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Ethik der Kirche

Ein vernachlässigtes Thema

von Lukas Ohly (Autor:in)
©2022 Monographie 342 Seiten

Zusammenfassung

Warum ist es eigentlich schlimm für das Christentum, dass die Kirche Mitglieder verliert? Diese Frage ist in fünf Jahrzehnten einer kleiner werdenden Kirche nicht gestellt worden. Damit ist auch versäumt worden, die ethische Dimension der Kirchenmitgliedschaft zu verhandeln. Bislang definiert sich Kirche über ihren evangeliumsgemäßen Auftrag und reduziert ihre Mitglieder darauf, das zu tun, was sie tut. Dabei wird übersehen, welches Verhältnis die Kirchenmitglieder zueinander haben. Doch genau darin steckt das ethische Potenzial der Kirche. Die vorliegende Studie fasst die Kirche im Sinne der politischen Theorie als Gemeinschaft, die durch die unmittelbare Beziehung der Mitglieder konstituiert wird. Sie ist kein Gut, sondern vermittelt Rechte und Pflichten. Ihr Wesen ist Anerkennung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Wer hat ein Problem mit einer kleiner werdenden Kirche?
  • 1.1 Worin liegt im Mitgliederschwund das Problem?
  • 1.2 Die Ethik und der Mitgliederschwund
  • 1.3 Der Aufbau dieser Ethik
  • 2 Ist die Kirche überhaupt ethisch?
  • 2.1 Partikularismus und Universalismus in der Philosophischen Ethik
  • 2.2 Axel Honneths Ethik der Anerkennung
  • 2.3 Die Kirche als Anerkennungsgemeinschaft
  • 2.3.1 Liebe
  • 2.3.2 Solidarität
  • 2.3.3 Recht
  • 2.4 Innerkirchliche Konflikte der Anerkennungsformen
  • 2.4.1 Vorrang des Rechts
  • 2.4.2 Vorrang des universalen Rechts?
  • 2.5 Der ethische Charakter der Kirche
  • 3 Dietrich Bonhoeffers Ekklesiologie als anerkennungstheoretische Weiterführung
  • 3.1 Anerkennung als Ausgangspunkt und Ziel
  • 3.2 Welche Art von Anerkennungsgemeinschaft ist die Kirche?
  • 3.3 Wie wird Stellvertretung konkret?
  • 3.4 Übertragbarkeit auf die Gegenwart
  • 4 Kirche als Hybrid – Kirchentheoretische Perspektiven
  • 4.1 Institution, Organisation, Bewegung
  • 4.2 Der implizite ethische Anspruch der Hybrid-Theorie
  • 4.3 Ergebnis: Was erreicht die Hybrid-These ethisch?
  • 5 Anerkennung und kirchliches Vermögen. Kirchlich-ethischer Umgang mit der Vermögenskrise
  • 5.1 Kann es eine Kirche ohne Vermögen geben?
  • 5.2 Herrscht in einer ärmeren Kirche weniger Reziprozität?
  • 5.3 Folgerungen
  • 6 Wie durchsetzungsfähig ist die Kirche als politische Gemeinschaft?
  • 6.1 Der Ordnungsbegriff als Hintergrund evangelischen Staatsverständnisses
  • 6.2 Friedrich Gogarten
  • 6.3 Martin Niemöller
  • 6.4 Karl Barth368
  • 6.5 Eilert Herms
  • 6.6 Mehr Ordnung nötig als über freiwillige Selbstverpflichtung?
  • 6.6.1 Zwischenstand
  • 6.6.2 Die Bedeutung formaler Anerkennung für die Distanzierten
  • 6.6.3 Klassische Disziplinierungsmaßnahmen
  • 6.6.4 Die Anerkennung des Heiligen Geistes im Kirchenrecht
  • 6.6.5 Pneumatologische Deutung der Erosion von Kirchenbindung
  • 6.7 Rettet der Heilige Geist die Kirche?
  • 7 Kirchliche Handlungsfähigkeit angesichts zurückgehender Zahlen
  • 7.1 Welche Zwecke rechtfertigen die Bereitstellung der Mittel?
  • 7.1.1 Anforderungen an eine ethische Rechtfertigung der Mittelvergabe
  • 7.1.2 Der ethische Zweck der Kirche
  • 7.2 Ein Vorschlag zur Finanzierung kirchlicher Arbeit
  • 7.2.1 Konzentration des Kirchenvermögens
  • 7.2.2 Umwandlung der Kapitalien
  • 7.3 Sind hohe Kapitalvermögen ethisch?
  • 7.3.1 Wachsende Abhängigkeit von der Geldwertentwicklung
  • 7.3.2 Sind die sozialen Umbrüche gerechtfertigt?
  • 7.3.3 Wofür darf die Kirche über Eigentum verfügen?
  • 7.3.4 Erheblicher Einfluss auf die Volkswirtschaft
  • 7.3.5 Realistisches Szenario?
  • 7.4 Kritik an der faktischen EKD-Strategie. Ein Beispiel
  • 7.4.1 Straffere Organisation
  • 7.4.2 Neue Produkte
  • 7.4.3 Zusammenfassung
  • 7.5 Ergebnis
  • 8 Ist Kirche eine Freizeitanbieterin? Anmerkungen zur Lebensrelevanz der Kirche
  • 8.1 Trends kirchlicher Freizeitangebote
  • 8.2 Freizeitanbieterin aus Notwendigkeit oder aus Freiheit?
  • 8.2.1 Sind kirchliche Dienste für die Dienstnehmer notwendig?
  • 8.2.2 Ist die Kirche frei, eine Freizeitanbieterin zu werden?
  • 8.3 Welche Lebensrelevanz hat die Kirche ohne Freizeitangebote?
  • 9 Ethische Prüfkriterien einer digitalen Kirche
  • 9.1 Was ist ein christlicher Gottesdienst?
  • 9.2 Unmittelbare Anerkennung in digitalen Gottesdiensten?
  • 9.2.1 Internet-Gottesdienste
  • 9.2.2 Digitale Urheber
  • 9.3 Allgemeine ethische Maßstäbe digitalen kirchlichen Handelns
  • 9.3.1 Informieren
  • 9.3.2 Beziehungen pflegen
  • 9.3.3 Digitale Gemeinschaftsformen finden
  • 9.3.4 Mustererkennungen einschränken
  • 9.3.5 Strategische Vorteile digitaler religiöser Konkurrenten gelassen hinnehmen
  • 10 Verkündigung oder Kommunikation des Evangeliums?
  • 10.1 Verkündigung als Machtausübung
  • 10.1.1 Machtausübung in der einseitigen Reflexion auf Verkündigung
  • 10.1.2 Machtausübung der Verkündigung selbst
  • 10.1.3 Drohende Entmündigung der Gemeinde durch das Predigtamt und der faktische Umgang unter den Kirchenmitgliedern
  • 10.2 Welche christlichen Kommunikationsmodi gibt es außer der Verkündigung?
  • 10.3 Ethische Alternativen zum Vorrang der Verkündigung?
  • 10.4 Evangelische Freiheit und ethische Verbindlichkeit
  • 11 Kirche als gewaltaffine Institution
  • 11.1 Evangelisches Gewaltpotenzial
  • 11.2 Aus der gewaltaffinen Institution austreten
  • 11.3 Mittel der Gewalteindämmung
  • 11.3.1 Judith Butlers Konzept der Gewaltlosigkeit
  • 11.3.2 Folgen für die Kirche
  • 11.4 Kirche des Protests
  • 12 Grenzen dieser Ethik der Kirche
  • 13 Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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1 Wer hat ein Problem mit einer kleiner werdenden Kirche?

Irgendwie alle scheinen zu denken, dass die Kirche ein Problem hat. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sich das Problem eindeutig formulieren lässt, sodass sich alle einig sind, dass darin das Problem liegt. Damit hängt zusammen, dass wir vermutlich uns nicht darin einig sind, seit wann das Problem besteht.

Ich formuliere als Beispiel das Problem, wie es etwa die Medien auf den Punkt bringen: Die Volkskirche verliert Mitglieder. Etwa ein Prozent der evangelischen Christen tritt pro Jahr aus der Kirche aus. Darüber hinaus lassen evangelische Eltern ihre Kinder seltener taufen als noch vor Jahrzehnten. Über Jahrzehnte lag die Taufbereitschaft der evangelischen Eltern bei etwa 90 Prozent. Faktisch wurden weniger Kinder getauft, aber die Bereitschaft, das eigene Kind zu taufen, lag bei fast jedem evangelischen Elternteil vor. In der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung aus dem Jahr 2012 hat sich auch das verändert. Inzwischen wollen nur 80 Prozent Kirchenmitglieder unter 30 Jahren ein eigenes Kind taufen lassen.1

Dazu kommt, dass die demografische Struktur der evangelischen Kirchenmitglieder einen höheren Altersdurchschnitt hat als die deutsche Gesamtbevölkerung. Evangelische Christen bekommen allein dadurch, dass sie älter sind als der Rest der Bevölkerung, weniger Kinder. Das alles zusammengenommen führt dazu, dass nach einer Freiburger Studie aus dem Jahr 2019 die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder in Deutschland bis 2060 nur noch halb so hoch sein wird wie zum Zeitpunkt der Erhebung.2

1.1 Worin liegt im Mitgliederschwund das Problem?

Soweit die kurze Skizze des Problems! Ich behaupte trotzdem, dass wir uns vermutlich nicht einig darin sind, worin eigentlich in diesen Daten das Problem liegt. Es könnte darin liegen:

Damit sind völlig unterschiedliche Probleme formuliert, und wer in nur einem Punkt ein Problem sieht, muss in den übrigen keins sehen. Außerdem lassen sich unterschiedliche Lösungen für die Probleme finden:

Ad 1) Der Institutionsverlust: Warum muss Kirche eine Institution sein? Geht es nicht auch beweglicher, frischer, spontaner – und vielleicht auch kleiner?

Ad 2) Die Finanzierung kirchlicher Arbeit: Viele Sozialträger übernehmen schon seit Jahrzehnten die klassischen Aufgaben der Diakonie. Es gibt kein exklusives kirchliches Beratungsangebot, das nicht auch von anderen Sozialträgern übernommen worden wäre. Die 21.000 evangelischen Kirchen, die instandgehalten werden müssen, könnten auch über Kulturvereine oder Stiftungen erhalten oder schließlich verkauft werden, wenn sie bei kleineren Gemeinden nicht mehr genutzt werden. Das Einzige, was einigermaßen exklusiv ist, ist die christliche Verkündigung. Aber wenn es weniger Christen gibt, ist der Bedarf an christlicher Verkündigung auch kleiner. Natürlich könnte man einwenden, dass der Bedarf an kirchlicher Mission jetzt höher wird. Aber warum soll er höher sein? Das führt zu einem anderen Problem, das ich später behandle.

Darüber hinaus muss es keinen direkten Zusammenhang geben zwischen der Zahl der Mitglieder und der Höhe der Finanzen. Kirchliche Arbeit könnte auch kapitalbasiert finanziert werden. Tatsächlich ist das Finanzierungssystem beider Volkskirchen in Wirklichkeit eine Mischform. „Die EKD ist mit 330.000 ha der größte Landeigentümer in Deutschland.“3 Zwar werfen die Pachtbeträge wenig Geld ab. Dennoch handelt es sich bei diesen ←16 | 17→Immobilien aus wirtschaftlicher Sicht um ein enormes Kapital. Dazu kommen hohe Rücklagen. Die Volkskirchen unterhalten Banken, die mit Geld wirtschaften, das ihnen Sparer zur Verfügung stellen, um damit Geschäfte zu machen. Man kann fragen, ob die Kirche ihr Kapital effizient einsetzt. Diese Frage wird in diesem Buch behandelt. Aber die Behauptung lässt sich nur schwer halten, dass die Kirche wenig Kapital hat. Es wäre denkbar, dass die Kirche ihre Arbeit stärker kapitalgestützt finanziert und weniger durch Mitgliedereinnahmen.

Ad 3) Weniger kirchliche Berufe: Noch sind die beiden Volkskirchen nach dem Staat die zweitgrößten Arbeitgeber in Deutschland. Immer wieder erhalten angeschlagene Firmen in Krisen Staatshilfen (so in der Weltfinanzkrise von 2008 oder während der Corona-Krise 2020). Die Kirche erhält dagegen regelmäßige Staatsleistungen, mit denen etliche Arbeitsstellen bezahlt werden (Erzieherinnen, Sozialarbeiterinnen). Der Mitgliederrückgang in der evangelischen Kirche hat darauf keine unmittelbaren Auswirkungen.

Anders ist es allerdings wirklich bei Kirchenmusikerinnen und Pfarrerinnen. Aber auch Kirchenmusik wird inzwischen oft von Fördervereinen finanziert – ganz ähnlich wie Dirigentenstellen bei Gesangsvereinen. Gelegentlich versucht man solche Finanzierungswege auch in manchen volkskirchlichen Gemeinden mit Pastorenstellen (so etwa im hessischen Niederhöchstadt). Freikirchen wiederum bezahlen ihre Pastorenstellen ohnehin ausschließlich durch Mitgliedsbeiträge: Wenige Mitglieder zahlen deutlich höhere Beiträge für das theologische Personal. Mitgliederrückgang kann also auch dazu führen, dass die Gemeinden selbstständiger und selbstbewusster werden, welches Personal sie überhaupt haben und finanzieren wollen.

Schließlich könnten auch kirchliche Arbeitsstellen kapitalgestützt finanziert werden und sich von der Zahl der Mitglieder möglichst unabhängig machen. Hier könnte gerade der demografische Faktor eine günstige Rolle spielen. Denn alte Menschen haben ein höheres Vermögen als jüngere. Thomas Piketty spricht am Beispiel Frankreich sogar davon, dass „die Verstorbenen in Frankreich stets – im Durchschnitt – reicher waren als die Lebenden.“4 Zudem führt der soziologische Trend der Individualisierung dazu, dass die Zahl der Verstorbenen, die keine Angehörigen hinterlassen, anwächst. Damit wächst die Bedeutung von Erbschaften und Schenkungen für die kirchliche Finanzpolitik. Es könnte also sein, dass einzelne Kirchengemeinden von Erbschaften weniger ←17 | 18→reicher Menschen profitieren, sodass die Finanzierung kirchlicher Arbeit unabhängig von steuerpflichtigen Mitgliederzahlen wird.

Ich merke hier noch an, dass der Rückgang an kirchlichen Berufen übrigens nicht bedeuten muss, dass es einen Rückgang an theologischen Berufen gibt, auch wenn momentan die Zahl der Theologiestudierenden zurückgeht. Die Religionslehrerin wird vom Staat bezahlt, weil sie eine staatliche Bildungsaufgabe übernimmt.5

Ad 4) Weniger Menschen mit christlicher Hoffnung: Das ist ein theologisches Problem. Hier komme ich zurück auf den Aufruf, die Kirche müsse nun mehr missionieren. Immerhin ist das Interesse zur Mission neutestamentlich belegt, um damit mehr Menschen am Heil Gottes teilhaben zu lassen. Was allerdings nicht im selben Maß neutestamentlich belegt ist, ist die Frage, ob die Kirche mehr Mitglieder haben soll, und schon gar nicht die Frage nach einer Finanzierung der Kirche (Gal. 2,10; 1. Kor 16,1; 2. Kor 8+9; Röm. 15,25–27).6 Der Missionsbefehl Jesu im Matthäusevangelium ruft dazu auf, alle Völker zu Jüngern zu machen (Mt. 28,16–20). Nehmen wir einmal an, damit sei der Anspruch einer Universalreligion verbunden: Jesus will danach, dass nicht nur einige Menschen aus allen Völkern, sondern alle Menschen Christen sind. Selbst unter dieser Voraussetzung ist der Mitgliederrückgang der evangelischen Kirche nur dann ein Problem, wenn es außerhalb der Kirche keine Christen gibt. Das theologische Problem besteht dann in der Frage: Warum sollten Christen in der Kirche sein? Was bedeutet Kirchenmitgliedschaft theologisch?

Von dieser Frage hängt ab, welche missionarischen Strategien man entwirft, wie man also den Missionsbefehl umsetzt. Reicht es aus, dass Menschen Christen werden? (Und woran merkt man das?) Oder sollen sie außerdem auch zur Kirche gehören? (Und heißt das, dass sie zur evangelischen Kirche gehören müssen?) Und schließlich müsste geklärt werden, warum alle Menschen Christen werden sollen. Werden die anderen Menschen sonst in der Hölle schmoren? Gibt es überhaupt eine Hölle? Kann Gott im sogenannten „Eschaton“, also im Zustand der Erlösung in der zweiten Schöpfung, einen unerlösten Zustand wie die Hölle neben sich überhaupt dulden?7 Ich betone, dass es in dieser Frage keinen theologischen Konsens gibt.8 Hier gibt es also noch einiges zu klären. ←18 | 19→Wenn aber zu erwarten ist, dass Gott jeden Menschen ohne Ansehen der Person begnadigt, liegt nicht darin theologisch der persönliche Vorteil, in der Kirche oder gar Christ zu sein.

Ad 5) Der kulturell unbedeutende Protestantismus: Das mag eine Sorge von Museumsdirektorinnen sein oder auch von Deutschlehrern, die es beunruhigt, dass Schülerinnen nicht mehr die biblischen Anklänge der Weltliteratur verstehen. Dementsprechend muss man dann Bildungsanstrengungen im Deutschunterricht verstärken oder auch in der Museumspädagogik. Aber ist das auch ein Problem für die Kirche? Muss die Kirche gesellschaftlich relevant sein? Wenn sie das muss, gewinnt sie die Relevanz dann vornehmlich über viele Mitglieder? Oder geht es dann nicht eher um eine geschickte Medienpräsenz, relevante Themen und gesellschaftlich relevantes Engagement? Einige Beispiele zum Vergleich: Influencer auf Youtube-Kanäle sind bis zu einer bestimmten Stufe ihres Erfolgs Einzelkämpfer, können aber wie Rezo vor der Europawahl 2019 wirksamen politischen Druck erzeugen. Fridays for Future ist eine Bewegung ohne formelle Mitgliedschaften, ist aber so wirksam, dass ihre Protagonistin, die Schülerin Greta Thunberg, sogar vor den Vereinten Nationen sprechen durfte. Die Christen der Alten Kirche haben in ihrer nicht-christlichen Umwelt Anerkennung erzielt, weil sie aus Barmherzigkeit sich der Armen und Schwachen angenommen hatten.9 Dazu mussten sie nicht viele Mitglieder haben. Natürlich wäre zu untersuchen, warum Kirche eine öffentliche Relevanz haben sollte. Aber wenn es legitim oder sogar eine Verpflichtung für Christen ist, die Kirche öffentlich relevant zu halten, hängt diese Zielsetzung nicht zwingend an der Zahl der Kirchenmitglieder.

Ad 6) Der Relevanzverlust der Theologie: Michael Moxter erkennt in der Theologie die gesellschaftlich wichtige Funktion, religiöse Fundamentalismusgefahren abzuwehren.10 Wenn es aber weniger evangelische Christen gibt, wird man auch Professuren für evangelische Theologie einsparen, Institute zusammenlegen oder schließlich evangelische Fakultäten streichen. Aber Moxters Argument legt gerade nahe, dass es auch anders gehen kann: Wenn die Theologie die Gesellschaft überzeugen kann, dass es sie geben muss, und zwar weil die Gesellschaft daran ein Interesse haben sollte und nicht primär die Kirche, ist die Funktion der Theologie auch unabhängig von der Zahl der Kirchenmitglieder plausibel beschreibbar. Die Fakultäten für jüdische und islamische ←19 | 20→Theologie, aber auch die freikirchlichen Hochschulen belegen, dass religiöse Minderheiten ebenfalls universitäre Standards für ihre Forschung und Lehre durchsetzen können.

Ad 7) Die Unverständlichkeit des christlichen Glaubens: Man kann bezweifeln, dass der christliche Glaube jemals leichter verständlich war. „Die Auferweckungsbotschaft war zu keinem Zeitpunkt eine selbstverständliche oder auch nur wahrscheinliche Wahrheit. Im Gegenteil: Sie war für jeden … völlig unglaublich.“11 Nun könnte man einwenden, dass es folglich von günstigen Kommunikationsbedingungen abhängt, damit diese völlig unglaubliche Botschaft verständlich wird. Und zu diesen günstigen Bedingungen könnte eine hohe Zahl an Kirchenmitgliedern gehören. Aber warum sollte das so sein? Die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung stellt fest, dass unter den Mitgliedern die Zahl derer anwächst, die sich indifferent zu christlichen Inhalten stellen.12 Eine große Anzahl von Mitgliedern garantiert also noch nicht das christliche Verständnis. Sie scheint aber auch keine Voraussetzung dafür zu sein. Bereits in der vierten Mitgliedschaftsstudie zehn Jahre vorher hat sich gezeigt, dass im Hinblick auf Wertebindung wie Toleranz oder Vertrauen keine sehr starken Unterschiede zwischen Evangelischen und Nicht-Evangelischen bestehen.13 Gert Pickel nimmt an, dass der Unterschied in den Wertebindungen eher auf Partizipation in einer Gruppierung und auf freiwilligem Engagement beruht als auf der jeweiligen Konfession.14

Details

Seiten
342
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631866832
ISBN (ePUB)
9783631866849
ISBN (MOBI)
9783631866856
ISBN (Hardcover)
9783631866788
DOI
10.3726/b19011
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Februar)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 342 S.

Biographische Angaben

Lukas Ohly (Autor:in)

Lukas Ohly ist Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie mit Schwerpunkt Ethik an der Goethe-Universität Frankfurt.

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