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Die betriebliche Mitbestimmung in Luftfahrtunternehmen gem. § 117 BetrVG

von Marcel Drissen (Autor:in)
©2022 Dissertation 302 Seiten

Zusammenfassung

Die Dissertation stellt die rechtlichen Grenzen und Möglichkeiten des ab dem 01. Mai 2019 geltenden § 117 BetrVG ausgehend von den zur alten Fassung des § 117 BetrVG etablierten Tarifregelungen dar. Detailfragen werden beleuchet, darunter u. a. die Konkretisierung des „Flugbetriebes", die Sperrwirkung, Details zum Wahlrecht sowie die Frage der Erstreikbarkeit. Die vom Gesetzgeber ausdrücklich angeordnete Nachwirkung wird für den Anwender handhabbar. Nicht zuletzt wird die Frage der Lösungsmöglichkeit von einem abgeschlossenen Tarifvertrag gem. § 117 BetrVG adressiert. Die Arbeit führt bei allen aufgeworfenen Fragen stets zu klaren und stringenten Ergebnissen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsverzeichnis
  • § 1 Einleitung
  • A. Einführung in die Untersuchung
  • B. Gang der Untersuchung
  • § 2 Die Ausgangslage
  • A. Historischer Gesetzgeber
  • B. Besonderheiten in der Luftfahrt
  • I. Keine synchronen Arbeits- und Ruhezeiten
  • II. Notwendige fortlaufende Flugerfahrung
  • III. Weitere Branchenbesonderheiten
  • IV. Zwischenergebnis
  • C. Bisherige Tarifpraxis im Überblick
  • I. Einheitlicher Betrieb
  • II. Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten
  • III. Die Erledigung der laufenden Geschäfte
  • IV. Verfahrenserleichterungen
  • V. Versetzungen
  • VI. Wirtschaftliche Mitbestimmung
  • VII. Zwischenergebnis
  • D. Erforderlichkeit einer Sonderregelung
  • I. Vereinbarung einer anderen Arbeitnehmerstruktur, § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG
  • II. Abweichungen durch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen
  • III. Betriebsvereinbarung und Verzicht
  • 1. Verzicht auf Mitbestimmungsrechte oder bloße Untätigkeit
  • 2. Indirekter Verzicht
  • IV. Die Problematik des Betriebsbegriffs nach dem BetrVG
  • V. Keine Lückenfüllung durch einen Europäischen Betriebsrat
  • E. Zusammenfassung
  • § 3 Auswirkungen des § 117 Abs. 1 S. 2 BetrVG
  • A. Die Neuregelung im Überblick
  • I. Die Erwartungen an das Gesetz
  • II. Verworfene Regelungsvorschläge
  • III. Gewählte Regelungsart: Tarifdispositives Gesetzesrecht
  • B. Vereinbarkeit des § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG mit höherrangigem Recht
  • I. Europarecht
  • 1. Richtlinie 2002/14/EG
  • 2. Art. 27 GRCh
  • II. Verfassungsrecht
  • 1. Die Diskussion um § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG a. F.
  • 2. Literatur zur Neuregelung
  • 3. Der sachliche Grund in Art. 3 GG
  • 4. Verhältnismäßigkeit
  • 5. Gebot oder Verbot tarifdispositiver Gesetzesregelung
  • 6. Einzelfallgesetz
  • 7. Anwendbarkeit der Grundrechte auf die Regelung in Tarifverträgen
  • C. Vereinbarkeit der Einbeziehung von Außenseitern mit höherrangigem Recht
  • I. Europarecht
  • II. Verfassungsrecht
  • 1. Stand der Rechtsprechung
  • 2. Kritik in der Literatur
  • 3. Untersuchung
  • a) Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip
  • b) Die negative Tarifvertragsfreiheit
  • c) Die positive Koalitionsfreiheit
  • d) Berufsfreiheit der Arbeitnehmer
  • e) Berufsfreiheit des Arbeitgebers
  • f) Art. 3 Abs. 1 GG
  • g) Zwischenergebnis
  • III. Voraussetzung der Vertretung der Gewerkschaft im Betrieb
  • IV. Richtigkeitsgewähr eines Tarifvertrages gem. § 117 BetrVG
  • 1. Zur Parität der Tarifvertragsparteien
  • 2. Materielle Richtigkeitsgewähr
  • D. Tatbestandsvoraussetzungen
  • I. Luftfahrtunternehmen
  • II. Beschäftigung im Flugbetrieb
  • 1. Der Flugbetrieb als Tatbestandsmerkmal
  • 2. Die Beschäftigung im Flugbetrieb
  • 3. Der Betrieb als Bezugspunkt der Mitbestimmung
  • a) Betriebsbegriff des BetrVG
  • b) Bedeutung für Luftfahrtunternehmen
  • aa) Das Flugzeug als Betrieb
  • bb) Heimatbasen als Betrieb
  • cc) Bedeutung der Arbeitsorganisation durch den Arbeitgeber
  • dd) Ausschluss durch internationale Organisation des Unternehmens?
  • ee) Zwischenergebnis
  • c) Verhältnis zum Landbetrieb
  • d) Zuordnung der Arbeitnehmer zum Betrieb
  • III. Arbeitnehmer
  • 1. Arbeitnehmerbegriff
  • 2. Leitende Angestellte § 5 Abs. 3 BetrVG
  • 3. Arbeitnehmerähnliche Personen § 12a TVG
  • E. Gestaltungsmöglichkeiten durch Tarifvertrag
  • I. Anforderungen an einen betriebsverfassungsrechtlichen Tarifvertrag
  • 1. Allgemeine Voraussetzungen
  • 2. Tarifzuständigkeit und der Beschluss des BAG v. 14.1.2014
  • a) Konsequenzen der BAG-Entscheidung für Gewerkschaften in der Luftfahrt
  • b) Kritik der Literatur
  • c) Bedeutung der Tarifzuständigkeit für § 117 BetrVG
  • 3. Tarifkonkurrenz
  • a) Betriebsbegriff des § 4a TVG im Zusammenhang mit § 117 BetrVG
  • b) Wirkung des § 4a Abs. 3 TVG
  • c) Zwischenergebnis
  • 4. Internationales Privatrecht – Anwendbarkeit eines deutschen Tarifvertrages
  • II. Die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien im Rahmen des § 117 BetrVG
  • 1. Die Regelungsbefugnis aus dem Blickwinkel des Europarechts
  • a) RL 2002/14/EG
  • b) Massenentlassungsrichtlinie, Betriebsübergangsrichtlinie, Art. 27 GRCh
  • 2. Die Regelungsbefugnis aus dem Blickwinkel der Verfassung
  • a) Art. 3 Abs. 1 GG
  • b) Fremdbestimmung über Art. 3 Abs. 2 TVG
  • 3. Die Regelungsbefugnis aus dem Blickwinkel des einfachgesetzlichen Rechts
  • 4. Die Regelungsbefugnis aus dem Blickwinkel der Art der Regelung
  • 5. Anwendung des Ergebnisses auf Regelungsvorhaben
  • a) Arbeitszeitregelungen
  • b) Aufteilung nach Arbeitnehmergruppen in einem oder mehreren Tarifverträgen
  • aa) Grundsätze des BetrVG zur Organisation
  • bb) Gesamtvertretung mit Ausschüssen
  • cc) Tarifvertrag für eine Arbeitnehmergruppe
  • dd) Zulässigkeit einer Vertretung ohne „Gesamtvertretung“
  • c) Benachteiligungsverbot
  • d) Beschränkung auf Unterrichtungs- und Anhörungsrechte
  • e) Betriebsbegriff
  • f) Differenzierung nach Gewerkschaftszugehörigkeit
  • g) Gewerkschaften im Betrieb
  • h) Organisation der Personalvertretung selbst
  • i) Regelungen zum Interessenausgleich und zum Sozialplan
  • j) Rückwirkende Regelungen
  • k) Sanktionsregelungen
  • l) Versetzungen
  • aa) Die Versetzung nach dem BetrVG
  • bb) Regelungsbefugnisse der Tarifvertragsparteien
  • m) Wahlrecht
  • aa) Demokratische Grundsätze
  • bb) Zusammensetzung nach Geschlechtern
  • cc) Gruppenwahl
  • dd) Anzahl der Arbeitnehmervertreter
  • ee) Wahlverfahren
  • n) Zwischenergebnis
  • 6. Rechtsfolgen unwirksamer Regelungen
  • F. Sperrwirkung, Wahlverfahren, Arbeitskampf und Allgemeinverbindlicherklärung
  • I. Die Sperrwirkung gem. § 117 Abs. 1 S. 2 BetrVG
  • 1. Voraussetzung der Sperrwirkung
  • 2. Auswirkung auf gesetzliche Betriebsräte
  • a) Zeitgleiche Wahlverfahren
  • b) Abschluss des Tarifvertrages nach Wahl des gesetzlichen Betriebsrates
  • c) Wegfall der tariflichen Personalvertretung
  • II. Auswirkungen auf die Wahl der Personalvertretung
  • III. Arbeitskampf
  • 1. Konsens statt Konfrontation
  • 2. Der Zweck der Tariföffnung
  • 3. Angemessenheit des Arbeitskampfes
  • IV. Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages gem. § 117 Abs. 2 S. 1
  • G. Auswirkungen auf bestehende Tarifverträge
  • I. Wegfall bisheriger Tarifverträge?
  • II. Auswirkungen auf einzelne Regelungen
  • 1. Echte oder unechte Rückwirkung
  • 2. Anwendung des Prüfungsmaßstabes auf § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG
  • H. Folgen für Kooperationstarifverträge § 117 Abs. 2 S. 2 BetrVG
  • I. Anwendungsbereich
  • II. Regelungsbefugnisse
  • I. Zwischenfazit
  • § 4 Die Nachwirkung gem. § 117 Abs. 2 S. 3 BetrVG
  • A. Fragestellungen
  • B. Einordnung in die bisherige Diskussion
  • I. Praxis
  • II. Rechtsprechung
  • III. Literatur
  • C. Untersuchung
  • I. Nachwirkung und tarifdispositives Gesetzesrecht
  • 1. Historische Betrachtung
  • 2. Systematische Betrachtung
  • a) Verhältnis nachwirkende Tarifverträge und tarifdispositives Gesetzesrecht
  • b) Vergleich mit anderen tarifdispositiven Regelungen
  • c) Zwischenergebnis
  • 3. Zweck der Nachwirkung
  • a) Inhaltsleere Arbeitsverhältnisse / Rechtsunsicherheit
  • b) Überbrückungsfunktion
  • c) Inhaltsschutz
  • d) Ordnungsfunktion
  • e) Arbeitnehmerschutz als übergeordneter Zweck?
  • f) Müssen die Zwecke alternativ oder kumulativ vorliegen?
  • g) Zusammenfassung
  • 4. § 3 BetrVG und die Verhinderung „böser Konsequenzen“
  • 5. Zwischenergebnis
  • II. Ablösungsmöglichkeiten
  • 1. Grundsätzliche Anforderungen an eine andere Abmachung
  • 2. Ablösung durch Arbeitsvertrag oder privatrechtliche Vereinigung
  • 3. Konkludenter Ausschluss der Nachwirkung
  • 4. Ablösung durch Kündigung
  • a) Ordentliche Kündigung
  • b) Außerordentliche Kündigung
  • 5. Durch Betriebsvereinbarung
  • a) Ablösung durch Betriebsvereinbarung
  • b) Modifikation im Stadium der Nachwirkung durch Betriebsvereinbarung
  • 6. Wegfall der Geschäftsgrundlage
  • 7. Abschluss eines konkurrierenden Tarifvertrags
  • a) Ablösung eines nachwirkenden Tarifvertrages durch einen Tarifvertrag anderer Tarifvertragsparteien
  • b) Tarifkollision und Nachwirkung
  • III. Tariflicher Ausschluss der Nachwirkung
  • IV. Personeller Umfang der Nachwirkung
  • 1. Rechtsprechung
  • 2. Untersuchung
  • a) Bewertung der Argumente der Rechtsprechung
  • b) Zweckbetrachtung
  • c) Folgenbetrachtung
  • V. Dauer der Nachwirkung
  • 1. Rechtsprechung
  • 2. Bisheriger Diskussionsstand in der Literatur
  • 3. Untersuchung
  • a) Europarecht
  • b) Verfassungsrecht
  • aa) Negative Tarifvertragsfreiheit
  • (1) Arbeitnehmersicht
  • (2) Arbeitgebersicht
  • bb) Inhalts- und Schrankenbestimmung gem. Art. 14 Abs. 1 GG
  • cc) Unternehmerische Freiheit
  • (1) Ablösungsmöglichkeiten
  • (2) Praktische Ablösungsmöglichkeiten
  • c) Teleologische Erwägungen
  • d) Bewertung der Vorschläge in der Literatur
  • D. Zwischenfazit
  • § 5 Weitere Lösungsmöglichkeiten vom Tarifvertrag
  • A. Einleitung
  • B. Lösung durch Betriebsübergang
  • I. Rechtsprechung
  • II. Literatur und Bewertung
  • III. Untersuchung
  • 1. Fortgeltung des Tarifvertrages
  • a) Bei Verlust der Selbstständigkeit
  • b) Bei Bewahrung der Selbstständigkeit
  • c) De lege ferenda
  • 2. Betriebsübergang in der Luftfahrt
  • a) Grundsätze der EuGH-Rechtsprechung
  • b) Anwendung auf Flugunternehmen
  • aa) Das Flugzeug als wirtschaftliche Einheit
  • bb) Die Heimatbasis als wirtschaftliche Einheit
  • cc) Übergang auf den Erwerber
  • (1) Wegfall der AOC
  • (2) Übernahme der Belegschaft
  • dd) Vergleich mit anderen Verkehrsmitteln
  • ee) Zwischenergebnis
  • 3. Auswirkungen der Fortwirkung im neuen Betrieb
  • C. Lösung von einem Firmentarifvertrag durch Umwandlung
  • I. Verschmelzung
  • II. Aufspaltung
  • III. Abspaltung
  • IV. Tarifkollision bei Umwandlung
  • V. Fazit
  • D. Vertragliche Umgehungsmöglichkeiten
  • I. Freie Mitarbeiter im Flugunternehmen
  • II. Arbeitnehmerüberlassung
  • III. Risiken eines Umgehungsversuchs
  • E. Zwischenfazit
  • § 6 Gesamtbewertung
  • § 7 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
  • Literaturverzeichnis

←18 | 19→

§ 1 Einleitung

A. Einführung in die Untersuchung

Die Luftfahrt ist eine der wenigen Branchen, für die das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) eine Sonderregelung vorsieht. Die Wahl eines Betriebsrates setzte nach bisheriger Rechtslage voraus, dass ein Tarifvertrag die Grundlagen der betrieblichen Mitbestimmung regelt. Einen Anspruch auf einen solchen Tarifvertrag sah aber weder das BetrVG noch das Tarifvertragsgesetz (TVG) vor. Das Gesetz vertraute auf die Durchsetzungsstärke der Gewerkschaften. Zuletzt erschütterten die Arbeitgeber in der Luftfahrt diese Annahme. Manche maßen den Vorteilen eines betriebsratslosen Betriebes so viel Gewicht bei, dass sie sich auch nicht durch umfangreiche Streiks zum Abschluss eines Tarifvertrages bewegen ließen.1 Ihr Motiv waren wohl Wettbewerbsvorteile gegenüber tarifgebundenen Unternehmen.2 Ohne einen Tarifvertrag gem. § 117 BetrVG und damit auch ohne Betriebsräte im Unternehmen, mussten soziale, personelle oder wirtschaftliche Mitbestimmungsrechte nicht eingehalten werden, die Personalplanung wurde nicht durch Betriebsratssitzungen oder Betriebsversammlungen gestört3 und Ausgaben für Arbeitsmittel und Schulungen für Betriebsratsmitglieder fielen nicht an. Erhebliche Vorteile begründete insbesondere die fehlende betriebliche Mitbestimmung bei Versetzungen, da schneller als in anderen Unternehmen auf Veränderungen im Marktgeschehen reagiert werden konnte.4

Rechtlich war die Thematik um die betriebliche Mitbestimmung in der Luftfahrt weitgehend geklärt.5 Eine Betriebsratswahl ohne geltenden Tarifvertrag war nichtig.6 Soweit Tarifverhandlungen geführt wurden, mussten selbst die Grundlagen einer betrieblichen Vertretung verhandelt werden, da den Tarifvertragsparteien wegen der Herausnahme aus dem Anwendungsbereich des ←19 | 20→BetrVG eine unbeschränkte Regelungsbefugnis zustand.7 Endete oder wurde ein bestehender Tarifvertrag beendet, wirkte er gemäß § 4 Abs. 5 TVG nach.8 Wollte ein Luftfahrtunternehmen die Nachwirkung beenden, war es auf die Mitwirkung der Gewerkschaft angewiesen. Kam es zu keiner Einigung, konnte die Nachwirkung zum Regelfall werden. In einem solchen Fall dauerte die Nachwirkung bei der Deutschen Lufthansa 30 Jahre an.9

Einen Arbeitskampf bei der Fluggesellschaft Ryanair, der das Unternehmen zum Abschluss eines Tarifvertrages bewegen sollte, nahm Arbeitsminister Hubertus Heil im Oktober 2018 zum Anlass, eine Änderung des § 117 BetrVG auszuarbeiten. Die Novellierung des Gesetzes führt nunmehr dazu, dass das BetrVG mittels einer Auffangregelung erstmals auf die Luftfahrt Anwendung findet. Bislang ist offen, wie weitgehend die Folgen der Neuerung sind. Im Gesetzgebungsverfahren wurde von einer genauen Analyse zugunsten einer zeitnahen Umsetzung abgesehen.10

Eine Untersuchung ist aufgrund der seit dem 1.5.2019 geltenden Novellierung des Gesetzes und der damit verbundenen Umsetzung dringend. Dies zeigt sich sowohl in den Fällen, in denen erstmals ein Tarifvertrag verhandelt wird als auch in den Fällen, in denen erstmals die Regelungen des BetrVG angewendet werden. Nicht zuletzt kommt auch der gesetzlichen Anordnung der Nachwirkung eine erhebliche Bedeutung zu. Aufgrund einer möglicherweise drohenden unendlichen Nachwirkung von Tarifverträgen gem. § 117 BetrVG, sind bei Tarifvertragsverhandlungen auch aktuell entfernt liegende Eventualitäten zu berücksichtigen. Gerichtsentscheidungen, die in der Frage der Nachwirkung zu mehr Klarheit verhelfen werden, sind wegen der zunächst erforderlichen Beendigung des Tarifvertrages auf längere Zeit nicht zu erwarten. Weiter stellt sich für den Praxisanwender bereits die Frage, wie ein Tarifvertrag auf anderen Wegen ←20 | 21→seine Wirkung verlieren kann und ob im Vertrag gegebenenfalls Weichen hierfür gestellt werden können.

Durch das Tagesgeschehen gewinnt die Untersuchung weiter an Aktualität. Die Bedeutung der betrieblichen Vertretung als einheitlicher Ansprechpartner zur Abfederung von wirtschaftlichen Einbußen, beispielsweise durch die Vereinbarung von Kurzarbeit, ist durch die Covid-19-Pandemie hervorgehoben worden. Bei anstehenden Umstrukturierungen und im Falle eines Arbeitsplatzabbaus ist eine betriebliche Vertretung auch zu einem gewissen Grad Vermittler zwischen dem Arbeitgeber und den Arbeitnehmern. Das Interesse an einer betrieblichen Mitbestimmung dürfte damit auch auf Arbeitgeberseite gestiegen sein.11

In betriebsverfassungsrechtlicher Hinsicht steht § 117 BetrVG weitgehend ohne Vorbild dar. Als weitere Regelung im BetrVG lässt allein § 3 BetrVG mehr als nur marginale Abweichungen im Betriebsverfassungsgesetz zugunsten einer tariflichen Regelung zu. Beiden Regelungen ist das Spannungsfeld zwischen Betriebsverfassungsrecht, Tarifrecht und höherrangigem Recht gemein. Im Unterschied zu § 3 BetrVG ermöglicht § 117 BetrVG weiterreichende Regelungsbefugnisse, sodass sich Einschränkungen bei der Übertragbarkeit der Ansichten, die zu § 3 BetrVG entwickelt worden sind, ergeben. Auf Vorarbeiten in der Literatur zu § 117 BetrVG kann nicht ohne Weiteres zurückgegriffen werden, da sich die systematische Stellung der Regelung im Gesamtsystem durch die Einordnung in das Betriebsverfassungsrecht verändert hat. Ein Rückgriff auf andere Untersuchungen kann auch deshalb nicht erfolgen, weil das Spannungsfeld zwischen einem gesetzlichen und einem tariflichen Betriebsrat in § 117 BetrVG erst mit der Novellierung eröffnet wurde. Weitere Berücksichtigung muss die weitgehende Internationalität der Luftfahrt finden. Diese Besonderheit wurde im Gesetzgebungsverfahren lediglich mit der Hoffnung angesprochen, dass sich die Regelung auch auf diese Sachverhalte erstrecken solle.12

Die Arbeit verfolgt vier Ziele. Sie soll Ersatz für die im Gesetzgebungsverfahren unterbliebene Untersuchung der Novellierung hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht bieten. Zweitens werden die Rechtsfolgen im kollektiven Arbeitsrecht aufgezeigt. Dem Rechtsanwender soll die praktische Handhabung der Novellierung erleichtert werden. Hierzu werden einige ←21 | 22→regelmäßig bei der Tarifverhandlung aufkommende Fragen exemplarisch unter Berücksichtigung der gefundenen Ergebnisse untersucht. Drittens sollen die Möglichkeiten der nachwirkungslosen Beendigung eines Tarifvertrages gem. § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG erörtert und viertens Lücken aufgezeigt werden, die der Gesetzgeber in Zukunft schließen sollte.

B. Gang der Untersuchung

Die Untersuchung der Neuregelung erfordert eine Einordnung in das Gefüge des Arbeitsrechts. Sie führt nach einer Darstellung der zu berücksichtigenden Besonderheiten in der Luftfahrt vom Allgemeinen zum Speziellen. Es werden zunächst grundsätzliche Fragen aufgeworfen, um die Verknüpfungen der Regelung im Arbeitsrecht offen zu legen.

Der erste Teil der Arbeit (§ 2) führt in die Ausgangslage vor der Novellierung des Gesetzes ein. Der Fokus der Untersuchung liegt auf der Darstellung, welche Umstände in der Luftfahrt bestehen, die die betriebliche Mitbestimmung erschweren. Dazu wird die Gesetzgebungsgeschichte beleuchtet sowie weitere, nicht im Gesetzgebungsverfahren angesprochene Besonderheiten der Luftfahrt erörtert. Überblicksartig wird danach auf die Gestaltung der bisherigen Tarifverträge eingegangen. Abgeschlossen wird der erste Teil der Arbeit mit der Untersuchung der Frage, ob das Betriebsverfassungsgesetz ohne eine Sonderregelung keine ausreichenden Anpassungsmöglichkeiten bereithält und ob ein mögliches Defizit durch einen europäischen Betriebsrat behoben werden kann.

Der zweite Teil der Arbeit (§ 3) stellt den Ersten von zwei Schwerpunkten dar. Es werden die Hintergründe der Neuregelung des § 117 Abs. 1 S. 2 BetrVG betrachtet und die Auswirkungen der neuen Auffangregelung untersucht. Wegen des Zusammenhangs mit der tariflichen Regelungsbefugnis aus § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG stellt sich hier die Frage, welche Auswirkungen die Novellierung für das Verständnis dieser Regelung hat. Dazu sind einleitend zunächst die Erwartungen an das Gesetz, alternative Regelungsvorschläge und die Wahl des tarifdispositiven Rechts zu betrachten. Es folgt die Einordnung der Novellierung in das bestehende Rechtssystem. Die Norm wird auf ihre Vereinbarkeit mit Europa- und Verfassungsrecht untersucht, wobei die europa- und verfassungsrechtlichen Fragen bezüglich Außenseitern wegen ihrer Bedeutung separat betrachtet werden. Die allgemeine Einordnung und Untersuchung des höherrangigen Rechts schließt mit der Fragestellung, ob es für die betriebseinheitliche Geltung der Tarifregelungen neben der Tarifbindung des Arbeitgebers weiterer Voraussetzungen bedarf und ob in dem Regelungszusammenhang von einer Richtigkeitsgewähr gesprochen werden kann. Als vierten Untersuchungsblock ←22 | 23→in § 3 widmet sich die Arbeit den Tatbestandsmerkmalen der Regelung und stellt ihre Bedeutung dar. Es wird präzisiert, für wen die Regelung Anwendung findet. Aufgrund des Sachzusammenhangs mit dem Tatbestandsmerkmal der „Beschäftigung im Betrieb“, wird dort der wichtige Exkurs zum Betriebsbegriff, dem Anknüpfungspunkt der betrieblichen Mitbestimmung, dargestellt. Als nächster Hauptaspekt werden die Grenzen, innerhalb der die Tarifvertragsparteien gem. § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG handeln können, untersucht. Die allgemeinen Voraussetzungen eines Tarifvertrages gem. § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG werden dargelegt. Kleinere Schwerpunkte liegen hier auf den Fragen der Tarifzuständigkeit, der Tarifkonkurrenz und wegen der Internationalität der Luftfahrt, der internationalen Anwendbarkeit deutscher Tarifverträge. Danach folgt als weiterer Schwerpunkt die Betrachtung der Gestaltungsbefugnisse der Tarifvertragsparteien. Diese werden umfassend anhand des Europa- und Verfassungsrechts mit Blick auf die nun veränderte Lage im System des BetrVG untersucht. Um die Ergebnisse zu veranschaulichen, werden diese auf bei den Verhandlungen eines Tarifvertrages typischerweise aufkommende Fragestellungen angewandt. Das Kapitel schließt mit Fragestellungen, die Sachverhalte im Zusammenhang mit dem Tarifvertrag betreffen sowie einem Exkurs zu Kooperationsverträgen gem. § 117 Abs. 2 S. 2 BetrVG. Zu den Sachverhalten im Zusammenhang mit dem Tarifvertrag zählt zuvorderst die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen dem gesetzlichen und einem tariflichen Betriebsrat. Im Detail sind hier die Fragen zu untersuchen, wann welche Zuständigkeit begründet ist, wie mit zeitgleichen Wahlverfahren umzugehen ist, ob die Wahl des tariflichen Betriebsrates an die im BetrVG vorgesehenen regelmäßigen Wahlzeitpunkte gebunden ist und welche Rechtswirkungen der Wegfall des Tarifvertrages hat. Es wird untersucht, wie das Wahlverfahren bei einer tariflichen Personalvertretung eingeleitet wird. Zwei verfassungsrechtliche Fragestellungen ergeben sich im Zusammenhang mit Tarifverträgen nach § 117 BetrVG. Die erste betrifft die Zulässigkeit von Arbeitskämpfen. Die subsidiäre Geltung des BetrVG könnte einem Arbeitskampf entgegenstehen oder ihn unangemessen erscheinen lassen. Die Untersuchung geht Ansätzen aus der Literatur nach, untersucht den Zweck der Tariföffnung und erörtert, ob ausgehend von den Zwischenergebnissen und der Rechtsprechung zu Art. 9 Abs. 3 GG regelmäßig ein Arbeitskampf unverhältnismäßig ist. Die zweite verfassungsrechtliche Fragestellung betrifft das Verhältnis zwischen bereits bestehenden Tarifverträgen und der Novellierung des Gesetzes. Drei Möglichkeiten bestehen an dieser Stelle. Ein Tarifvertrag kann vollständig entfallen, die einzelnen Regelungen können an der neuen Rechtslage zu messen sein, oder der Tarifvertrag behält ggf. zeitlich beschränkt seine Wirkung. Zur Beantwortung dieser Fragestellung ist die bisherige Rechtsprechung in anderen ←23 | 24→Fällen heranzuziehen und sodann die Neuregelung unter Berücksichtigung ihrer Besonderheiten einzuordnen. Schließlich folgt ein Exkurs zu Kooperationstarifverträgen gem. § 117 Abs. 2 S. 2 BetrVG und ein Zwischenfazit.

Der dritte Teil der Arbeit (§ 4) bildet den zweiten Schwerpunkt der Arbeit. In § 117 Abs. 2 S. 3 BetrVG wird auf die Geltung der Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG verwiesen. Hier erfolgt anhand der Grundlagen der Nachwirkung eine Einordnung, ob betriebsverfassungsrechtliche Tarifnormen ohne einen solchen Verweis nachwirken. Daran anschließend wird die Frage betrachtet, wie eine Ablösung der Nachwirkung betriebsverfassungsrechtlicher Normen möglich ist und ob die Nachwirkung bereits im Tarifvertrag ausgeschlossen werden kann. Schließlich wird sich zwei regelmäßig auftretenden Problemen zugewandt, dem personellen Umfang sowie der zeitlichen Dauer der Nachwirkung.

Im vierten Teil der Arbeit (§ 5) werden Möglichkeiten der nachwirkungslosen Beendigung eines Tarifvertrages gem. § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG untersucht. In Betracht kommt ein Betriebsübergang, eine Umwandlung nach dem Umwandlungsgesetz (UmwG) sowie Gestaltungsmöglichkeiten in Individualverträgen zur Vermeidung der Anwendbarkeit des § 117 BetrVG.

Die Arbeit endet mit einer Gesamtbewertung (§ 6) und einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse (§ 7).


1 AFP, Heil will Betriebsrat bei Ryanair möglich machen.

2 Bergmann, Änderung der Mitbestimmung: Die Geister, die Ryanair rief.

3 Bergmann, Fliegen – ein (Alb-) Traum?, S. 293.

4 Bergmann, Fliegen – ein (Alb-) Traum?, S. 469.

5 Siehe Darányi, Die Bordbetriebsverfassung nach § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG.

6 LAG Sachsen Beschl. v. 8.11.2016 – 3 TaBV 16/16, BeckRS 2016, 111846; LAG Berlin-Brandenburg Beschl. v. 30.10.2009 – 6 TaBVGa 2284/09, BeckRS 2009, 74383; Franzen, in: Oetker, GK-BetrVG, § 117 Rn. 13.

7 BAG Beschl. v. 17.3.2015 – 1 ABR 59/13, AP BetrVG 1972 § 117 Nr. 9, Rn. 32; a.A.: Weber, Hartmut, Sonderdruck aus: Glaubrecht/Halberstadt/Zander, Betriebsverfassung in Recht und Praxis, S. 18.

8 BAG Beschl. v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, AP GG Art. 9 Nr. 57.

9 Darányi, Die Bordbetriebsverfassung nach § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG, S. 22 f.

10 Die Änderung des § 117 BetrVG wurde in das Gesetz zur Stärkung der Chancen für Qualifizierung und für mehr Schutz in der Arbeitslosenversicherung (Qualifizierungschancengesetz) kurzfristig vor der zweiten Beratung im Bundestag eingearbeitet. Siehe dazu die Kritik der Opposition im Rahmen der Beratung des Gesetzgebungsvorschlages im Bundestag, 19. Wahlperiode, 69 Sitzung, Berlin, Freitag den 30.11.2018, S. 8001, 8003, 8005.

11 Dazu allgemein Bergmann, Fliegen – ein (Alb-) Traum?, S. 290.

12 Frage von Susanne Ferschl (Die LINKE) im Rahmen der Beratung des Gesetzgebungsvorschlages im Bundestag, 19. Wahlperiode, 69 Sitzung, Berlin, Freitag den 30.11.2018, S. 8014.

←24 | 25→

§ 2 Die Ausgangslage

Eine Untersuchung des § 117 BetrVG erfordert ein Verständnis der Historie der Regelung, der Branche selbst sowie der Notwendigkeiten, die eine Sonderregelung im BetrVG erforderlich machen. Erst danach ist eine Beurteilung der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, die im Kapitel 3 erfolgt, möglich.

A. Historischer Gesetzgeber

Die Gesetzesbegründung zum bisherigen § 117 BetrVG begründete die Herausnahme aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes mit der besonderen, nicht ortsgebundenen Art der Tätigkeit der im Flugbetrieb beschäftigten Arbeitnehmer.13 Eine Begründung zur Differenzierung zu Arbeitnehmern wie beispielsweise Monteuren, die typischerweise ebenso ortsungebunden tätig sind, wird nicht angeführt.14 Auch ein Blick in die Vorgängerregelungen ist nicht erhellend. § 88 Abs. 3 BetrVG 1952 schloss die in der Luftfahrt beschäftigten Arbeitnehmer vom Anwendungsbereich des BetrVG aus und verwies auf ein gesondertes Gesetz. Bis ein solches Gesetz erlassen werde, sollte das BetrVG fortgelten. Zu dem angekündigten Gesetz kam es nie. Die Praxis begann daher trotz bestehender Rechtsunsicherheit über die Zulässigkeit Tarifverträge auszuhandeln, um ein praxistaugliches Modell der betrieblichen Mitbestimmung zu installieren.15 Da der Gesetzgeber diese bereits bestehenden Tarifverträge nicht torpedieren wollte, erklärte er die tarifliche Regelungsmöglichkeit im BetrVG 1972 für zulässig.16 Gleichzeitig nahm der Gesetzgeber endgültig Abschied von der Idee eines eigenen Gesetzes. Zwei Gründe wurden für die fortwährende Herausnahme aus dem Anwendungsbereich angeführt: Wären die in der Luftfahrt beschäftigten Arbeitnehmer in den Betriebsrat des Bodenpersonals einbezogen worden, hätten sie nur eine Minderheit dargestellt. Aufgrund dieses Kräfteverhältnisses ←25 | 26→seien Sicherheitsgefahren im Luftverkehr möglich. Zweitens wurde die Befürchtung geäußert, dass die Einbeziehung des Luftfahrtpersonals zu einer Lähmung des Bodenbetriebes führen könnte.17 Das Kräfteverhältnis, wie es 1972 zugunsten des Bodenpersonals bestand, besteht heutzutage nicht mehr. Durch den technischen Fortschritt sowie Rationalisierungen fielen Arbeitsplätze im Bodenbetrieb weg oder wurden zum Teil durch Automatisierungsprozesse ersetzt.18 Bei manchen Luftfahrtunternehmen machen das Kabinen- und Cockpitpersonal aktuell bis zu 86% aller Arbeitnehmer eines Unternehmens aus,19 sodass diese die Mehrheit der Arbeitnehmer im Unternehmen bilden. Auch fehlt die Konkretisierung, durch welche besonderen Umstände die Lähmung des Betriebes eintreten soll.

B. Besonderheiten in der Luftfahrt

Die Historie kann damit keine Antwort auf die Frage geben, wodurch sich die Arbeitnehmer im Luftbetrieb von Arbeitnehmern in anderen Branchen unterscheiden. Ohne bereits auf die Verfassungskonformität der Regelung einzugehen,20 sind deshalb mögliche weitere Besonderheiten herauszuarbeiten. Darányi fasste in seiner Untersuchung die Besonderheiten in der Luftfahrt damit zusammen, dass diese in einer hohen Regulierungsdichte begründet seien, die auf dem Streben nach hohen Sicherheitsstandards beruhe.21 Das BAG stellte mit Bezug auf Darányi fest, dass die tätigkeitsspezifischen Umstände des fliegenden Personals für die gesetzliche Regelung des § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG a.F. maßgeblich waren.22 Hierzu im Einzelnen:

←26 | 27→

I. Keine synchronen Arbeits- und Ruhezeiten

Eine stetige Betriebsratsarbeit steht im Konflikt mit der Einsatzplanung der im Luftbetrieb tätigen Arbeitnehmer. Eine Synchronisation der Arbeitszeiten dergestalt, dass die Betriebsratsmitglieder regelmäßig zu Sitzungen zusammenkommen können, ist in den meisten Betrieben schwer umsetzbar.23 Darányi hat wegen der längeren Abwesenheit von der Heimatbasis bei entsprechenden Umlaufplänen im Unternehmen selbst Betriebsratssitzungen an einem festen Wochentag als nicht umsetzbar angesehen.24 Jedenfalls stößt die Betriebsratsarbeit an Grenzen, wo kurzfristig Betriebsratssitzungen durchgeführt werden müssen.25 Hier besteht das Problem, dass sich Betriebsratsmitglieder bedingt durch ihre Tätigkeit an unterschiedlichen Orten aufhalten werden. Digitale Beschlüsse sind, wie die bis zum 30.06.2021 befristete Ausnahmeregelung in § 129 BetrVG zeigt,26 grundsätzlich auch wohl in Zukunft nicht vorgesehen.

Die Schwierigkeiten der Synchronisation der Arbeitszeiten ergeben sich aus den Arbeits- und Ruhezeiten27 und werden durch eine begrenzte Austauschbarkeit der Arbeitnehmer untereinander28 und durch Altersregelungen zusätzlich erschwert. Arbeitgeber sind in der Luftfahrt durch europäische Verordnungen zur Einhaltung von Arbeits- und Ruhezeiten der in der Luftfahrt tätigen Personen verpflichtet.29 Auch eine Betriebsratstätigkeit kann dazu führen, dass ein Arbeitnehmer seine Ruhezeiten nicht einhält. Denn als Ruhezeit gilt ←27 | 28→ein fortlaufender, ununterbrochener und festgelegter Zeitraum im Anschluss an den Dienst oder vor dem Dienst, in dem das Besatzungsmitglied frei von Dienst, Bereitschaft und Reserve ist.30 Der Begriff des Dienstes ist so weit gefasst, dass darunter alle Aufgaben fallen, die ein Besatzungsmitglied für den Betreiber wahrzunehmen hat, darunter der Flugdienst, administrative Aufgaben, die Erteilung von oder die Teilnahme an Schulungen und Überprüfungen, die Positionierung und bestimmte Elemente von Bereitschaftsdiensten.31 Kann ein Pilot wegen der Ruhezeit seine Tätigkeit nicht wie geplant aufnehmen, hat dies erhebliche Folgewirkungen für den Betriebsablauf. Ein Flugzeug, das nicht abheben kann, kann die im Tagesverlauf vorgesehenen weiteren Flüge an anderen Flughäfen nicht einhalten. Insbesondere bei einem Umlauf, d. h. einer mehrtägigen Abwesenheit von der Heimatbasis,32 kann es zu erheblichen Dienstplanproblemen kommen. Zudem ist es kaum möglich, dass ein Betriebsratsmitglied kurzfristig durch einen anderen Arbeitnehmer ersetzt werden kann.33 Ein einspringender Arbeitnehmer muss vergleichbar qualifiziert sein. Zwar kann ein Kopilot einspringen, wenn der Kapitän während des Fluges ausfällt.34 Vor Abflug ist dieser Einsatz aber nicht möglich. Als Kommandant darf zudem nur ernannt werden, wer entsprechende Kenntnisse über die Flugstrecke nachweisen kann.35 Diese Kenntnisse sind dadurch aufrechtzuerhalten, dass der Pilot innerhalb von 12 Monaten mindestens einmal die geplante Strecke geflogen ist.36 Alle im Flugzeug tätigen Arbeitnehmer müssen zudem für das betreffende Flugzeugmuster qualifiziert sein. Bei Flugbegleitern sind die Einsatzmöglichkeiten auf drei Luftfahrzeugmuster beschränkt, über eine Genehmigung der zuständigen Stelle ist eine Erweiterung auf maximal vier Luftfahrzeugmuster möglich.37 Selbst wenn ←28 | 29→es einen Arbeitnehmer mit entsprechenden Fähigkeiten und Lizenzen gibt, müsste er darüber hinaus am betreffenden Flughafen ortsanwesend sein.

Details

Seiten
302
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631875179
ISBN (ePUB)
9783631875186
ISBN (MOBI)
9783631875193
ISBN (Paperback)
9783631864333
DOI
10.3726/b19552
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Februar)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 302 S.

Biographische Angaben

Marcel Drissen (Autor:in)

Marcel Drissen ist Rechtsreferendar am Landgericht Bonn. Er studierte Rechtswissenschaften in Bonn und Prag. In Bonn war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer überregionalen Kanzlei sowie als Wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit tätig, wo auch seine Promotion erfolgte.

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Titel: Die betriebliche Mitbestimmung in Luftfahrtunternehmen gem. § 117 BetrVG
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