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Materialien zur Rezeption der Wiener Moderne in Bulgarien bis 1944

Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler

von Mladen Vlashki (Autor:in)
©2022 Monographie 190 Seiten
Reihe: Wechselwirkungen, Band 26

Zusammenfassung

Mit diesem Buch wird erstmals die Rezeption der literarischen Wiener Moderne in Bulgarien dargestellt. Es werden bislang nicht aufgearbeitete Quellen erschlossen. Die Publikation beginnt mit der Beschreibung des bulgarischen literarischen Feldes der Moderne unter Berücksichtigung von Vermittlern aus drei Generationen, Professor Ivan Šišmanov sowie den beiden Dichtern Teodor Trajanov und Geo Milev. Es folgen drei Fallstudien über die kritische und die Übersetzungsrezeption von Bahrs, Hofmannstahls und Schnitzlers Werken in Bulgarien bis 1944. Die Studien zeigen drei verschiedene rezeptive Handlungen: die Aneignung der theoretischen Ansätze Bahrs; die Schwierigkeiten bei der Rezeption von Hofmannsthals hochkomplexem Werk; die verlockende «Leichtigkeit» von Schnitzlers Werk im Kontext der Entwicklung des bulgarischen marktorientierten Verlagswesens.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • About the author
  • About the book
  • This eBook can be cited
  • Table of Contents
  • 1. Einleitung
  • 2. Das bulgarische literarische Feld als Zielraum des Transfers und als Rezeptionsrahmen
  • 2.1. Der Nullpunkt des bulgarischen literarischen Feldes
  • 2.2. Die Charakteristik des bulgarischen literarischen Feldes mit Rücksicht auf den Kulturtransfer
  • 2.3. Literarischer Transfer von Wien nach Sofia
  • 2.3.1. Transferkanäle zwischen Österreich und Bulgarien zur Zeit der Moderne
  • 2.3.2. Die Vermittler
  • 3. Hermann Bahr in Bulgarien
  • 3.1. Erste rezeptive Bilder Hermann Bahrs in bulgarischen Periodika
  • 3.2. Hermann Bahr und das bulgarische Theater
  • 3.3. Ein Fall rezeptiver Praxis auf privater Ebene
  • 3.4. Das Einbeziehen Hermann Bahrs in die bulgarische Dekadenzdebatte
  • 3.5. Hermann Bahr als Klassiker der Moderne in Bulgarien
  • 3.6. Fazit
  • 4. Hugo von Hofmannsthal in Bulgarien
  • 4.1. Erste bulgarische Begegnungen mit Hofmannsthal durch russische und sozialistische Rezeptionsbilder
  • 4.2. Erste Übersetzungen ins Bulgarische
  • 4.3. Transfer und Übersetzung der Hofmannsthalschen Lyrik
  • 4.4. Hofmannsthals „Elektra“ als Prüfstein der modernen bulgarischen Kultur
  • 4.5. Die letzte Phase der Rezeption Hofmannsthals in Bulgarien
  • 4.6. Fazit
  • 5. Arthur Schnitzler in Bulgarien
  • 5.1. Erste Transferprodukte und rezeptive Herangehensweisen
  • 5.2. Schnitzlers Rezeption in den bulgarischen Periodika
  • 5.3. Die bulgarischen Übersetzungen von „Reigen“
  • 5.4. Die Popularität Schnitzlers in Bulgarien: Bedingungen und Mechanismen
  • 5.5. Das theatralische Misslingen von Schnitzlers Dramen in Bulgarien
  • 5.6. Fazit
  • Literatur
  • Archivbestände

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1. Einleitung

Die Literatur der Wiener Moderne bleibt als einheitliches Kulturphänomen für die Bulgaren bis heute unbekannt. Mit der bulgarischen Literatur der Moderne sind in Europa nur wenige Literaturwissenschaftler vertraut1. Dasselbe Bild einer fehlenden Wechselwirkung zwischen Wien und Sofia auf dem europäischen literarischen Feld zeigt sich auch den gegenwärtigen Lesern, Kritikern und Forschern – eine Sachlage, die fest in der Geschichte verwurzelt ist. Als sich der bulgarische Schriftsteller Dimitӑr Šišmanov 1930 mit Arthur Schnitzler traf, soll der Wiener Dichter gesagt haben:

Obwohl wir fast Nachbarvölker sind, wissen wir über Bulgarien nichts weiter als das, dass dort öfters politische Morde begangen und Bomben gezündet werden. […] Und ob es in Bulgarien ein Kulturleben gibt, ob es dort etwas anderes als die Bomben gibt, können wir nur vermuten, weil niemand sich die Mühe gemacht hat, uns in dieser Frage zu erleuchten. (Šišmanov 1930: 1)2

Aufgrund dieses Nichtwissens bestand für die Literaturwissenschaft sowohl in Bulgarien als auch außerhalb davon jahrzehntelang kein Zweifel daran, dass die Literatur der Wiener Moderne keine prägende Rolle für die moderne bulgarische Kultur und insbesondere Literatur gespielt hat.

Als Folge verschiedener Umorientierungen der einzelnen literaturwissenschaftlichen Denkansätze in der zweiten Hälfte des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts verbleibt jedes Thema, das die Beziehungen der bulgarischen Literatur zur Wiener Moderne als Forschungsfeld eingrenzt, jenseits der Suche nach verallgemeinernden komparatistischen oder theoretischen Modellen und verliert auf diese Weise seine Anziehungskraft für das postmoderne Projektdenken. Daraus folgt ein Mangel an Untersuchungen und Publikationen, der ←7 | 8→im gemeinsamen Kontext der schwächer werdenden Sichtbarkeit der Bulgaristik insgesamt steht.

Die Zuversicht, dass das Miteinbeziehen von Autoren und Werken der Wiener Moderne in die Kämpfe auf dem bulgarischen literarischen Feld der Moderne seine geschichtliche Gültigkeit hat, gibt mir meine langjährige literarisch-archäologische Arbeit. Eine Unmenge von mit dem Transfer zwischen Wiener Moderne und Bulgarien bis 1944 verbundenen Fakten wurde nach jahrzehntelanger Vergessenheit neu entdeckt, darunter einige, die man für die Literatur endgültig verloren glaubte.

Das vorliegende Buch versammelt diese Fakten und meine Argumente, die ein neues Licht auf die Rezeption der Wiener Moderne in Bulgarien bis zum Jahr 1944 werfen. Die Publikation dieses Bandes wurde durch die Unterstützung der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien ermöglicht. Dankbar bin ich auch meinen Freunden Mariya und Atanas Cvetkovi, die mir bei dieser Publikation meiner Untersuchungen geholfen haben.

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2. Das bulgarische literarische Feld als Zielraum des Transfers und als Rezeptionsrahmen

Die wissenschaftliche Verwendung des Terminus „literarisches Feld“ als Zielraum eines Transfers setzt die Kenntnis seiner Struktur voraus. Leider gibt es bis heute kein Werk, das eine detaillierte Beschreibung des bulgarischen literarischen Feldes anbieten kann. Daher sollen gleich zu Beginn zumindest diejenigen seiner Eigenschaften skizziert werden, die in direktem Zusammenhang mit dem beobachteten Übertragungs- und Aufnahmeprozess stehen.

2.1. Der Nullpunkt des bulgarischen literarischen Feldes

Als „kleine Literatur“ hat die bulgarische ihre nationale Basis während der sogenannten Periode der Wiedergeburt von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gründung des bulgarischen Fürstentums im Jahr 1878 aufgebaut. Am Anfang der Periode war sie rein aufklärerisch der Bildung gewidmet und wurde durch Abschriften verbreitet. Das erste gedruckte Buch in neubulgarischer Sprache war Kiriakodroumion sireč Nedelnik von Sofronij Vračanski [Sophronius von Wraza], 1806 in der rumänischen Stadt Râmnicu Sărat gedruckt. Die erste bulgarische Druckfibel Riben bukvar [Fischfibel] wurde 1824 in Brașov veröffentlicht, einer Stadt, die damals zu der österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte. Die erste bulgarische Zeitung „Bălgarski orel“ [Bulgarischer Adler] erschien in Leipzig (1846), wurde aber von ihrem Verleger Ivan Bogorov als „Konstantinopel-Zeitung“ (1848–1862 in Konstantinopel) weitergeführt. In den 50er- und 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts schufen in Russland ausgebildete Schriftsteller die ersten originären Werke der bulgarischen Literatur. Sie entstanden in direktem Kontakt mit ausländischen Modellen, doch sehen die Forscher in ihnen eine bewusste Opposition zu den russischen und griechischen Vorbildern. Der rezeptive Charakter der literarischen Originalwerke ist auch für das zukünftige literarische Feld Bulgariens bestimmend. Der einflussreiche Slawist Svetlozar Igov entwickelte und verteidigte die folgende These:

bălgarsakata literatura, naprimer, ošte ot svoeto văznikvane e primer za receptivna (kato kontrapunkt na avtochtonnite) kulturi. [...] Novata (sled Văzraždaneto) bălgarska literatura săšto predstavja poveče transplantacija na novoevropejski literaturni paradigmi […], otkolkoto transformacija na starite knižovni tradicii.←9 | 10→

[[D]‌ie bulgarische Literatur etwa ist seit ihrer Gründung ein Beispiel für eine rezeptive Literatur (als Kontrapunkt zur autochthonen). […] Die neue bulgarische Literatur (nach der Wiedergeburt) stellt eher eine Transponierung von neueuropäischen literarischen Paradigmen […], als eine Transformation der alten Literaturtraditionen dar.] (Igov 2001: 56)

Von einem literarischen Feld kann man in diesem Zeitraum nur bedingt sprechen: Seine Teilnehmer waren meist Emigranten in Serbien, Rumänien und Russland, ihre Verlags- und Druckorte befanden sich in Belgrad, Novi Sad, Bukarest, Wien, Leipzig und innerhalb des Osmanischen Reiches in Konstantinopel. Ein echtes literarisches Feld entstand in diesem Sinne erst nach der Gründung des dritten bulgarischen Staates 1878, jedoch nicht im Fürstentum Bulgarien, sondern in der autonomen osmanischen Region Ostrumelien mit dem Zentrum Plovdiv. Nach der Vereinigung im Jahr 1885 wurde das literarische Zentrum in die Hauptstadt Sofia verlegt. Mit der Gründung des ersten bulgarischen Literaturkreises „Misăl“ [Gedanke] um die Herausgabe der gleichnamigen Zeitschrift (1892–1907) begann parallel zur Bildung des literarischen Feldes die Modernisierung der bulgarischen Literatur und Kultur. Charakteristisch für diesen historischen Moment sind: das Vorhandensein eines schwachen literarischen Kapitals; das Fehlen eines gebildeten Publikums, einer Fachpresse und Verlagsinstitutionen; die anhaltende stilistische und inhaltliche Dominanz der Wiedergeburts-Literatur. Die einzigen angesehenen Autoren waren Georgi Rakovski, Ljuben Karavelov, Christo Botev, die jedoch nicht mehr unter den Lebenden weilten. Die Autoren der damaligen bulgarischen Literatur listet Konstantin Jireček in seinem enzyklopädischen Werk von 1891 „Das Fürstentum Bulgarien, seine Bodengestaltung, Natur, Bevölkerung, wirthschaftliche Zustände, geistige Cultur; mit 42 Abbildungen und einer Karte“ auf: Ivan Vazov, Konstantin Veličkov, Stojan Michajlovski, Ivan Šišmanov, Ivan Danev von Rusčuk, Slavejkov der Jüngere [Penčo Slavejkov], D. Mišev, Tr. Kitančev aus Ochrid, Iv. Karanov aus Kratovo, Ivan. E. Gešov und Veselin [Todor Vlajkov] (Jireček 1891: 255 ff.). Diese elf Namen repräsentierten dreizehn Jahre nach der Befreiung Bulgariens die bulgarische Literatur vor Europa. Das bulgarische literarische Feld in seiner modernen europäischen Struktur, wie sie Pierre Bourdieu beschreibt, begann nach der Gründung des Dritten bulgarischen Staates von Grund auf Gestalt anzunehmen. In seiner ursprünglichen Ausgestaltung ist das Feld sehr heterogen – eine Charakteristik, die trotz der Bildung eines relativ autonomen Pols in den Jahren 1905 bis 1912 während des gesamten Beobachtungszeitraums erhalten bleibt.

Im Allgemeinen kann man mehrere historisch vorgegebene Merkmale annehmen, die die Struktur des bulgarischen literarischen Feldes im ←10 | 11→Untersuchungszeitraum bestimmen: Das Vorhandensein einer nur schwachen Schicht bulgarischer geisteswissenschaftlicher Intelligenz, die aufgrund des Mangels an Nachfrage auf dem Markt und an symbolischen Werten in direkter Abhängigkeit von den staatlichen Machtstrukturen steht, was zum Niedergang der Eigeninitiative führt (vgl. Daskalov 1998: 254 ff.); die Verknüpfung von intellektueller Tätigkeit mit dem „Dienst am Volk“ (Elenkov 1998: 66), d. h. stark orientiert an der nationalen Tradition, was Pascale Casanova zufolge ab einem bestimmten Zeitpunkt in der historischen Entwicklung des Feldes ein Hindernis für seine Integration in den literarischen Weltprozess darstellt (vgl. Casanova 1999: 148–164), insbesondere für die sogenannten „kleinen Literaturen“, wie die bulgarische; die einflussreiche Vermittlung durch eine dritte Kultur wie z. B. die russische aufgrund der sprachlichen Zugänglichkeit für die Akteure auf dem Feld, die keine anderen Fremdsprachen sprechen, und nicht zuletzt die schwache Partizipation bulgarischer Literaten in internationalen Übertragungsnetzen.

2.2. Die Charakteristik des bulgarischen literarischen Feldes mit Rücksicht auf den Kulturtransfer

Für den Anfang der neuen bulgarischen Kultur gelten Penčo Slavejkovs Worte über das bulgarische Theater: „zad gărba mu ne stoi nikakva tradicija, otpred pogleda mu – nikakva kitajska stena“ [hinter seinem Rücken steht keine Tradition, vor seinem Blick ist keine Chinesische Mauer] (Slavejkov 1910: 202). Im Jahre 1928 erklärt sein Nachfolger als Theaterdirektor des Nationaltheaters und Herausgeber von Zlatorog [Goldhorn] Vladimir Vasilev den europäischen Charakter der Modernisierungsidee Slavejkovs:

Details

Seiten
190
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631869345
ISBN (ePUB)
9783631869352
ISBN (Hardcover)
9783631830666
DOI
10.3726/b19198
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Februar)
Schlagworte
Literarisches Feld Literarische Archäologie Literarischer Transfer Bulgarische Moderne Kritische Rezeption Übersetzungsrezeption Bahrs Überwindung des Naturalismus Hofmannsthals Elektra Schnitzlers Reigen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 190 S., 3 s/w Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Mladen Vlashki (Autor:in)

Mladen Vlashki ist ein bulgarischer Komparatist und Literaturkritiker. Er ist an der Plovdiver Universität als Assoc. Professor tätig. Derzeit arbeitet er auch Lektor für Bulgarisch am Slavischen Seminar der Universität Freiburg.

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