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Die Genossenschaft des öffentlichen Rechts

Konstruktion einer öffentlich-rechtlichen Organisationsform für eine bessere Aufgabenerledigung und größere Aktivierung bürgerschaftlichen Engagements

von Florian Kuhlmann (Autor:in)
©2022 Dissertation 282 Seiten

Zusammenfassung

Die Genossenschaft ist eine im öffentlichen Recht und im Privatrecht bekannte Organisationsform. Angesichts aktueller rechtlicher, politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen, denen die Verwaltung nach Ansicht des Autors mit den zur Verfügung stehenden Handlungsinstrumenten nicht adäquat begegnen kann, schlägt der Autor unter besonderer Berücksichtigung verwaltungswissenschaftlicher Lösungsansätze vor, eine neue Organisationsform der Genossenschaft des öffentlichen Rechts zu schaffen, durch die öffentliche Aufgaben effizienter erledigt werden können und zugleich bürgerschaftliches Engagement aktiviert wird. Hierfür arbeitet der Autor obligatorische und fakultative lnhalte eines Organisationsgesetzes heraus und formuliert eine Ha nd I un gsempfeh lu ng an den Landesgesetzgeber.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einführung in die Problematik und Gang der Untersuchung
  • A. Einführung in die Problematik
  • B. Gang der Untersuchung
  • Kapitel 1 Historische Grundlagen des Genossenschaftswesens sowie Tätigkeitsbereiche eingetragener Genossenschaften
  • A. Die historischen Ursprünge der Genossenschaften
  • B. Gesetzliche Ausgestaltung der privatrechtlichen Genossenschaften von damals bis heute
  • C. Entwicklung der eingetragenen Genossenschaften in Deutschland und Ausblick
  • D. Genossenschaftliche Prinzipien und Werte
  • I. Genossenschaftliche Prinzipien
  • 1. Selbsthilfe
  • 2. Selbstverwaltung
  • 3. Selbstverantwortung
  • 4. Demokratie
  • 5. Identität und Wirtschaftlichkeit
  • 6. Mitgliederförderung
  • II. Genossenschaften als sozialethische Veranstaltung
  • 1. Eingetragene Genossenschaften als gemeinwohlfördernde Organisationsform
  • 2. Eingetragene Genossenschaft ohne sozialethische Verpflichtung
  • 3. Zwischenfazit
  • E. Neue kooperative Ökonomie und ihre genossenschaftliche Verwirklichung
  • F. Beispiele für neue Tätigkeitsgebiete eingetragener Genossenschaften
  • I. Gesundheitsversorgung
  • II. Energieversorgung
  • III. Sozialwirtschaft
  • IV. Bildung
  • V. Ländliche Räume
  • Kapitel 2 Aktuelle Herausforderungen und Chancen des Einsatzes von Genossenschaften des öffentlichen Rechts
  • A. Aktuelle Herausforderungen
  • I. Aufgabenüberbürdung
  • II. Mangelhafte finanzielle Grundausstattung von Gemeinden
  • III. Demografischer Wandel
  • 1. Statistische Erfassungen des demografischen Wandels
  • 2. Auswirkungen auf regionale Infrastrukturen, insbesondere in den ländlichen Räumen
  • a) Technische Infrastruktur
  • b) Soziale Infrastruktur
  • c) Sonstige Einrichtungen
  • IV. Entfremdung von Staat und Gesellschaft
  • 1. Probleme bei verfahrensmäßiger Bürgerbeteiligung
  • 2. Probleme bei finanzieller Bürgerbeteiligung
  • a) Kommunale Bürgerwindparks
  • b) Obligatorisches Beteiligungsmodell
  • 3. Zwischenfazit
  • B. Chancen einer Genossenschaft des öffentlichen Rechts
  • I. Stärkung der Selbstverwaltung
  • 1. Die funktionale Selbstverwaltung
  • 2. Funktionale Selbstverwaltungskörperschaften mit genossenschaftlichen Elementen und öffentlich-rechtliche Genossenschaften
  • a) Öffentlich-rechtliche Genossenschaften im Allgemeinen
  • b) Öffentlich-rechtliche Genossenschaften im Speziellen
  • aa) Wasser- und Bodenverbände
  • bb) Jagdgenossenschaften
  • cc) Fischereigenossenschaften
  • dd) Waldgenossenschaften
  • ee) Deichgenossenschaften
  • ff) Handwerksinnungen und Wirtschaftskammern
  • II. Implementierung verwaltungswissenschaftlicher Ansätze zur Steigerung bürgerschaftlichen Engagements
  • 1. Der thätige Staat und die freie Verwaltung nach Lorenz von Stein
  • 2. Der Aktivierende Staat
  • 3. Regional und Local Governance
  • 4. Bürgergesellschaft
  • 5. Open Government
  • a) Transparenz
  • b) Partizipation
  • aa) Traditionelle Partizipationsformen
  • bb) Finanzielle Bürgerbeteiligung
  • (1) Passive finanzielle Bürgerbeteiligung
  • (a) Bürgerdarlehen
  • (b) Bürgeranleihe
  • (c) Infrastrukturfonds
  • (d) Zwischenfazit
  • (2) Aktive finanzielle Bürgerbeteiligung und partizipative Finanzierung
  • (3) Zwischenfazit
  • c) Kollaboration
  • d) Zwischenfazit
  • III. Förderung sozialen Unternehmertums
  • 1. Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship bei der eingetragenen Genossenschaft
  • 2. Lösungsansätze auf europäischer Ebene
  • 3. Lösungsansätze im US-amerikanischen Gesellschaftsrecht
  • 4. Soziales Unternehmertum in der Genossenschaft des öffentlichen Rechts und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur öffentlich-rechtlichen Genossenschaft
  • a) Gemeinwohlbezogenheit bei Organisationsformen der öffentlich-rechtlichen Ordnung
  • b) Gemeinwohlbezug der Tätigkeit von Selbstverwaltungsträgern
  • c) Organisationsrechtliche Gemeinwohlinstrumente
  • IV. Regionale Wertschöpfung und Nachhaltigkeit
  • Kapitel 3 Fachrechtliche Besonderheiten einer Genossenschaft des öffentlichen Rechts
  • A. Vergaberecht
  • I. Inhouse-Vergabe nach der Teckal-Rechtsprechungslinie
  • 1. Kontrollkriterium
  • 2. Wesentlichkeitskriterium
  • 3. Ausschluss der Beteiligung privaten Kapitals
  • II. Vergaberechtsfreie Aufgabenübertragung
  • III. Genossenschaft des öffentlichen Rechts als öffentlicher Auftraggeber
  • B. Öffentliches Kooperationsrecht
  • C. Steuerrecht
  • D. Arbeitsrecht
  • Kapitel 4 Typen der Genossenschaft des öffentlichen Rechts
  • A. Infrastrukturgenossenschaft
  • B. Bürgergenossenschaft
  • Kapitel 5 Rückgriff auf existierende Organisationsformen
  • A. Privatrechtliche Organisationsformen
  • I. Eingetragene Genossenschaft
  • 1. Organisationsverfassung
  • a) Vorstand
  • b) Generalversammlung
  • c) Aufsichtsrat
  • 2. Steuerung
  • a) Gesellschaftsrechtliche und satzungsmäßige Vorgaben
  • b) Auskunfts- und Kontrollrechte
  • c) Sonderrechte
  • aa) Weisungen
  • (1) Weisungen an kommunale Vertreter in der Mitgliederversammlung
  • (2) Weisungen an kommunale Vertreter im Vorstand
  • (3) Weisungen an kommunale Vertreter im Aufsichtsrat
  • (a) Weisungen an kommunale Vertreter im Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft
  • (b) Weisungen an kommunale Vertreter im Aufsichtsrat einer GmbH
  • (aa) Weisungen an kommunale Vertreter im Aufsichtsrat einer eingliedrigen GmbH
  • (bb) Weisungen an kommunale Vertreter im Aufsichtsrat einer mehrgliedrigen GmbH
  • (c) Weisungen an kommunale Vertreter im Aufsichtsrat einer eingetragenen Genossenschaft
  • (aa) Organsystem der eingetragenen Genossenschaft
  • (bb) Anpassungen in der Genossenschaftsnovelle von 2006
  • (cc) Vertrauensschutz für Gläubiger
  • (dd) Fakultativität des Aufsichtsrats
  • (ee) Unternehmensinteresse der eingetragenen Genossenschaft und Mitgliederinteressen
  • (ff) Zwischenfazit
  • bb) Zustimmungsvorbehalte
  • cc) Entsenderechte
  • d) Beherrschungsvertrag als Sonderrecht
  • 3. Haftung
  • 4. Zwischenfazit
  • II. Sonstige privatrechtliche Organisationsformen
  • 1. Die genossenschaftliche Aktiengesellschaft
  • 2. Die genossenschaftliche GmbH
  • 3. Zwischenfazit
  • B. Öffentlich-rechtliche Organisationsformen
  • I. Körperschaften des öffentlichen Rechts
  • 1. Die Körperschaft des öffentlichen Rechts im Allgemeinen
  • 2. Der Zweckverband
  • II. Anstalt des öffentlichen Rechts
  • III. Stiftung des öffentlichen Rechts
  • IV. Zwischenfazit
  • Kapitel 6 Die Konstruktion der Genossenschaft des öffentlichen Rechts
  • A. Die demokratische Legitimation der Genossenschaft des öffentlichen Rechts
  • I. Die Ausübung von Staatsgewalt bei der Genossenschaft des öffentlichen Rechts
  • II. Die Formen demokratischer Legitimation
  • 1. Funktionelle und institutionelle demokratische Legitimation
  • 2. Organisatorisch-personelle demokratische Legitimation
  • 3. Sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation
  • III. Verortung der funktionalen Selbstverwaltung im Demokratieprinzip des Grundgesetzes
  • 1. Die sachlich-inhaltliche Legitimation in der funktionalen Selbstverwaltung
  • 2. Die organisatorisch-personelle demokratische Legitimation in der funktionalen Selbstverwaltung
  • a) Lösung über alternative Legitimationsmodelle
  • b) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Lippeverbands- und Emschergenossenschaftsgesetz
  • B. Anforderungen aus dem institutionellen Gesetzesvorbehalt
  • C. Obligatorische und fakultative Inhalte des Organisationsgesetzes
  • I. Verbandskompetenz
  • II. Organe
  • 1. Mitgliederversammlung
  • 2. Vorstand
  • 3. Verwaltungsrat
  • 4. Sonstige Organe
  • III. Mitgliedschaft
  • 1. Bestimmung des Mitgliederkreises
  • 2. Mitgliedschaftliche Rechte und Pflichten
  • a) Mitgliedschaftliche Rechte
  • aa) Stimmrechte
  • (1) Differenzierung bei der Gleichheit von Wahl und Abstimmung
  • (2) Differenzierung bei Allgemeinheit von Wahl und Abstimmung
  • b) Anspruch auf Förderung
  • c) Ertragsbeteiligungsrecht
  • d) Sonstige Mitwirkungsrechte
  • 3. Mitgliedschaftliche Pflichten
  • a) Der Anschluss- und Benutzungszwang
  • b) Die Nutzungspflicht innerhalb und außerhalb einer Pflichtmitgliedschaft
  • IV. Finanzierung
  • 1. Öffentlich-rechtliche Geldleistungspflichten
  • a) Steuern
  • b) Gebühren
  • c) Beiträge
  • d) Sonderabgabe
  • 2. Zuwendungen und Darlehen
  • 3. Beihilfenrechtliche Relevanz einer Finanzierung durch staatliche Mittel
  • a) Tatbestandsmerkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV
  • b) Zulässigkeit staatlicher Finanzierungsmaßnahmen
  • V. Aufsicht
  • VI. Steuerung
  • 1. Besondere mitgliedschaftliche Steuerungsmöglichkeiten
  • 2. Steuerungsmöglichkeiten Dritter
  • a) Mittelbare Steuerungsmöglichkeiten
  • aa) Rechtsverordnungen
  • bb) Verwaltungsvorschriften
  • b) Unmittelbare Steuerungsmöglichkeiten
  • aa) Weisungsrechte
  • bb) Genehmigungsvorbehalte
  • cc) Entsenderechte
  • 3. Zwischenfazit
  • VII. Haftung
  • Kapitel 7 Schlussbetrachtung
  • A. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
  • B. Fazit und Handlungsempfehlung
  • Literaturverzeichnis

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Einführung in die Problematik und Gang der Untersuchung

A. Einführung in die Problematik

Lange Zeit ist das Verwaltungsorganisationsrecht mit der tradierten Trias aus Körperschaft, Anstalt und Stiftung des öffentlichen Rechts ausgekommen und durch diese gewissermaßen gesättigt gewesen. Nun soll mit der Genossenschaft des öffentlichen Rechts eine vierte öffentlich-rechtliche Organisationsform in den Kanon aufgenommen werden.

Zunächst einmal ist offensichtlich, dass den sich stetig verändernden politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen nicht dauerhaft mit Organisationsformen begegnet werden kann, die sich alle spätestens im 19. Jahrhundert herausgebildet haben – jedenfalls nicht ohne signifikante Änderung und Anpassung an die gegebenen Verhältnisse. Da die öffentlich-rechtlichen Rechtsformen den Organisationsgesetzgebern einen weiten Ausgestaltungsspielraum lassen, ist dies bisher zwar auch geschehen, jedoch einzelfallbezogen.

Vorliegende Arbeit macht nun in gewisser Weise und mit ähnlicher Intention wie Mann1 einen Gegenvorschlag zum bisherigen Vorgehen, indem auf Grundlage verschiedener Rechtsquellen und Vorschriften ein organisationsrechtlicher Rahmen für eine Genossenschaft des öffentlichen Rechts ermittelt wird und im Rahmen dessen Vorschläge für obligatorische und fakultative Inhalte eines Organisationsgesetzes gemacht werden, die in den Kontext ihrer verschiedenen Einsatzbereiche und Zwecke gesetzt werden. Einerseits sollen diese Arbeit einem potenziellen Organisationsgesetzgeber als Orientierungspunkt für die einzelfallbezogene Errichtung einer Genossenschaft des öffentlichen Rechts dienen. Andererseits sollen mögliche Inhalte eines Organisationsgesetzes im Sinne eines allgemeinen Rechtsformangebots dargestellt werden. Das hinter allen Erwägungen stehende Leitmotiv ist das einer möglichst weitgehenden Aktivierung bürgerschaftlichen Engagements.

Ähnlich wie die eingetragene Genossenschaft, die neben anderen privatrechtlichen Gesellschaftsformen jahrelang ein Schattendasein fristete und nunmehr einen signifikanten Aufschwung erlebt, soll auch die Genossenschaft des öffentlichen Rechts aus dem Schatten von Anstalt und Stiftung, insbesondere jedoch ←19 | 20→aus dem der Körperschaft, hervortreten und, ergänzt um neue Rechtselemente, eine öffentlich-private Aufgabenerledigung bewirken, die zugleich bürgerschaftliches Engagement aktiviert und Akzeptanz steigert.

B. Gang der Untersuchung

Die Untersuchung einer Aufnahme der Genossenschaft des öffentlichen Rechts als neue öffentlich-rechtliche Organisationsform in das Verwaltungsorganisationsrecht gliedert sich in sieben Kapitel.

Die Untersuchung beginnt mit einer Bestandsaufnahme der wesentlichen Strukturelemente eingetragener Genossenschaften und ihrer aktuellen Einsatzbereiche, um einen ersten Überblick darüber zu verschaffen, wie eine Genossenschaft des öffentlichen Rechts konstruiert sein und wo sie eingesetzt werden könnte, woraufhin sich eine Betrachtung aktueller politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen anschließt. Hieran anknüpfend werden Chancen einer Genossenschaft des öffentlichen Rechts beleuchtet. Das dritte Kapitel widmet sich den fachrechtlichen Besonderheiten der Genossenschaft des öffentlichen Rechts, wobei das Hauptaugenmerk auf vergaberechtlichen Fragestellungen liegt. Aus den bisherigen Erkenntnissen werden im vierten Kapitel zwei Grundtypen von Genossenschaften des öffentlichen Rechts entwickelt, deren Umsetzbarkeit mit den vorhandenen privat- und öffentlich-rechtlichen Organisationsformen im fünften Kapitel erprobt und deren Umsetzung mit eigenen organisationsrechtlichen Vorschriften schließlich im sechsten Kapitel ausgearbeitet wird. Das siebte und letzte Kapitel enthält eine Schlussbetrachtung der aus dem Vorhergehenden gewonnenen Erkenntnisse.


1 Mann, Die öffentlich-rechtliche Gesellschaft.

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Kapitel 1 Historische Grundlagen des Genossenschaftswesens sowie Tätigkeitsbereiche eingetragener Genossenschaften

Um das Wesen der Genossenschaft besser zu begreifen und eine öffentlich-rechtliche Rechtsform zu schaffen, die diesen Namen auch verdient, sind zunächst die historischen und organisatorischen Grundlagen des Genossenschaftswesens überblicksartig zu erfassen. Auch helfen Beispiele überwiegend neuer Tätigkeitsbereiche eingetragener Genossenschaften dabei, eine Vorstellung darüber zu gewinnen, wo eine Genossenschaft des öffentlichen Rechts eingesetzt werden könnte.

A. Die historischen Ursprünge der Genossenschaften

Als Urvater des Genossenschaftswesens kann, auch wenn er auf Vorarbeiten Georg Beselers und Otto Bährs aufbaute, Otto von Gierke genannt werden; seine Genossenschaftslehre stellte im Grunde eine allgemeine Theorie menschlicher Verbände dar2. Die genossenschaftlichen Organisationen zählten für ihn zu den Personenverbindungen, die sich nicht in der mechanischen Addition ihrer Teile erschöpften, sondern eine selbstständige Einheit bildeten3 und somit eine gegensätzliche Position zu den herrschaftlichen Verbänden einnahmen4. Gierke unterschied zwischen Genossenschaften im engeren und weiteren Sinne, wobei erstere eine auf freier Vereinigung beruhende deutschrechtliche Körperschaft meinte – demnach jeden Verein mit selbstständiger Rechtspersönlichkeit5. Letztere bezeichnete hingegen solche Personenvereinigungen, die nicht ausschließlich dem genossenschaftlichen Prinzip entsprachen, sondern bei denen andere strukturbestimmende Prinzipien, wie zum Beispiel herrschaftliche Elemente, hinzutraten6.

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Der Genossenschaftsgedanke bildete sich zu einer Zeit in Deutschland, in der sich die Leitbilder des Staates von einem obrigkeitlichen Anstaltsstaat zu einem körperschaftlich verfassten demokratischen Verfassungsstaat wandelten7. Während es die Genossenschaft im weiteren Sinne, also eine rechtsfähige Personenvereinigung mit genossenschaftlichem Gepräge, als deutschrechtliche Besonderheit bereits seit dem frühen Mittelalter gab, ist die Genossenschaft im engeren Sinn als Reaktion auf den Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden wirtschaftlichen Liberalismus, der sich durch die Einführung der Gewerbefreiheit, Aufhebung des Zunftwesens und Bauernbefreiung auszeichnete, zu verstehen, der die wirtschaftlich schwachen Bevölkerungskreise (kleine Landwirte, Handwerker, Arbeiter) in enge Bedrängnis brachte8. Während des Nationalsozialismus wurden prosperierende Konsumgenossenschaften aus politischen Gründen geschlossen und die herrschende Planwirtschaft drohte die übrig gebliebenen Genossenschaften zu bloßen Erfassungs- und Verteilungsstellen des staatlichen Machtapparats zu degradieren; das Prinzip der privaten Selbsthilfe wurde damit faktisch abgeschafft9.

B. Gesetzliche Ausgestaltung der privatrechtlichen Genossenschaften von damals bis heute

Das deutsche Genossenschaftswesen, das vor allem durch Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen10 sowie von Victor Aimée Huber, Wilhelm Haas und anderen entwickelt wurde, existierte bis zu seiner Positivierung im preußischen Gesetz von 27.3.1867, das mit Änderungen am 4.7.1868 als Norddeutsches Bundesgesetz verkündet wurde, in der Form von erlaubten Privatgesellschaften. 1889 folgte dann die reichsgesetzliche Kodifizierung der Genossenschaft im engeren Sinne durch das Gesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften von 1889. Nach mehrfachen Änderungen und Erweiterungen in Kaiserreich, Weimarer Republik und Drittem Reich wurde ←22 | 23→das Genossenschaftsgesetz ab 1945 angesichts der langen Bewährungszeit ohne bedeutende Änderungen übernommen. Die erste große Änderung kam dann erst zum 1.1.1974 mit der Genossenschaftsrechtsnovelle von 197311, die die Wettbewerbsfähigkeit der genossenschaftlichen Gesellschaftsform gegenüber anderen für Unternehmen in Betracht kommenden Gesellschaftsformen wiederherstellen sollte. Die zahlreichen seit der Wiedervereinigung durchgeführten Reformen mündeten in die Genossenschaftsgesetz-Novelle vom 19.5.2006, durch die das deutsche Genossenschaftsrecht entsprechend der Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 an das europäische Sekundärrecht angepasst werden sollte. Zweck war es, Wettbewerbsnachteile gegenüber der Europäischen Genossenschaft (SCE) zu beseitigen, die Gründung der eingetragenen Genossenschaft zu erleichtern und die Attraktivität der Rechtsform zu verbessern12. Zu den wichtigsten Änderungen gehörten die Erweiterung des Förderzwecks auf soziale und kulturelle Belange in § 1 GenG, die Zulassung investierender Mitglieder durch § 8 Abs. 1 S. 1 GenG, die Senkung der Mindestmitgliederzahl auf drei, flexiblere Organisationsstrukturen und die Änderung der Kapitalstruktur13.

C. Entwicklung der eingetragenen Genossenschaften in Deutschland und Ausblick

Die genossenschaftliche Gesellschaftsform erfreute sich seit den 1970er Jahren geringer Beliebtheit. Neben der sehr niedrigen Anzahl an Neugründungen verringerte sich die Zahl der eingetragenen Genossenschaften in Deutschland von 28.000 in den 1950er Jahren auf weniger als 7.500 Ende 200814. Betrachtet man jedoch die Entwicklung ab 2001, kann man von einer kontinuierlichen Zahl von Neugründungen sprechen, die durch die oben beschriebene Genossenschaftsrechtsnovelle von 2006 noch einen deutlichen Schub bekommen hat15, was sich 2010 und 2011 fortsetzte. Außerdem trugen zu diesem Aufschwung die 2001 gestartete Neugründungsinitiative der Genossenschaftsverbände sowie die starke Ausweitung von Informationsmaßnahmen über die Vorteile von Genossenschaftsmodellen insbesondere in staatlich geförderten Bereichen (vor allem Erneuerbare Energien) bei16. Im vergangenen Jahrzehnt waren dadurch ←23 | 24→1239 neu gegründete Genossenschaften zu verzeichnen. Diese waren vor allem im gewerblichen Bereich zu verorten, wohingegen die klassischen Bereiche wie Landwirtschaftsgenossenschaften, Wohnungs- und Konsumgenossenschaften sowie Genossenschaftsbanken kaum noch relevant für dieses Gesellschaftsmodell sind17, wobei bei Letzteren allerdings ein Mitgliederanstieg von 1,65 Millionen Mitgliedern im vergangenen Jahrzehnt zu verzeichnen war18. 2009 hatten die Genossenschaften, zumindest auf dem Papier, ca. 20 Millionen Mitglieder19, wobei ein etwaiger daraus zu schließender gesellschaftlicher Durchdringungsgrad vor dem Hintergrund zu sehen ist, dass ein Großteil davon auf Genossenschaftsbanken entfällt20. Ein Großteil der Genossenschaftsneugründungen der letzten Jahre erfolgte in Form von Gesundheits- und Energiegenossenschaften, sowohl auf der Anbieter- als auch auf der Nachfragerseite21.

Auffällig ist, dass sich Genossenschaften vermehrt in Geschäftsbereichen gründen, die als innovativ gelten bzw. erst einmal „ausprobiert“ werden müssen, bevor andere Gesellschaftsformen, insbesondere Kapitalgesellschaften, dafür in Frage kommen22.

D. Genossenschaftliche Prinzipien und Werte

Bei der Begriffsbestimmung der privatrechtlichen Genossenschaft ist es sinnvoll, zwischen genossenschaftlichen Prinzipien und den Genossenschaften zugeordneten Werten zu unterscheiden23. Während die Prinzipien der privatrechtlichen Genossenschaft weitestgehend feststehen, ist dies bei den Werten aufgrund ihrer Vagheit nicht der Fall. Im Zusammenhang mit genossenschaftlichen Prinzipien oder auch abstrakt werden Genossenschaften Werte wie Gleichheit24, Gerechtigkeit25, Ehrlichkeit, Offenheit, soziale Verantwortung, Regionalität26, ←24 | 25→Kontinuität, Sicherheit oder Verlässlichkeit zugeschrieben27. Auch wenn die Zahl der zugeschriebenen Werte schier endlos sein kann („wahre Werteflut“28), da diese in engen Relationen zu Rahmenbedingungen wie Nationalität, Branche oder Erhebungszeitpunkt stehen29, kann konstatiert werden, dass sich die Verantwortungs- und Vertrauensstiftungsfunktion eher in moderner Genossenschaftsliteratur finden lässt30.

Teilweise wird vertreten, dass sich die genossenschaftliche Idee nicht nur aus ökonomischen Gesichtspunkten, sondern auch aus einer tieferen, gesellschaftliche und christliche Werte verkörpernden Ideologie zusammensetzt31. Sie wird daher teilweise als sozialethische Veranstaltung verstanden. Auf diesen Wert konzentrieren sich die den Darlegungen der Prinzipien nachfolgenden Ausführungen, weil sie eine Parallele zur Gemeinwohlbindung öffentlich-rechtlicher Organisationsformen aufweisen32.

I. Genossenschaftliche Prinzipien

Die aus dem wirtschaftlichen und soziologischen Genossenschaftsbegriff extrahierbaren Prinzipien wurden nur teilweise vom positiven Recht aufgegriffen33. Insgesamt sind zu nennen: Selbsthilfe, Selbstverwaltung, Selbstverantwortung, Demokratie, Identität und Wirtschaftlichkeit sowie Mitgliederförderung. Unterschiedlichste Faktoren sind dafür verantwortlich, dass ihre Gewichtung zueinander von Genossenschaft zu Genossenschaft variiert34. Sie werden im Folgenden erörtert.

1. Selbsthilfe

Die Idee der genossenschaftlichen Selbsthilfe ist trotz unterschiedlichster weltanschaulicher Grundlagen ihrer Mitglieder das zentrale Element. Dabei geht es ←25 | 26→darum, sich freiwillig zusammenzuschließen, um als Mitglied unmittelbar von Gütern oder Dienstleistungen seiner Genossenschaft Nutzen zu ziehen35. Die erforderlichen Mittel dafür müssen durch die Mitglieder aufgebracht werden, von denen ferner erwartet wird, dass sie füreinander einstehen36. Gesetzlich ist dieser Gedanke in § 1 Abs. 1 GenG geregelt, wonach die eingetragene Genossenschaft ihre Mitglieder durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb fördern muss. Es geht also im Kern darum, dass Genossenschaften ihre Unternehmung zur vorteilhaften Leistungsbewirkung für die mit ihr verbundenen Mitgliederwirtschaften führen37.

2. Selbstverwaltung

Aus dem Grundsatz der Selbsthilfe folgt der für eingetragene Genossenschaften in § 43 Abs. 1 GenG festgelegte Grundsatz der Selbstverwaltung, nach dem die Mitglieder ihre Rechte in den Angelegenheiten der Genossenschaft in der Generalversammlung ausüben. Die Besonderheit gegenüber Personen- und Kapitalgesellschaften besteht jedoch darin, dass § 9 Abs. 2 S. 1 GenG eine ständige Legitimation des Führungshandelns von Vorstand und Aufsichtsrat sicherstellt, indem dieser vorschreibt, dass nur solche natürlichen Personen Mitglieder der genannten Organe sein können, die auch Mitglieder der Genossenschaft sind (Prinzip der Selbstorganschaft)38. Damit soll sichergestellt werden, dass die Genossenschaftsorgane stets mit den Bedürfnissen der Mitglieder vertraut sind und eine enge Bindung der beiden Parteien entsteht39. Die Selbstorganschaft kann ferner zu Systemvertrauen führen, aus dem sich wiederum eine besondere förderwirtschaftliche Gesellschafts- und Unternehmenskultur entwickeln kann, die im Gegensatz zum oft erwähnten „Wertemanagement“ tatsächlich greifbar und erlebbar ist40.

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3. Selbstverantwortung

Der Grundsatz der Selbstverantwortung folgt wiederum aus dem Selbstverwaltungsgrundsatz und nimmt die Mitglieder der Genossenschaft für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft entweder durch Haftung mit dem Geschäftsguthaben oder sogar privatem Vermögen persönlich in die Pflicht41. Dieser Grundsatz fördert die genossenschaftliche Selbstverwaltung und damit die Selbsthilfe in mehrfacher Hinsicht, kann damit also auch als dessen Kern und Motor bezeichnet werden42.

4. Demokratie

Das Demokratieprinzip wird im Genossenschaftsrecht als „gerade für die Rechtsform der eG strukturprägendes Prinzip“ und das genossenschaftliche Gleichheitsgebot als „urdemokratisch“ angesehen43. Dies wird vor allem mit der Gewaltenteilung zwischen Vorstand, Aufsichtsrat und Vertreterversammlung und den durch § 43a Abs. 4 S. 1 GenG festgelegten Wahlgrundsätzen der Vertreterversammlung sowie ganz pauschal mit Hinweis auf jede Form der Entscheidungsfindung in der eingetragenen Genossenschaft begründet44. Einen weiteren wichtigen Aspekt dessen stellt das egalitäre Kopfstimmrecht aus § 43 Abs. 3 S. 1 GenG dar.

Allerdings führt der Vorstand gemäß § 27 Abs. 1 S. 1 GenG die Genossenschaft unter eigener Verantwortung und ist dabei nur durch satzungsmäßige Beschränkungen in seiner Vertretungsmacht eingeschränkt, § 27 Abs. 1 S. 2 GenG. Die Kontrolle des Vorstands erfolgt nach § 38 Abs. 1 S. 1 GenG durch den Aufsichtsrat, der, vorbehaltlich anderer satzungsmäßiger Ausgestaltung, gemäß § 36 Abs. 1 S. 1 GenG aus drei von der Generalversammlung zu wählenden Personen besteht. Dies stellt also einen geschäfts- und personalhoheitlichen Machtverlust der General- oder Vertreterversammlung dar45. Bei Großgenossenschaften, vor allem solchen mit ausgeprägtem Nichtmitgliedergeschäft, wird teilweise aufgrund ihrer dominant managergeleiteten Ausprägung bereits von „beyond Democracy“ gesprochen46.

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5. Identität und Wirtschaftlichkeit

Das Identitätsprinzip geht aus dem Selbsthilfegrundsatz hervor und meint die Identität von den Mitgliedern der Genossenschaften und ihren Kunden. Dies führt zu einer geringeren Wechselbereitschaft und damit zu einer langfristigen Zusammenarbeit im Rahmen der genossenschaftlichen Geschäftsbeziehung47. Das Konstrukt des Mitgliederkunden wird als zentraler Pfeiler der genossenschaftlichen Kooperationsform angesehen48. Aus dem Identitätsprinzip gehen außerdem gewisse Treuepflichten der Mitglieder untereinander49 und gegenüber der eingetragenen Genossenschaft50 hervor, die insbesondere bei personalistisch strukturierten Vereinigungen weit reichen51 und als echte Rechtspflichten zu verstehen sind, die jegliches genossenschafts- oder mitgliederschädigendes Verhalten untersagen sowie zu einem positiven Tun verpflichten können52. Dazu gehören neben der genossenschaftlichen Duldungspflicht vor allem das genossenschaftliche Gleichbehandlungsgebot, das sowohl in der Mitgliedschaftsbeziehung als auch im Fördergeschäftsverkehr gilt53.

Der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz besagt lediglich, dass die von den Mitgliedern eingebrachten Mittel durch die Geschäftsleitung möglichst sparsam und rentabel eingesetzt werden sollen, was aber keine Eigenart der eingetragenen Genossenschaft ist54.

6. Mitgliederförderung

Das besondere Förderprinzip meint die Notwendigkeit der Förderung ihrer Mitglieder durch eine Benutzung des genossenschaftlichen Unternehmens, also durch gemeinsamen Fördergeschäftsverkehr55.

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II. Genossenschaften als sozialethische Veranstaltung

Hätte die privatrechtliche Genossenschaft einen sozialethischen Charakter, könnte dies einen Mehrwert bei der Rechtsformwahl für bestimmte Einsatzbereiche gegenüber anderen Organisationsformen darstellen und möglicherweise die organisationsrechtliche Ausgestaltung einer Genossenschaft des öffentlichen Rechts beeinflussen. Diese Thematik ist daher näher zu untersuchen.

1. Eingetragene Genossenschaften als gemeinwohlfördernde Organisationsform

Teilweise wird ein sozialethisches Wesen der Genossenschaft aus der Genossenschaftsidee selbst gezogen: Kern dieser sei der Wunsch der Mitglieder nach selbstständiger Lebens- und Wirtschaftsgestaltung durch freiwillige Einordnung selbiger in die zur Lösung gemeinsamer Aufgaben und wirtschaftlicher Probleme errichteten Gemeinschaft56. Trotz dieser Einordnung gehe es aber weiterhin nur um die Unterstützung des wirtschaftenden Einzelmenschen, um seine Einzelpersönlichkeit und ihre Funktion im Gemeinschaftsleben zu erhalten; das genossenschaftliche Wirtschaften sei somit kein Selbstzweck57. Die genossenschaftlichen Grundsätze der Freiwilligkeit, Mitgliedschaft, Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung seien Bedingungen für die Synthese zwischen persönlicher Freiheit und selbstauferlegter Bindung zugunsten der größeren Gemeinschaft58. Aufgrund dieser Synthese seien Ziel und Inhalt der Mitgliedschaft die persönliche Beteiligung des Genossen, im Gegensatz zur kapitalmäßigen Beteiligung59. Ausfluss dieses Grundgedankens seien beispielsweise die nur ausnahmsweise Möglichkeit der Vertretung in der Mitgliederversammlung, die persönliche Haftung der Mitglieder (wobei diese mittlerweile gemäß §§ 6 Nr. 3, 105 GenG per Satzung ausgeschlossen werden kann) und die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Duldungs- und Treuepflichten60. Zwar könnten die genossenschaftlichen Grundgedanken auch in anderen Gesellschaftsformen vorhanden sein, doch nur die Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft könne durch die rechtliche Einbettung ins Genossenschaftsgesetz eine Einhaltung der Genossenschaftsidee ←29 | 30→sicherstellen61, zumal die rechtliche Ausgestaltung immer an den Genossenschaftsgrundsätzen gemessen werden müsse62. Auch stünde bei der Genossenschaft wertebezogenes, gemeinsames Wirtschaften im Vordergrund, das Egoismen der Mitglieder zügele63. Hieraus wird die Schlussfolgerung gezogen, dass die Genossenschaft die sozialere und ethischere Gesellschaftsform64 bzw. ein wertebezogener körperschaftlich verfasster Rechtstyp sei65.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch diejenigen, die die privatrechtliche Genossenschaft als natürlichen Teil der Gemeinwirtschaft bzw. des Dritten Sektors66 verstehen. Auch diese knüpfen einerseits an den Charakter der eingetragenen Genossenschaft als Personenvereinigung, der über eine bloße wirtschaftliche Zweckgemeinschaft hinaus gehe, und andererseits an das Verständnis des genossenschaftlichen Förderauftrags, der nicht lediglich die Senkung der Ausgaben und Steigerung der Einnahmen beinhalten könne67, an68. Das daraus abgeleitete Solidaritätsverständnis transzendiere den Mitgliederkreis und umfasse auch das Gemeinwohl69. Hierauf fußt auch der Beschluss des Internationalen Genossenschaftsbundes (IGB), nach welchem die Genossenschaften für ←30 | 31→Ehrlichkeit, Offenheit, soziale Verantwortung und Sorge für andere stünden70; sie sich mithin für die nachhaltige Entwicklung ihrer Gemeinwesen einsetzen sollen71.

2. Eingetragene Genossenschaft ohne sozialethische Verpflichtung

Diesen Ansätzen hält vor allem Beuthien eine nüchterne Betrachtung des Organisationsrechts der eingetragenen Genossenschaft entgegen72. So sind derartige Sozialwerte nicht der eingetragenen Genossenschaft exklusiv zu eigen, sondern können insbesondere Ehrlichkeit, Offenheit und sozialverantwortungsvolles Handeln ebenso durch andere Gesellschaftsformen gepflegt werden73. Zunächst hat die eingetragene Genossenschaft keinen genossenschaftlichen Förderauftrag74, der zu einer besonderen Sozialethik verpflichten könnte, sondern dies kann allenfalls durch die Nutzung der Satzungsautonomie der Mitglieder geschehen75. Diese Förderung Dritter (dazu gehören auch Träger öffentlicher Interessen) darf aber nur stattfinden, wenn die Fähigkeit der eingetragenen Genossenschaft, ihre eigenen Mitglieder zu fördern, dadurch unbeeinträchtigt bleibt oder sogar gefördert wird76, was gerade nicht einer Verfolgung von Zielen im Sinne einer économie sociale77 entspricht und auch nach der Genossenschaftsnovelle von 2006 mit ihrer Erweiterung auf solche Förderzwecke sozialer ←31 | 32→und kultureller Natur in § 1 Abs. 1 GenG zu verneinen ist78. Die Gemeinwohlbindung einer Genossenschaft aus Art. 14 Abs. 2 S.2 GG geht zudem nicht weiter als bei anderen Unternehmensträgern; die Genossenschaft und das von ihr betriebene Unternehmen sind gerade keine gesellschaftsbezogene Veranstaltung79. Das drückt sich dadurch aus, dass die eingetragene Genossenschaft auch Vergütung für ihre kulturellen und sozialen Förderleistungen verlangen muss, während beispielsweise ein Idealverein die Kostendeckung durch Beiträge und Umlagen der Mitglieder betreiben kann80. Der soziale Bezug könnte höchstens durch gemeinschaftliches Erwirtschaften für alle bedürftigen Mitglieder hergestellt werden, was aber bereits mit dem Tatbestandsmerkmal „durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb“ abgedeckt ist81.

Anzuerkennen ist aber, dass eine soziale Komponente durch die Aufnahme solcher Mitglieder, die zwar Beiträge leisten, selbst aber keine solchen in Anspruch nehmen, gegeben sein kann, weil dadurch die Gemeinnützigkeit der eingetragenen Genossenschaft nach §§ 51 ff. AO ermöglicht wird82. Sollte aber die Wohlfahrt der Mitglieder gesellschaftsrechtlich und betriebswirtschaftlich als oberstes genossenschaftliches Gebot verstanden werden, zeigen sich zahlreiche Widersprüche zwischen Förderidee und Wirklichkeit83. Oft wird die Besonderheit der Genossenschaft auch an der angeblich bloß dienenden Rolle des Kapitals festgemacht84. Jedoch hat das Kapital bei allen Vereinigungen eine zweckdienliche Funktion85; das Besondere besteht daher lediglich darin, dass es zur Erwirtschaftung förderwirtschaftlicher Leistungen im Sinne des § 1 Abs. 1 GenG ←32 | 33→eingesetzt werden muss und nicht nur zur Erzielung von Kapitalrendite86. Auch Genossenschaftsmitglieder erwarten von der Investition von Risikokapital eine wirtschaftliche Rendite – ob diese nun, wie bei einer Aktiengesellschaft, eine Dividende und Kurssteigerung oder, wie bei einer eingetragenen Genossenschaft, günstige Lieferkonditionen, eine Rückvergütung oder sonstige mitgliedschaftliche Vorteile sind, ist irrelevant für die Beschaffenheit der Interessen der Mitglieder bzw. Anleger87.

Die Genossenschaft hat auch keine Doppelnatur im Sinne einer parallelen Existenz von Personenvereinigung einerseits und Gemeinschaftsbetrieb der Mitgliederwirtschaften andererseits88; vielmehr ist sie wie jede andere wirtschaftliche Vereinigung ein gesellschaftsrechtlich verfasster Unternehmensträger89. Aus dem Identitätsprinzip herauszulesen, dass bei einer eingetragenen Genossenschaft die Person als Mitglied im Mittelpunkt steht, verkennt, dass es dabei im Kern nur um die austauschbare Fähigkeit geht, sich von der Genossenschaft fördern lassen zu können; die Mitgliedschaft ist daher gerade nicht höchstpersönlich90. Darüber hinaus ist das Identitätsprinzip nicht Ausfluss einer spezifisch genossenschaftlichen Mitgliederförderung, da, wie der allgemeine Rechtsgedanke des § 705 BGB zeigt, sämtliche gesellschaftsrechtlichen Vereinigungen grundsätzlich ihre Mitglieder fördern91, sondern es entstammt der besonderen genossenschaftlichen Nutzerbezogenheit des Förderzwecks92. Ferner verpflichtet es die Mitglieder nicht zu einem solidarischen Verhalten zueinander, weil es beim Förderverkehr um genossenschaftliche Selbsthilfe und nicht um wechselseitige Mithilfe geht, was sich auch daran zeigt, dass die Mitglieder ihre gemeinschaftsdienlichen Geschäftsabschlüsse allein mit der eingetragenen Genossenschaft tätigen93.

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Die genossenschaftlichen Treue- und Duldungspflichten weisen zwar in gewisser Hinsicht Spitzen im Vergleich zu anderen Gesellschaftsformen auf, stechen aber in der Gesamtschau nicht derart hervor, dass eine besondere genossenschaftliche Solidarität aus diesen herausgelesen werden könnte94. Die besonderen Regeln über Ein- und Austritt der Mitglieder sind der offenen Mitgliederstruktur geschuldet, haben also nicht den Hintergrund, dass es auf die Mitglieder als Personen (oder gar deren Persönlichkeit, im Gegensatz zum Kapitaleinsatz) ankommt95. Das egalitäre Kopfstimmrecht als Ausfluss des bei eingetragenen Genossenschaften besonders ausgeprägten Gleichheitsprinzips und dessen enge Ausnahmen sind weniger ein Wesensmerkmal dieser Rechtsform oder Ausfluss eines sozialethischen bzw. demokratischen Grundgedankens96 als eine organisationsrechtliche Zweckmäßigkeitsfrage97, die auf einer angemessenen Differenzierung zwischen den Mitgliedern in Bezug auf ihre Fördergeschäftsbeziehung zur eingetragenen Genossenschaft basiert98. Der Rückgriff auf genossenschaftliche Prinzipien zur Begründung einer besonderen Sozialmoral schließlich trägt, auch vor dem Hintergrund christlicher Sozialethik oder eines sozialgeschichtlichen Kontextes99, keine Früchte, da sich die Selbsthilfe im genossenschaftlichen Förderzweck erschöpft und die Selbstverantwortung im Zuge diverser Genossenschaftsrechtsnovellen weitgehend abgeschafft wurden100.

3. Zwischenfazit

Im Ergebnis sprechen daher die besseren Argumente gegen einen der eingetragenen Genossenschaft inhärenten sozialethischen Charakter. Dies vor allem, weil sie sich an der tatsächlichen gesellschaftsrechtlichen Struktur im Rahmen ←34 | 35→des Genossenschaftsgesetzes orientieren, anstatt sich von dieser zu lösen und der Frage nur anhand von (im Übrigen nicht ubiquitär anerkannten) genossenschaftlichen Prinzipien nachzugehen und der eingetragene Genossenschaft dadurch ein höheres, überpositives Wesen zuzusprechen101. Dies verdeutlicht auch eine historische und rechtsvergleichende Perspektive: Während weitestgehend Einigkeit darüber besteht, dass die privatrechtlichen Genossenschaften in ihren Anfängen einen sozialpolitischen Charakter hatten und damit institutionell der Gemeinwirtschaft zugerechnet werden konnten, hat sich das deutsche Genossenschaftswesen im Laufe der Zeit überwiegend einen mittelständischen Charakter angeeignet, welcher sich an den christlich-liberalen Ursprüngen von Schulze-Delitzsch sowie Raiffeisen orientierte und dementsprechend unter Genossenschaftlichkeit die Stärkung der Autonomie und der Selbstständigkeit des einzelnen Mitglieds sowie die Erfüllung ordnungspolitischer Aufgaben im Wettbewerb verstand102. In anderen europäischen Ländern, die sich der demokratisch-sozialistischen Tradition verbunden fühlen, werden die privatrechtlichen Genossenschaften, auch anknüpfend an die Prinzipien der Pioneers of Rochdale, dem gemeinwirtschaftlichen Sektor zugeordnet; ihre Aufgaben bestehen daher sowohl in der Mitgliederförderung als auch in der Förderung des Gemeinwohls103.

E. Neue kooperative Ökonomie und ihre genossenschaftliche Verwirklichung

Der Begriff der neuen kooperativen Ökonomie beschreibt den weltweiten organisatorischen Trend, dass immer mehr Unternehmen ihre Umsätze in Kooperationen jeglicher Art erwirtschaften, die auf Dauer angelegt sind und jenseits der alternativen marktwirtschaftlichen Koordinationsformen (Markt und Unternehmen) zu verorten, jedoch keinesfalls auf genossenschaftliche Strukturen festgelegt sind104. Als Vorteile der Kooperation gelten die Steigerung der Effizienz wirtschaftlicher Aktivitäten, die Steigerung wirtschaftlicher Macht, die Kreation zusätzlicher Werte durch Kooperationen, der Zugang zu komplementären Kernkompetenzen, die Senkung der Organisationskosten sowie gemeinsame ←35 | 36→Problemlösungen bei der zunehmenden Komplexität einer Wissensgesellschaft105. Bei der konkreten Institutionalisierung der Kooperation ist generell ein optimaler Mix aus den widerstreitenden Mechanismen der Stabilität und Flexibilität zu schaffen sowie der Grad der gewünschten Institutionalisierung zu ermitteln, mit welchem auch die Verbindlichkeit der Kooperation und damit die gegenseitige Abhängigkeit der Kooperationspartner steigt106. Erfolgsfaktoren für eine Kooperation sind das Begreifen der einzelwirtschaftlichen Kooperationsentscheidung als strategische Weichenstellung, die eine professionelle Umsetzung erfordert, die Bewältigung des ausgeführten Institutionalisierungs-Trade-offs zwischen Flexibilität und Stabilisierung sowie die Einrichtung eines effizienten Kooperationsmanagements zur Steuerung der Kooperation107. Im Folgenden soll der Blick sich auf genossenschaftliche Kooperationen beschränken, bei denen sich die Kooperation auf horizontaler Ebene mittels eines vertikalen Elements, nämlich dem gemeinsamen Unternehmen, vollzieht108. Ihre Governancestrukturen, die sich aus Kontinuität, Konzept, Konsistenz, Kooperation, Kompetenz und Kultur zusammensetzen, sollen ökonomisch näher untersucht werden, wobei vom Idealmodell der Genossenschaft ausgegangen wird109.

Wegen des von der Genossenschaft zu fördernden Member Value110 werden Entscheidungsfindungsprozesse eher von langfristigen Überlegungen geleitet, sodass die Unternehmensführung kontinuierlich arbeitet, wozu auch die obligatorische Überwachung durch eine unabhängige Kontrollinstanz beiträgt111. Konzept beschreibt die Tatsache, dass Genossenschaften wie jedes andere auf dem Markt tätige Unternehmen auch Gewinne erwirtschaften sollen, diese aber nicht in beliebiger Form an die Mitglieder ausschütten, sondern für die Finanzierung von Investitionen zur Sicherstellung des langfristigen Förderpotenzials des Unternehmens nutzen112. Die genossenschaftliche Mitgliedschaft begünstigt zudem eine (Anreiz-)Konsistenz, welche Langfristigkeit und Dauerbeziehungen in einem komplexen und dynamischen Umfeld ermöglicht und somit eine Senkung von Transaktionskosten bewirkt sowie nebenher informelle Institutionen ←36 | 37→wie Geborgensein, gemeinsame Werte und soziale Zugehörigkeit schafft113. Genossenschaftliche Kooperation bezeichnet die Inkorporation in Netzwerke, die es Genossenschaften ermöglichen, die notwendige wirtschaftliche Größe und Vielfalt neben den Anreiz- und Flexibilitätsvorteilen kleiner Einheiten zu erreichen114. Das Merkmal der Kompetenz meint die Kombination aus dezentralen Mitgliedern, die regionale Besonderheiten der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie Interessen und Bedürfnisse ihrer Kunden kennen, und der Genossenschaft, die eine effiziente Produktion und Bereitstellung der benötigten materiellen und immateriellen Ressourcen gewährleistet, über die Erstere nicht verfügen115.

Schließlich resultieren aus kollektivem Eigentum bestimmte Gefahren wie externe Effekte, Überbeanspruchung gemeinsamer Ressourcen und Trittbrettfahrerprobleme, die durch eine weitgehende Homogenität der Mitglieder in Bezug auf Zielsetzungen, Zeitpräferenzen sowie Präferenzen für bestimmte institutionelle Lösungen gemindert werden können116. Die genossenschaftliche Entscheidungsfindung ist eine demokratische, was aber nicht auf Kosten einer effizienten Entscheidungsfindung gehen darf; die Potenziale des genossenschaftlichen Systemvertrauens können nur gehoben werden, wenn die Vorzüge der Mitbestimmung und Einflussnahme mit einer effizienten Entscheidungsfindung in Einklang gebracht werden117. Die genossenschaftliche Organisationsform bietet eine Möglichkeit zur Kultivierung dieses Systemvertrauens, auf Basis dessen das Vertrauen genossenschaftlicher Akteure in das Verhalten des jeweils anderen den Charakter einer riskanten Vorleistung verliert und vielmehr als rationale Verhaltensweise erscheint118.

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F. Beispiele für neue Tätigkeitsgebiete eingetragener Genossenschaften

Neben den traditionellen Tätigkeitsgebieten eingetragener Genossenschaften119 sollen hier beispielhaft neuere Betätigungsfelder eingetragener Genossenschaften erörtert werden120, die unter anderem mit der Ausdehnung der genossenschaftlichen Fördertätigkeit auf soziale und kulturelle Belange in § 1 Abs. 1 GenG zusammenhängen. Zudem wird dies mit einem dem genossenschaftlichen Wirtschaften inhärenten Innovationspotenzial in Verbindung gebracht121. Die Anzahl der Neugründungen zeugt auch von einem gestiegenen Bedürfnis vieler Menschen, gewisse wirtschaftliche Betätigungsfelder eigenverantwortlich zu organisieren122. Die eingetragenen Genossenschaften als klassische Infrastrukturleistungsträger unterstützen sie mit ihren besonderen Strukturen dabei und aktivieren auf diese Weise bürgerschaftliches Engagement123.

I. Gesundheitsversorgung

Genossenschaftliche Akteure im Gesundheitssektor sind unter anderem Gesundheitsgenossenschaften, Ärztegenossenschaften und Krankenhäuser in genossenschaftlicher Trägerschaft124. In einigen strukturschwachen ländlichen Gebieten Deutschlands besteht bereits oder droht eine Unterversorgung an medizinischen Leistungen, die durch den steigenden Bedarf einer alternden Bevölkerung noch verschärft wird125. Als Lösung werden unter anderem Gemeinschaftspraxen, Ärztehäuser und lokale Gesundheitszentren in genossenschaftlicher Form vorgeschlagen126.

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II. Energieversorgung

Der dezentrale Charakter der Energiewende mit ihrer durch die Gesetzgebung geförderten Akteursvielfalt und dem Wunsch der Bürger nach regionaler Produktion von Erneuerbaren Energien, aus der auch regionale Wertschöpfung resultiert127, weist viele Schnittstellen zu den Grundwerten eingetragener Genossenschaften auf. Zwischen 2008 und 2013 wurden etwa 560 Energiegenossenschaften gegründet, in denen sich Bürger, vielfach auch unter Beteiligung von Gemeinden (wenn nicht bereits initiiert durch diese), um beispielsweise für die Stromgewinnung durch Photovoltaik auch Flächen öffentlicher Einrichtungen nutzen zu können, zur Erzeugung Erneuerbarer Energien zusammenzuschließen128. Außerdem sind in vielen Regionen Deutschlands Genossenschaften als regionale Energieversorgungsunternehmen tätig, betreiben beispielsweise Nahwärme- und Stromnetze oder organisieren Bioenergiedörfer, in denen die Energieversorgung vollends den Bürgern überantwortet wurde129. Seit 2006 haben Energiegenossenschaften Investitionen im Umfang von 1,35 Milliarden Euro getätigt, die überwiegend dezentralen und regionalen Strukturen zugeflossen sind130.

Details

Seiten
282
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631857120
ISBN (ePUB)
9783631857137
ISBN (MOBI)
9783631857144
ISBN (Hardcover)
9783631849071
DOI
10.3726/b18523
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Februar)
Schlagworte
Genossenschaftswesen Verwaltungswissenschaften Open Government Funktionale Selbstüerwaltung Demokratische Legitimation Institutioneller Gesetzesvorbehalt Vergaberecht Öffentliche Aufgabenerledigung Bürgerschaftliches Engagement
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 282 S.

Biographische Angaben

Florian Kuhlmann (Autor:in)

Florian Kuhlmann studierte Rechtswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er war als geschäftsführender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lorenz-von-Steinlnstitut für Verwaltungswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel tätig, wo auch seine Promotion erfolgte.

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Titel: Die Genossenschaft des öffentlichen Rechts