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Protestantismus heute

Potentiale – Pathologien – Paradoxien

von Uwe Gerber (Autor:in)
©2022 Monographie 194 Seiten

Zusammenfassung

Mit der neuzeitlichen Säkularisierung verliert auch der Protestantismus seinen Volkskirchencharakter. Das hat eine Neuorientierung zur Folge. An die Stelledes theistischen Gottesbildes tritt das Paradox vom ‚abwesenden‘ Gott. Der Autor interpretiert das Glaubensparadox als Widerfahrnis von Befreiung und Verpflichtung durch den Anderen in der ‚Spur‘ Gottes. Er diskutiert diese für die Zivilgesellschaft relevanten Potentiale mit Feministischer Theologie, mit der Umgestaltung des Erlösungschristentums in einen Protestantismus der Versöhnung mit unserer Endlichkeit und der Schöpfungswelt. Vom methodischen Gesichtspunkt wählt der Autor einen phänomenologisch-dekonstruktiven Ansatz im Gespräch mit Bonhoeffer, Nancy, Levinas und mit der protestantischen Tradition.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einleitung
  • a. Betreibt der Protestantismus eine Selbstmusealisierung?
  • b. Antwortet der Protestantismus auf die Selbstverwirklichungsgesellschaft?
  • c. Was kann verabschiedet, was sollte reformiert werden?
  • d. Was wird in den einzelnen Kapiteln behandelt?
  • 1. Erfahrungs- und Diskussionshorizonte des christlich interessierten entkirchlichten Menschen
  • 2. Beispiele für Kritik, Abschiede und neue Wege des Protestantismus
  • 2.1. Beispiel 1: Die Glaubwürdigkeit geht verloren (Klaus-Peter Jörns)
  • 2.2. Beispiel 2: „Die sieben Untugenden der Kirchen heute“ (Friedrich Wilhelm Graf)
  • 2.3. Beispiel 3: „Warum ich kein Christ bin“ (Kurt Flasch)
  • 2.4. Beispiel 4: „Religionsverzicht. Ein Memorandum“ (Andreas Urs Sommer)
  • 2.5. Beispiel 5: Ein Christentum „jenseits der Erlösung“: Einswerden mit der Unvollkommenheit (Peter Gross)
  • 2.6. Der feministische Abschied von der Männer-Theologie
  • 2.7. „Als Jesus sich Gott ausdachte“ (Ezzelino von Wedel)
  • 2.8. „Und der König stieg herab von seinem Thron“ – ein religionspädagogisches Beispiel (Dietrich Zilleßen; Uwe Gerber)
  • 3. Gottesvorstellungenim Horizont schwindender Kirche(n) und einer auseinanderdriftenden Selfie-Gesellschaft
  • 3.1. Der gesellschaftliche Kontext ist ein anderer geworden
  • 3.2. Der Versuch einer nach-jenseitigen (nach-theistischen) Gottesvorstellung
  • 3.3. Die Inkarnation Gottes als sein Entzug
  • 3.4. Das Kreuz Jesu als Symbol für widerfahrendes Leben und Sterben
  • 3.5. Heilsein kann man nicht sich selbst beschaffen, es widerfährt „von außen“
  • 4. Phantasmen des Jenseits im Diesseits
  • 4.1. Das Phantasma einer besseren anderen Welt: Himmel und Erde
  • 4.2. Die Seele als unsterbliche Kontaktstelle zwischen Gott und Mensch?
  • 4.3. Ist die Vorstellung einer Heilsgeschichte eine notwendige Projektion?
  • 4.4. Gottes-Repräsentationen
  • a. Erlöst Gott durch Resonanzen? (zu Hartmut Rosa: Resonanz)
  • b. Macht Gott Sinn?
  • c. Braucht der Protestantismus einen Vater-Gott und Kinder Gottes? – Erwachsenwerden im Glauben
  • d. Gott erlöst nicht, sondern widerfährt „abwesend“.
  • 4.5. Kirche ist eine paradoxe Gemeinschaft.
  • 5. Schlussbemerkungen
  • Literatur
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Der Protestantismus hat mir in vielem, nicht nur religiös Konnotiertem, die Augen geöffnet, aber auch blinde Gehorsamsflecken produziert. Als Wort-Religion hat er mich an das Hören und Miteinander-Sprechen verwiesen, aber das „freie“ Sprechen ohne Vorbehalte zu oft vorenthalten. Als Versöhnungschristentum in der Tradition Luthers hat er mir Vergebung und Versöhnung widerfahren lassen und viel von dem Druck der Erlösungsreligiosität genommen, aber auch ungerechtfertigte Ängste vor einem Gericht und Schuldgefühle eingejagt. Als Widerfahrnis-Religion hat er mich in dem Paradox von befreienden und zugleich verpflichtenden Begegnungen Gottes durch Andere und meinem eigenen, selbst zu verantwortenden Antworten leben lassen, aber zu oft auf meine eigene Glaubens(un)fähigkeit, -zweifel und -schwäche als sündige Eigenschaften moralisierend hingewiesen. Als Religion der Nächstenliebe habe ich erfahren, dass ich nicht den verdienstvollen Barmherzigen Samariter spielen muss, bevor ich nicht der unter die Räuber Gefallene gewesen bin, aber mir wurde diese Beispielgeschichte aus dem Lukasevangelium 10, 25–37 meistens als paternalistisches Gehorsamsmodell und diakonisches Helfersyndrom vorgesetzt. Als Religion der Religions- und Selbstkritik hat mir der Protestantismus die Einsicht vermittelt, dass der jenseitig vorgestellte, theistisch-metaphysische Gott als abwesender, „vorbeigehender“ Gott durch andere Menschen gegenwärtig widerfährt. Man kann Gott einen „lieben Mann im Himmel“ sein lassen als religiöses Accessoire auf Erden, aber als selbstkritischer Zeitgenosse sollte man die andere Verkündigung des Todes des jenseitig-metaphysisch vorhandenen Gottes durch den Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche ernst nehmen und das Leben führen und Zusammenleben gestalten „als ob es Gott nicht gäbe“ (1 Kor 7, 29 ff.).1 Wir können nicht die Perspektive eines jenseitigen Gottes einnehmen; deswegen vollziehen wir unser (theologisches) Reden von Gott als gottlos;2 wir können nur sündig, nämlich verfügend von Gott reden, aber dies zugleich im hoffnungs- und vertrauensvollen Unterstellen, ←9 | 10→dass Gott durch Andere dieses unser Reden über Gott als Reden von uns selbst und von unseren schon immer gegebenen Beziehungen vergibt.3 Wenn ich einen anderen Menschen anspreche oder ihm antworte, dann mache ich dies auf Risiko und Hoffnung hin, er möge mich anerkennen.

Der in meinem Elternhaus liberale und in manchen Kirchgemeinden meiner Pfarramtstätigkeit evangelikal-fundamentalistisch auftretende Protestantismus hat mir kulturprotestantisch und von manchen Pflichtprotestanten „um meines Seelenheiles willen“ mitgegeben, dass man einen „bürgerlichen Gott“, einen „zivilreligiösen Gott“ außerhalb des Kirchenregimentes brauchen kann, aber dass man „eigentlich“ an den „kirchlichen Gott“ glauben und fromm-korrekt von ihm reden sollte. Allerdings bleibt dem Protestanten eine Exkommunikation erspart. Als Religion von Beziehungen, etwa im Sinne von Dorothee Sölle und Carter Heyward, ist mir widerfahren, dass der „abwesende Gott“ in Begegnungen mit anderen Menschen Leben eröffnet und aufzwingt „als ob es Gott nicht gäbe“. Seitens des „offiziellen“ Protestantismus hat man mir manchmal bedeutet, dass Gott gegenwärtig ist in der Verkündigung des Evangeliums, also in der Predigt, in kultischen, sakramentalen Riten und Handlungen, wobei das „wie“ unklar blieb. Man kann aber auch die Freiheit eines Christenmenschen im Sinne des ersten Protestanten Martin Luther genießen. Ebenso ist es zweifelsohne anstrengend, Protestant zu sein (wie schon Hegel bemerkt hatte), nicht zuletzt, weil mit der Reformation im 16. Jahrhundert die Aufgabe gestellt wurde, dass der Protestant die kirchlichen Gemeinschaftsbezüge und Glaubensbilder ständig zu reformieren und heute in posttraditionale Gemeinschaftsformen, Glaubensvorstellungen und Bekenntnisformulierungen zu übersetzen habe gemäß Luthers Glaubens- und Kirchenverständnis: „Die Kirche ist immer zu reformieren“ (Ecclesia semper reformanda). Deswegen möchte ich zuerst die Fragen zu den vorliegenden Antworten suchen und andere Antworten finden.

Die folgenden Überlegungen sind keine Erfindungen eines Neuen Protestantismus, sondern ein Forterzählen und Fortdenken. Es sind Versuche, das protestantische Erbe oder „Potential“, wie ich es bislang und derzeit erfahre, interpretiere und praktiziere, in heutiger Perspektive wieder zu ←10 | 11→finden, zu erneuern und seine Rituale, Denkinhalte, Lebenseinstellung(en), Überlieferungen in unserer Gegenwartsgesellschaft als Potentiale und Ressourcen für unser Leben und Zusammenleben zu vertreten. Derzeit gibt es öfter Informationen über Kirchenaustritte, über den Glaubensstand der Protestanten und der gesamten Bevölkerung und über religiöse Bewegungen. In Presseorganen, TV und Internet finden sich manche weiterführenden Überlegungen. Inspirierende Filme wie „Das Neue Evangelium“ des Schweizers Milo Rau, religiöse Songs und Kunst, Ausstellungen über Götterwelten und ein nicht unerhebliches philosophisches Interesse lassen den Gedanken aufkommen, als ob unserer Gesellschaft mit dem zunehmenden Verschwinden des Christentums etwas abhandengekommen sei und jetzt fehlte. Protestantisch vorgestelltes Glauben ist keine Voraussetzung für das Verfassen und das Lesen solcher Überlegungen (so wenig es Bedingung für einen Gottesdienstbesuch oder ein Theologiestudium sein kann). Das schätze ich am Protestantismus und seiner ursprünglichen Streitkultur, denn sonst verkommt er zu einem Accessoire oder gleitet in Fundamentalismus ab. Es wird sich zeigen.

Man kann dieses Buch wie ein Projekt-Buch in einem Gang durchlesen; man kann es kapitel- oder abschnittsweise lesen, diskutieren, kritisieren und besser machen.

„Schreiben? Mit viel Üben. Danach ist jedes fertige Buch ein gescheiterter Versuch. Aber wenigstens auf einem sauberen Niveau“.4

Die biblischen Bücher und Eigennamen werden nach den Loccumer Richtlinien zitiert. Der Gender-Frage wird so entsprochen, dass durchgängig z.B. „Protestant“ und in Sinn gebenden Fällen „Protestanten und Protestantinnen“ geschrieben wird.

Dem Verein für Ethische Urteilsbildung danke ich für einen großzügigen Druckkostenzuschuss und Herrn Dr. Hermann Ühlein vom Lang Verlag für produktive Begleitung.

Basel/ Schopfheim, im Frühjahr 2021 Uwe Gerber

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Einleitung

a. Betreibt der Protestantismus eine Selbstmusealisierung?

Die folgenden kritischen Überlegungen und konstruktiven Anregungen zum gegenwärtigen Protestantismus im europäischen Raum sind keine Abrechnung mit dem auch vielen Kirchgängern immer fremder werdenden Protestantismus aus einer Position des Besser-Wissens. Eher sind Ratlosigkeit, Enttäuschung, Trauern um einen Verlust und die Erfahrung einer Indifferenz selbst der Christen dem Christentum gegenüber in der (westlichen) „Müdigkeitsgesellschaft“ der Anlass für diese Art einer Selbstvergewisserung. Byung-Chul Han spricht sogar von einer „immanenten Religion der Müdigkeit“ im Anschluss an Peter Handkes „Versuch über die Müdigkeit“ von 1992.5 Mancher Leser und manche Leserin werden sich in den folgenden Zeilen wiedererkennen, bestätigt fühlen und hoffentlich nicht resignieren. Andere werden nach kurzer Lektüre abwehren, auf die Errungenschaften und fürsorglichen Angebote von Kirchengemeinden verweisen und sich über die teilweise schwer erträgliche Kritik ärgern. Wieder andere werden hilfreiche Gedanken, berechtigte Kritik und weiterführende Vorschläge finden. Im Folgenden werden keine Reformvorschläge für Kirchengemeinden und Landeskirchen, keine Organisationsoptimierungen und keine Programm- und Eventvorschläge gemacht, sondern es wird nach den laien- und wissenschaftstheologischen Implikationen des gegenwärtigen Protestantismus gefragt. Selbstverständlich können nur einzelne Problemfelder behandelt werden.

Es geht dabei aber nicht um eine „bessere“ Perspektive, weil sich Glauben nicht in religiösem, in unserem Fall in protestantisch-christlichem Laien- und Theologie-Wissen erschöpft und deswegen auch nicht messbar ist. (Man sollte mit der Aussage, dass man im Glauben gewachsen sei, vorsichtig umgehen, weil man seinen Glauben einer Idealvorstellung opfert.) Unter Glauben wird hier eine vom Anderen in der Spur Gottes hervorgerufene und verpflichtende Performance verstanden, die den Glaubenden verändert, ihn in Beschlag nimmt, ihn zu einem anderen Leben und Zusammenleben ←13 | 14→erweckt.6 Die sagbaren Inhalte, theologisch sagt man Dogmen, aber auch die Riten, Liturgien und Moralvorstellungen protestantischen Glaubens sind Deutungsmuster, die der befreit-verpflichtete Glaubende verwendet, um sein Gottes-Widerfahrnis in einer bestimmten Tradition zu erzählen und mehr oder weniger theologisch-wissenschaftlich zu interpretieren. Man kann hier Bonhoeffer anführen, „daß ich nicht über meinen Glauben verfüge und daher auch nicht einfach sagen kann, was ich glaube“.7 Die Inhalte sind zum Widerfahrnis, zur Begegnung sekundär, nachfolgend, antwortend. Deswegen müssen sie ebenso wie die Rituale, Bekenntnisse, Liturgien, Gebete, Lieder, Sakramente, Symbole, Bilder um des/der Anderen und des Interpretierenden willen ständig diskutiert, verändert, transformiert und in befristeten Konsensen und Kompromissen festgehalten werden.8 Um des Anderen willen bleiben meine Aussagen relativ, begegnungsbezogen. Es gibt keine christlichen Exklusivwahrheiten und Sicherheiten, wohl aber überzeugte Deutungen im „Experimental- und‚Exposure‛-Charakter“,9 frei nach Friedrich Nietzsche, dass jeder Satz ein Vorurteil sei. Es kann nie den Protestantismus, das und den protestantischen Glauben geben, das wäre Fundamentalismus. Gerade der sich ständig selbst aufklärende und sich selbst überschreitende Protestantismus muss heute die mühsame, aber notwendige Aufgabe des Dialogisierens übernehmen, dass die Meinungen der Anderen auszuhalten und an ihnen die eigenen Vorstellungen zu prüfen und zu diskutieren sind. Diese „Streit“-Kultur muss der Protestantismus in der spätmodernen Selfie-Gesellschaft erhalten in seinen gottesdienstlichen, seelsorgerlichen, diakonischen, bildungsbezogenen, theologischen Selbstgestaltungen.

Details

Seiten
194
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631874080
ISBN (ePUB)
9783631874097
ISBN (MOBI)
9783631874103
ISBN (Hardcover)
9783631861028
DOI
10.3726/b19458
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Februar)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 194 S.

Biographische Angaben

Uwe Gerber (Autor:in)

Uwe Gerber studierte Evangelische Theologie und Philosophie in Tübingen, Bonn und Basel. Er promovierte in Basel mit einer Arbeit zum Katholischen Glaubensbegriff seit dem I. Vatikanum und habilitierte mit einem Beitrag zur Disputation als Sprache des Glaubens. Uwe Gerber war als Akademischer Oberrat an der TU Darmstadt und als außerordentlicher Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät in Basel tätig.

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Titel: Protestantismus heute
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