmatismus
  • 4. Zwangsinterpretation: Hauptthese
  • 4.1. Aneignung theoretischer Komplexe
  • 4.2. Subjektive Vorbestimmung
  • 4.3. Unlogische Argumentation
  • 4.4. Diffuse Erkenntnis
  • 5. Weitere Diskussionen über wichtige Probleme der Literaturwissenschaft
  • 5.1. Erklärung der Begriffe
  • 5.2. Aneignung von Theorien
  • 5.3. Literarisierung der Theorien
  • 5.4. Subjektive Vorbestimmung
  • 5.5. Die Blindheit des Vorurteils
  • 5.6. Die Unterdrückung des vorbestimmten Modells
  • 5.7. Die Unveränderbarkeit vorbestimmter Schlussfolgerungen
  • 5.8. Ethik der Kritik
  • 5.9. Die Gerechtigkeit der Kritik
  • 5.10. Die Grenze der Interpretation
  • 6. Der Dogmatismus der Zwangsinterpretation
  • 6.1. Das dogmatische Charakteristikum der Zwangsinterpretation
  • 6.2. Kann der Autor tot sein?
  • 6.3. Die Abwesenheit der Intention
  • 6.4. Das Vorurteil ist kein Standpunkt
  • Literaturverzeichnis
  • Index

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1

Allgemeine Defizite und Probleme

Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Wende, an der die westliche Literaturtheorie begann, Einfluss auf die chinesische Literaturtheorie auszuüben. Allmählich entwickelte sich die westliche Literaturtheorie zu einer populären Lehre und erfreute sich eines großen Ansehens. In der literaturtheoretischen Forschung sprechen wir nur von westlichen Literaturtheorien, die schon zur Norm geworden sind, anhand der die chinesische literarische und künstlerische Praxis evaluiert wird, und die gleichzeitig fundamentale Bausteine der chinesischen Literaturtheorie bilden. Zurzeit sind wir mit einem schwer zu lösenden Paradox konfrontiert: Einerseits besteht eine Flut aufeinanderfolgender westlicher Theorien, was ein florierendes Bild zeigt; andererseits haben diese Theorien nur eine geringe Relevanz. Es gibt kaum westliche Theorien, die die Praxis der chinesischen Literaturwissenschaft fördern und die Theoriebildung vorantreiben können. Unter diesen Umständen konfrontiert sich die Forschung, was die Bildung und die Untersuchung der chinesischen Literaturtheorie betrifft, mit einem Dilemma. Daher gilt es, zu überdenken: Wie können wir die westlichen Literaturtheorien identifizieren? Welchen Einfluss üben sie auf die chinesischen Literaturtheorien aus? Wie können sich die chinesischen Literaturtheorien unter dem starken Einfluss der westlichen Literaturtheorien entwickeln?←3 | 4→

Um diese Fragen klar, wissenschaftlich und umfassend zu beantworten, sind systematische und umfangreiche Anstrengungen erforderlich. Deshalb ist es nicht möglich, diese Punkte in einem einzigen Kapitel zu klären. In diesem Buch werden diejenigen Strömungen der westlichen Literaturtheorien als Beispiel genommen, die in der Vergangenheit in China eingeführt wurden und großen Einfluss auf die chinesischen Literaturtheorien hatten. Darüber hinaus werden hier nur ein Gesamtkonzept und die grundlegende Richtung der Konstruktion der chinesischen Literaturtheorien vorgebracht. Zukünftige Arbeiten können auf dieser Basis dann auf die spezifischeren Fragen eingehen.

1.1. Theoretische Mängel der zeitgenössischen westlichen Literaturtheorien

Im Vergleich zu den einstigen modernen und klassischen Literaturtheorien haben die Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts bahnbrechende Fortschritte erzielt. Diese haben sich wesentlich vertieft und erweitert. Zudem leisten sie einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Einzigartigkeit von literarischen und künstlerischen Disziplinen und zu deren Spezialisierung. Trotzdem müssen wir uns bewusst werden, dass die westlichen Literaturtheorien uns keinesfalls einen unangefochtenen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben. Sie bereiten uns nur einen vagen Weg vor, der tastende Versuche ermöglicht. Einige Wissenschaftler haben bereits Kenntnis davon genommen und tragen dazu bei, darüber zu reflektieren.1 Allerdings reicht es bei Weitem nicht aus.

(1) Abweichung von der literarischen Realität

Viele einflussreiche Schulen westlicher Literaturtheorien, die mehr oder weniger von der literarischen Praxis oder von den literarischen Erfahrungen abweichen, interpretieren die Literatur anhand von Theorien aus anderen Disziplinen und entwickeln diese zur gängigen Literaturtheorie. Diese Theorien gehen meistens nicht von der greifbaren Praxis, sondern eher von anderen abstrakten Theorien aus. Unter diesen Umständen entpuppen sich die literarischen Werke lediglich als Belege, mittels derer sich die Theorien bestätigen lassen. Diese Selbstbestätigung führt dazu, dass sich die Wissenschaftlichkeit von westlichen Literaturtheorien bezweifeln lässt. Ein typisches Beispiel dafür ist die aus der Psychoanalyse von Sigmund Freud hervorgegangene Literaturtheorie.←4 | 5→

Sigmund Freud war kein Literaturkritiker, sondern brachte seine Theorien als Psychologe vor. Schon im Jahr 1896 prägte er das Wort „Psychoanalyse“ und wandte dies in der Praxis an. Seine 1900 veröffentlichte Traumdeutung bildete den theoretischen Rahmen der Psychoanalyse. Seine Anschauung und Äußerungen in Bezug auf Literatur und Kunst ließen sich als Nachweis der Psychoanalyse zur Anwendung bringen, nachdem die Psychoanalyse aufgekommen war. Viel zitierte Aufsätze wie „Der Dichter und das Phantasieren“ (1908), „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ (1910), „Der Moses des Michelangelo“ (1914), „Eine Kindheitserinnerung aus Dichtung und Wahrheit“ (1917) und „Dostojewski und die Vatertötung“ (1928), deren wichtige Einsichten aus der Psychoanalyse resultierten, wurden nach der Entstehung der Psychoanalyse veröffentlicht. Doch vor allem zielten solche Theorien darauf, die Psychoanalyse zu rechtfertigen, statt systematische Theorien für Literatur und Kunst zu entwickeln. Wenn wir Freuds Theorien als Literaturtheorien ansehen, sind zwei Punkte diskussionswürdig.

Einer ist die Grundlage der Theorie. Die Ansichten von Freud lassen sich auf eine bestimmte Prämisse zurückführen, nämlich auf den „Ödipuskomplex“. Um die Literatur und ihre Geschichte zu deuten und eine seinem eigenen Wunsch entsprechende Schlussfolgerung ziehen zu können, konnte er seine Theorien nur mit Vermutungen und Hypothesen aufstellen sowie diese auf möglichst viele Texte übertragen. Trotz des logischen Fehlers im Ansatz korrigierte er diesen nicht. Der Aufsatz „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ ist ein gutes Beispiel dafür.

Freud hat diesen Aufsatz als eine Biographie der Psychoanalyse verfasst. Im Oktober 1909 schrieb er in einem Brief an C. G. Jung: „Wir müssen den Bereich der Biographie auch erobern.“ Und er fuhr fort: „Das Charakterrätsel von Leonardo da Vinci löst sich plötzlich vor mir. Mit seiner Hilfe können wir den ersten Schritt in den Bereich der Biographie treten.“ Er hat Leonardo da Vinci als einen Psychopathen betrachtet und zu seinen Freunden gesagt, „dass er einen bekannten Patienten hat.“2 Freud ist nicht von den Werken da Vincis ausgegangen, sondern hat den Ödipuskomplex vorausgesetzt und ein Fragment der Kindheitserinnerung von Leonardo da Vinci aus zahlreichen Dokumenten ausgewählt, die die von ihm erwünschten Folgerungen bestätigten. Da Vinci schrieb in seinen Notizen: „Es kommt mir als eine ganz frühe Erinnerung in den Sinn, als ich noch in der Wiege lag, ist ein Geier zu mir herabgekommen, hat mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und viele Male mit diesem seinen Schwanz gegen meine Lippen gestoßen.“3 Von dieser Erinnerung ausgehend hat Freud Folgendes festgestellt: „In der heiligen Bilderschrift der alten Ägypter ←5 | 6→wird die Mutter allerdings mit dem Bilde des Geiers beschrieben.“4 Da Vinci habe seine Vaterliebe von der Geburt an verloren. Der Geier soll als Symbol der Mutter gelten. Der Schwanz des Geiers wird mit der Brust der Mutter gleichgesetzt. „Wir deuten die Phantasie auf das Gesäugtwerden durch die Mutter und finden die Mutter ersetzt durch einen – Geier.“5 Auch beschreibt Freud, dass Leonardo, das illegitime Kind, im Alter von drei oder fünf Jahren in den Haushalt seines Vaters aufgenommen wurde, nachdem dieser ihn und seine Mutter verlassen hatte. Deshalb habe er mit zwei Müttern gelebt: seine eigene Mutter und die Frau des Vaters. „Weil es zwei hübsche junge Frauen in seiner Kindheit gab, die ihn liebten, lag ein vages und rätselhaftes Lächeln auf Mona Lisas Lippen. Die Immortalität von Mona Lisa ergab sich aus den kreativen Funken zwischen Erfahrung und Erinnerung.“6 Leonardos Ödipuskomplex sei der Grund, der sein Meisterstück hervorgebracht hat.

Aber trifft das Bild vom Geier zu? Ist es als Voraussetzung für alle Argumente zuverlässig? Schon im Jahr 1923, als Freud noch lebte, hat man darauf hingewiesen, dass die deutsche Übersetzung von Leonardos Notizen nicht ganz exakt ist: das italienische Wort „nibbio“ bedeutet nicht „Geier“, sondern „Milan“. „Milan“ ist ein gewöhnlicher Vogel und hat nichts mit dem Mutterbild zu tun. Ungeachtet dessen konnte „der Überbau von Freud auf einer falschen Übersetzung einem Sturz nicht entkommen“.7 Auch wenn die Notizen nicht falsch übersetzt worden wären – was veranlasste Freud zu der Schlussfolgerung, dass Leonardo das Bild verstand und es so auf ihn einwirkte, wie dargestellt? Es gibt weder Beweise noch bestimmte Gründe, das heißt, Freuds Auffassungen beruhen lediglich auf einer Vermutung: „Leonardo kann das wissenschaftliche Märchen [...] sehr wohl gekannt haben“, denn „er war ein Vielleser, dessen Interesse alle Gebiete der Literatur und des Wissens umfaßte“. „Wir können den Umfang seiner Lektüre kaum überschätzen. […] So wären wir von einem anderen Werke Leonardos her zur Bestätigung der Ahnung gekommen.“8 Freud benutzte Formulierungen wie „wohl“ und „schätzen“ ohne irgendwelche Belege, der Aufsatz beruht auf Annahmen. Von diesen Vermutungen ausgehend suchte Freud den Beweis für sie. Trotz des offensichtlichen Irrtums hielt Freud an seine Ideen fest. Zwar war sich Freud seiner falschen Übersetzung von „nibbio“ zu „Geier“ bewusst, berichtigte jedoch im Laufe seines Lebens diesen Fehler nicht. Wieso? Dafür gibt es mehrere Gründe. Freud war sich darüber im Klaren, dass der Verzicht auf diese These zum Scheitern all seiner Vermutungen führen würde und sein vielbeachtetes Werk danach nur schwer Akzeptanz finden würde.

Ein zweiter diskussionswürdiger Punkt ist Freuds theoretische Logik. In seiner Traumdeutung erwähnte er mehr als 50 westliche antike und moderne ←6 | 7→literarische Texte, und zwar von den Homerischen Hymnen der griechischen Antike bis zu Adam Bede von George Eliot in der Gegenwart, um seine psychoanalytische Theorie zu belegen. Es lässt sich nicht leugnen, dass einige von Freuds literarischen Äußerungen scharfsinnig erschienen, weil sie neue Forschungsrichtungen erschlossen haben. Bei näherem Hinsehen kann man aber erkennen, dass Freud nicht von den literarischen Erfahrungen, sondern von seiner eigenen Theorie ausging. Im Grunde genommen hat Freud die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis sowie zwischen Erkenntnis und Praxis entstellt. Darüber hinaus weisen seine Vermutungen und Kombinationsmethoden große Schwächen auf.

Die Analyse der griechischen Tragödie König Ödipus wird als eines der bedeutendsten Werke Freuds betrachtet, mit dem er seine These vom Ödipuskomplex begründen wollte. Er sprach von „den Träumen vom Tod teurer Personen“, bei denen es sich um den Tod eines geliebten Verwandten, der Eltern, Geschwister oder Kinder handelte. „Die Träume vom Tode der Eltern betreffen überwiegend häufig den Teil des Elternpaares, der das Geschlecht des Träumers teilt, daß also der Mann zumeist vom Tode des Vaters, das Weib vom Tode der Mutter träumt.“9 Dieses Phänomen werde von der sexuellen Entwicklung der Kinder bestimmt. Sehr frühzeitig erwachen die sexuellen Wünsche des Kindes, „und daß die erste Neigung des Mädchens dem Vater, die ersten infantilen Begierden des Knaben der Mutter gelten. Der Vater wird somit für den Knaben, die Mutter für das Mädchen zum störenden Mitbewerber, und wie wenig für das Kind dazu gehört, damit diese Empfindung zum Todeswunsch führe“.10 Aus diesem Grund kommen die „Träume vom Tod teurer Personen“ häufig vor. Freud fügte hinzu, dass „das Altertum uns zur Unterstützung dieser Erkenntnis einen Sagenstoff überliefert hat“11. In den früheren Formulierungen hat Freud die Träume gedeutet, statt dieses Phänomen zu benennen. Folgende Argumentation ist einer näheren Diskussion wert. Freud sagte:

„Das Altertum hat uns zur Unterstützung dieser Erkenntnis einen Sagenstoff überliefert, dessen durchgreifende und allgemeingültige Wirksamkeit nur durch eine ähnliche Allgemeingültigkeit der besprochenen Voraussetzung aus der Kinderpsychologie verständlich wird. Ich meine die Sage vom König Ödipus und das gleichnamige Drama des Sophokles.“12

Es ist der ursprüngliche Beweis des Ödipuskomplexes. Die Logik dahinter ist die folgende: Erstens, die „Entdeckung“ des Autors, nämlich die Kinderpsychologie, gilt als eine Voraussetzung; zweitens, diese „Entdeckung“ muss von einer „alten Sage“ bestätigt werden; drittens, die von der Sage bestätigte „Entdeckung“ ←7 | 8→beweist umgekehrt die „alte Sage“ (hier wird das Wort „verständlich“ benutzt); viertens, die Formulierung „ich meine … “ zählt zu den weiteren Beweisen dafür, dass der Begründungsprozess des Autors von einer Hypothese der Klassik ausgeht, das heißt, die Hypothese wird mithilfe der Klassik belegt und die Klassik wieder bestätigt.

Das logische Problem liegt hier darin, dass die gegenseitige Bestätigung zwischen der Sexualpsychologie der Kinder und der Tragödie König Ödipus einen Zirkelschluss bildet, was als ein typischer Irrtum bzw. als fehlerhaftes Argument gilt. Es lässt sich auf die folgende Weise formulieren: Die Hypothese ist P, die Sage ist Q, wenn Q, dann P; wenn P, dann Q. Es fehlt diesem Zirkelschluss an Logik.

Im Anschluss beging Freud bei der Deutung von Shakespeares Hamlet einen ähnlichen Fehler. Nachdem er zur Debatte über den Charakter des Helden Stellung genommen hatte, deutete Freud Hamlets Ödipuskomplex auf folgende Weise:„Ich habe dabei ins Bewußte übersetzt, was in der Seele des Helden unbewußt bleiben muß.“13 Mittels der Geschichte des Helden hat Freud die Richtigkeit seiner Theorie der Psychoanalyse bewiesen, die durch den unbewussten Ödipuskomplex Hamlets bestätigt wurde. „Wenn jemand Hamlet einen Hysteriker nennen will, kann ich es nur als Folgerung aus meiner Deutung anerkennen.“14 Das heißt, dass nur seine Hypothese die Logik der Handlungen von Hamlet beweisen konnte. Beim Eingehen auf die Handlungen kann man sich ein tieferes Verständnis für die Validität von Freuds Theorien verschaffen. Auch das ist ein Zirkelschluss. Anhand der Handlungen von Hamlet hat Freud seine Hypothese unter Beweis gestellt. Andererseits hat Freud mithilfe seiner Hypothese die Logik und die Angemessenheit der Handlungen belegt.

Unbeschadet der wahrscheinlich positiven Auswirkung auf die Entwicklung der Literaturtheorie und -kritik zählt diese Methode nicht zum eigentlichen Generierungsprozess von literarischen Theorien, weil diese Methode von den literarischen Erfahrungen abweicht und die vorhandenen Theorien anderer Disziplinen direkt übernimmt. Beim Verfassen der Traumdeutung beabsichtigte Freud weder die Untersuchung von Literaturtheorien noch Literaturkritik, sondern zielte darauf ab, mithilfe von verschiedenen Theorien, inklusive der literarischen Theorie, die Richtigkeit seiner psychoanalytischen Theorie und Methode zu beweisen. Von den literarischen Theorien und Praxis abweichend konnte Freuds Psychoanalyse weder die ästhetische Norm noch den Hinweis auf die Generierung und Bereicherung der literarischen Theorien bieten. Darüber hinaus konnte seine Theorie die Schaffung und Herstellung der Literatur nicht lenken. Dies war nicht nur ein schweres Defizit der Psychoanalyse Freuds, sondern gehörte zu den allgemeinen ←8 | 9→Schwächen in verschiedenen Strömungen westlicher Literaturtheorien. Dieser Irrtum erreichte seinen Höhepunkt bei den literarischen Untersuchungen, für die die Quelle der Theorie nicht die literarische Praxis war. Außerdem kehrten sich die Untersuchungen von der Literaturwissenschaft ab und dehnten sich auf Gegenstände aus dem Bereich der allgemeinen Literatur aus.

(2) Intoleranz und Extremismus

Literaturgeschichtlich betrachtet basieren die Entstehung und die Verbreitung vieler westlicher Literaturtheorien auf der Kritik an sowie auf dem Einwand gegen die vorherigen Theorien und Lehren. Im Grunde genommen gelten die zwei Hauptströmungen, Verschiebungen und Wenden in der westlichen Literaturtheorie15 als Umsturz der früheren Theorien und Methoden. Wenn man die Entwicklung der Ausdrucksformen und Methoden analysiert, ist es verständlich, dass die westliche Literaturtheorie ausgeschöpft und überkorrigiert wird. Allerdings verliert jedes Konzept seine Rationalität, wenn sich Intoleranz und Extremismus entfalten und es exzessiv ausgelegt wird. Darin liegt der Grund, warum es im 20. Jahrhundert so viele Strömungen der westlichen Literaturtheorien gab und sie einander ablösten, ohne jedoch ein vollständiges System zu bilden. In letzterer Hinsicht zählt der russische Formalismus als ein überzeugendes Beispiel.

Der russische Formalismus entpuppte sich als ein schwerer Schlag für die traditionelle Literaturkritik. Im Vergleich zur theoretischen Tradition, die sich auf die soziologische Kritik konzentrierte, widmeten sich die Angehörigen des Formalismus der theoretischen Auseinandersetzung und Untersuchung der Literaturform. Darüber hinaus leisteten sie auch einen Beitrag zur Bereicherung der kreativen Theorien, dessen Wert unterschätzt wird. Die Vorzüge des Formalismus haben sich in den modernen Literaturtheorien durchgesetzt und wirken sich automatisch in vielen Bereichen aus. Wenn aber formale Kriterien als einziger Faktor der Literatur betrachtet werden und ihre Funktion als allumfassend angesehen wird, mit der Aussage, dass die Form den Inhalt überwiegt und die Form die Literarizität bestimmt, dann geht der Formalismus ins andere Extrem über. Solche intoleranten und extremen Gedanken führten zum Verfall des Formalismus. „Obwohl der russische Formalismus die Literatur und Kunst in der späteren Zeit für eines der sozialen Systeme gehalten hat, hat er allerdings die Literatur und Kunst nicht völlig von der formalstrukturellen Analyse befreit, was einen Einfluss auf den ursprünglichen Zweck der Formalisten geübt hat, der versuchte, die Besonderheit der Literatur und Kunst zu erklären.“16 All dies hat in der Geschichte der Literaturkritik eine traurige Spur hinterlassen.←9 | 10→

Details

Seiten
VI, 378
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9781433193606
ISBN (ePUB)
9781433193613
ISBN (Hardcover)
9781433193590
DOI
10.3726/b19139
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Mai)
Schlagworte
Kann der Autor tot sein? — Eine Studie zeitgenössischer westlicher Literaturtheorie Zhang Jiang Zwangsinterpretation Hermeneutik Author Rezeptionstheorie Literaturtheorie Literaturkritik Gadamer Heidegger
Erschienen
New York, Bern, Berlin, Bruxelles, Oxford, Wien, 2022. VI, 378 S.

Biographische Angaben

Zhang Jiang (Autor:in)

Zhang Jiang (PhD in Philosophie) ist ehemaliger Vizepräsident der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und Professor und Mitglied des Akademischen Ausschusses der Universität der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie und Literaturkritik.

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Titel: Kann der Autor tot sein? — Eine Studie zeitgenössischer westlicher Literaturtheorie
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