Loading...

Die Literaturtheorie von Roman Ingarden und ihre Möglichkeiten für eine werkbezogene Analyse

by Ulrich Steltner (Author)
©2022 Monographs 220 Pages
Series: SLOVO, Volume 5

Summary

Die Philosophie des Husserl-Schülers Roman Ingarden (1893-1970) hat eine kunsttheoretische Komponente, die auch die Literatur betrifft. Demnach eröffnen das sprachliche Verstehen und das ästhetische Erleben den Zugang zum literarischen Kunstwerk . Diese Auffassung macht den intuitiv erfassbaren Bereich der Literatur sichtbar. Er bleibt zwar dem kognitiven Zugang verschlossen, ist aber auf beschreibbare Gegebenheiten zurückzuführen. Die Abhandlung erläutert Ingardens Konzept von Fiktionalität in Hinblick auf die Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Beschreibung des literarischen Kunstwerks als inneren Zusammenhang von Sprachlichkeit und ästhetisch wirksamer Anschaulichkeit. Die Problematik wird an zahlreichen Beispielen demonstriert

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1 Grundzüge von Ingardens Literaturtheorie
  • 1.1 Das Schichtenmodell
  • 1.2 Schema und Konkretisationen
  • 1.3 Die Unbestimmtheitsstellen
  • 1.4 Künstlerisch und ästhetisch valente Qualitäten
  • 1.5 Die metaphysischen Qualitäten
  • 2 Einzelfragen
  • 2.1 „Quasi-Urteil“, „Fiktionalität“, „Fiktion“
  • ‚Käte Hamburger vs. Roman Ingarden
  • ‚Autofiktion‘ und ‚Metafiktion‘ vs. Fiktionalität
  • Exkurs zu hermeneutischen Aspekten
  • 2.2 Dargestellte Gegenständlichkeiten, Unbestimmtheitsstellen und schematisierte Ansichten
  • Wolfgang Iser vs. Roman Ingarden
  • Anschaulichkeit
  • 2.3 Die Zeitperspektive als Moment der Konkretisation
  • Die Zeitperspektive aus formalistischer Sicht (Boris Tomaševskij)
  • 2.4 Die Sprachfunktionen und die Frage nach dem „Urheber“
  • 2.5 Die Konkretisation als Prozess und das Problem der Werthaltigkeit
  • Die „Idee“ des Kunstwerks
  • Exkurs zur „Gestaltqualität“
  • 2.6 Die „Wahrheit“ der Literatur
  • Das „lyrische Ich“
  • Exkurs zur sogenannten „engagierten Literatur“
  • 2.7 Das „Leben“ des literarischen Kunstwerks
  • 3 Schlussbetrachtung
  • Literatur
  • Namenverzeichnis
  • Reihenübersicht

←8 | 9→

Einleitung

Die epochale Abhandlung Das literarische Kunstwerk des polnischen Philosophen Roman Ingarden erschien 1931 als Original in deutscher Sprache.1 1937 folgte quasi ein zweiter Band O poznawaniu dzieła literackiego, der erst 1968 in einer von Ingarden verfertigten und wesentlich erweiterten Neufassung in deutscher Sprache unter dem analogen Titel Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks herauskam. Daneben gibt es eine Reihe von Aufsätzen im deutschen Original aus seiner Feder, die ein Jahr später unter dem Titel Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 1937–1967 veröffentlicht wurden. Schließlich gab Rolf Fieguth im Jahre 1976 eine Auswahl von einschlägigen polnischen Texten Roman Ingardens in deutscher Übersetzung heraus. Auch wenn die deutschen Fassungen in dieser Publikation Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft. Aufsätze und Diskussionsbeiträge (1937–1964) nicht von Ingarden stammen, berücksichtigen die Übersetzungen seinen speziellen an der Phänomenologie geschulten Stil in der konzisen Durchdringung komplexer Sachverhalte.2

Mittlerweile scheint die Zeit über die Phänomenologie und im Engeren über Ingardens Werk hinweg gegangen zu sein, ebenso wie über die sachverwandten, von vornherein aber eher genuin literaturwissenschaftlichen Ansätze etwa des Prager Strukturalismus. Es bedarf also wohl einer Begründung, wenn man sich Roman Ingardens Auffassungen erneut zuwenden möchte.

In den eingangs genannten Publikationen entwickelt Ingarden eine Theorie des literarischen Kunstwerks, d.h. des Werks der sogenannten Schönen Literatur. Sein der Phänomenologie und damit einer genuin philosophischen Tradition verpflichteter Ansatz fügte sich dennoch in die generellen Vorlieben der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ein, wie von heute aus konstatiert werden kann. Einerseits ging es um die Abwendung vom Historismus, die auf dem Gebiet der Philologien zuerst in der Sprachwissenschaft, sodann aber ←9 | 10→auch in der Literaturwissenschaft fruchtbar wurde.3 Andererseits hat vermutlich das gewachsene Prestige der Naturwissenschaften mit ihrem herkömmlichen Anspruch auf Exaktheit ebenfalls mit den Vorlieben der Zeit zu tun. Und schließlich spürt man auch das Problem einer neuen Kunstwissenschaft mitsamt der „wechselseitigen Erhellung der Künste“ (vgl. Walzel 1917), das ebenso zur Wende vom 19./20. Jahrhundert gehört. Auch wenn man unterstellen darf, dass sich weder die Phänomenologie, im Engeren also Ingarden, noch der Strukturalismus methodisch in der Literaturwissenschaft wirklich durchgesetzt hatten,4 lässt sich doch seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel beobachten (vgl. Ostermeyer 2016), streng genommen, eine Abkehr von der reflektierten Wissenschaftlichkeit der Literaturwissenschaft, also von der Frage, was sich an literarischen Kunstwerken überhaupt erkennen lässt und wie demzufolge das Instrumentarium auszusehen hat, dessen Beherrschung für diese Erkenntnis unumgänglich ist. Parallel dazu scheint insbesondere auch das Kunstverständnis selbst betroffen zu sein. Sensu stricto werden nämlich tendenziell alle Produkte des Schrifttums, wie z.B. wissenschaftliche Werke, Memoiren, Essays, Reportagen etc., und literarische Kunstwerke in Eins gesetzt, was insbesondere ihren Wahrheitsanspruch angeht. Andersherum gewendet, wird somit gleichermaßen der Wahrheitsanspruch beispielsweise der journalistischen Berichterstattung beschädigt, wie sich gerade in jüngster Zeit erkennen lässt. Dahinter verbirgt sich wohl auch ein modisches ‚konstruktivistisches‘ Verständnis von Wirklichkeit.

Ingarden entwirft einen Gesamtzusammenhang vom Einzelelement der Sprache bis zur Ästhetik der Schönen Literatur. Dabei geht es auch um die kategoriale Trennung der literarischen Kunstwerke vom übrigen Schrifttum. ←10 | 11→Im Folgenden wird der Fokus auf den Konsequenzen dieser Trennung liegen. Insbesondere soll die praktische Anwendbarkeit von Ingardens hochtheoretischen Darlegungen für die Literaturwissenschaft erörtert und an Beispielen demonstriert werden.

Ingardens Wiederentdeckung seit den 1960er Jahren hat mit der allgemeinen Hinwendung zu einer ‚formalen‘ Betrachtung der Literatur zu tun. Sowohl die russische „Formale Schule“ als auch der Prager „Linguistische Zirkel“ wurden nunmehr in (West-)Deutschland rezipiert5 und fungierten hier sicherlich auch in dem Prozess einer Art Entideologisierung im Hinblick auf die Vergangenheit der deutschen Geisteswissenschaften wie in Hinblick auf die neue ideologische Teilung der Welt im sogenannten „Kalten Krieg“ seit Ende der 1940er Jahre.6 Es folgte eine wahre Flut von allgemeinen literaturtheoretischen Modellen und analytischen Einzeluntersuchungen. Daher scheint es eigentlich unmöglich oder sogar vermessen zu sein, Ingardens ältere theoretische Ausführungen ←11 | 12→zu operationalisieren, ohne im Einzelnen auf diese Überlegungen einzugehen und ihr Verhältnis zu Ingarden zu bestimmen. Immerhin handelt es sich um das gleiche Objekt der Bemühungen, die Schöne Literatur. Dennoch steht auf der einen Seite Ingardens begriffliche Hermetik, auf der anderen Seite eine Reihe mittlerweile ggf. gängiger Beschreibungsansätze. Daraus erwächst ein Dilemma der Darstellung.

Zu dessen Illustration sei auf zwei Publikationen verwiesen, die sich mit Ingarden beschäftigen und die seine Auffassungen literaturwissenschaftlich erläutern wollen. Da ist zum einen die Publikation Phänomenologie und Literaturwissenschaft von Zoran Konstantinović (1973). Konstantinović bleibt begrifflich innerhalb von Ingardens Gedankenwelt, so dass letztlich bloß paraphrasiert, aber nicht erklärt wird. Und zum anderen die Einführung in die literarische Textanalyse von Josef Strelka (1989), in der er zwar Ingardens theoretisches Konstrukt vor Augen hat, aber weitgehend unabhängig von dessen Begrifflichkeit argumentiert. Weder die eine, noch die andere kann befriedigen.

Die vermutlich produktivste Auseinandersetzung mit Ingarden findet sich bei Wolfgang Iser, insbesondere in der von ihm postulierten Wirkungsästhetik. Er stellt sie explizit Ingardens Erlebnisästhetik gegenüber, erkennt aber an, „dass Ingarden durch seine Forschung zur Konkretisation literarischer Kunstwerke erst das Diskussionsniveau geschaffen hat, das es erlaubt, – und sei es auch noch im Gegenzug gegen ihn – dem von ihm visierten Sachverhalt andere Seiten abzugewinnen“. (Iser [1976], 10) Da es hier um die erläuternde Operationalisierung von Ingardens literaturtheoretischen Erörterungen geht, kann Iser seinerseits den Gegenpart stellen, um komplexe Sachverhalte zu klären.

Dreißig Jahre nach dem Erscheinen von Strelkas Einführung und rund neunzig Jahre nach der Erstauflage von Ingardens Buch Das literarische Kunstwerk soll es angesichts der oben umrissenen Ausgangslage nunmehr im Wesentlichen um eine Verteidigung der Literaturwissenschaft als Wissenschaft von der Wortkunst gehen, im Sinne eines positiv gesetzten Contra gegen ihre ggf. sachfremde Einordnung als bloße Hilfswissenschaft innerhalb eines interdisziplinären Konstruktes von „Kultur“, in der das Künstlerische der Kunst keine Rolle mehr zu spielen hat. Ingardens Werkverständnis scheint dafür das geeignete Objekt zu sein. Eine an sich nicht abzulehnende Interdisziplinarität müsste jeweils von den beteiligten Disziplinen her gedacht werden. (Vgl. Ingarden 1976a, 23) Nur dann kann sie fruchtbar sein und vor allem objektivierbar bleiben.

Ingarden geht es in den oben genannten Publikationen um ontologische Fragen des literarischen Kunstwerks. Er weist darauf hin, dass sich eine „Ontologie ←12 | 13→des literarischen Werkes […] in wesentlicher Weise sowohl von der Wissenschaft von der Literatur als auch von der literarischen Kritik“ unterscheide:

Ihre Verbindung mit der Wissenschaft von der Literatur besteht darin, daß sie dieser in einer ihrer Abteilungen, die ich einmal „Anatomie des literarischen Werks“ genannt habe, eine Reihe von allgemeinen Behauptungen liefert, die bei der charakteriologischen Einzelforschung als Direktiven verwendet werden können und die Grenzen dessen bezeichnen, was auf dem Gebiet der Literatur möglich ist.7

Die hier vorzunehmende Operationalisierung beansprucht also, diese „Direktiven“ in Hinblick auf ihre Funktionalität zu erläutern und anhand von Beispielen aus literarischen Werken konkret werden zu lassen. Daraus folgt notwendig die Begrenzung auf eine Gruppe von Behauptungen über das literarische Kunstwerk, die sozusagen die Alleinstellung von Ingardens Ausführungen betreffen. Es geht also nicht um eine ganze „Poetik“, wie sie offenbar Ingarden selbst in Angriff genommen hatte.8

Im Mittelpunkt der folgenden Erörterungen stehen nach einem generellen Umriss von Ingardens Begriffswelt ausgewählte kategoriale Besonderheiten, wie die Rolle der „Quasi-Urteile“ als Kriterium für Fiktionalität, das Problem der „Unbestimmtheitsstellen“, die sich in der nominalen Wortbedeutung finden und deren Ausfüllung eine wichtige Funktion für das Ganze eines Werkes hat, das Schichtenmodell der Sprache und darin vornehmlich die „Schicht der schematisierten Ansichten“ u.a.m.

Details

Pages
220
Year
2022
ISBN (PDF)
9783631872192
ISBN (ePUB)
9783631872208
ISBN (Hardcover)
9783631872147
DOI
10.3726/b19376
Language
German
Publication date
2022 (March)
Keywords
Fiktionalität Anschaulichkeit Literaturästhetik Sprachverwendung Sprachfunktionen Wahrheit der Literatur Zeitperspektive Gattungsfragen
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 220 S.

Biographical notes

Ulrich Steltner (Author)

Ulrich Steltner ist habilitierter Slavist. Er war Professor für Slavische Philologie an den Universitäten Erlangen und Jena. Seine Forschungsgebiete sind russische und polnische Literatur, Drama, Theater und Literaturtheorie

Previous

Title: Die Literaturtheorie von Roman Ingarden und ihre Möglichkeiten für eine werkbezogene Analyse