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Vertrauensschutz – Neue Entwicklungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rückwirkung im Steuerrecht

von Maria Lairich (Autor:in)
©2022 Dissertation 286 Seiten

Zusammenfassung

Seit langer Zeit beherrscht die Frage nach der Zulässigkeit rückwirkender Gesetzgebung die öffentlich-rechtliche Diskussion. Mangels einer expliziten Kodifizierung ist der Vertrauensschutz gegenüber dem Gesetzgeber das Ergebnis richterlicher Rechtsfortbildung. In der Praxis kommt die über viele Jahrzehnte durch die Verfassungsrechtsprechung entwickelte Rückwirkungslehre zur Anwendung. Diese ist in der Literatur vielfach kritisiert worden. Mit mehreren seit 2010 ergangenen Grundsatzentscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht hierauf reagiert und den Vertrauensschutz gegen rückwirkende (Steuer-) Gesetze modifiziert. Die vorliegende Arbeit macht es sich zur Aufgabe, die jüngeren Entwicklungen in der Rückwirkungsrechtsprechung darzustellen, zu bewerten und in die bisherige Dogmatik einzuordnen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Problemaufriss
  • B. Vertrauensschutz als Rechtsprinzip
  • C. Aufbau der Arbeit
  • Kapitel 1 – Steuerrecht als Referenzgebiet der Rückwirkungsdogmatik
  • A. Steuerrecht als Dauerrechtsverhältnis
  • B. Steuerrecht als staatliches Eingriffsrecht
  • C. Reaktionsgesetzgebung
  • D. Steuer als Lenkungsinstrument
  • E. Das Steuerrecht als typisierte Massenverwaltung
  • F. Das steuerrechtliche Periodizitätsprinzip und die Abschnittsbesteuerung
  • G. Fluktuation
  • H. Zusammenfassung
  • Kapitel 2 – Methodische Fragen der Rückwirkungsproblematik
  • A. Der Rückwirkungsbegriff
  • B. Abgrenzung zum Kontinuitätsgebot
  • C. Divergierende Interessen als Ausgangslage
  • I. Vertrauensschutz versus legislative Gestaltungsfreiheit
  • 1. Gesetzgebungsbefugnis als Element des Demokratieprinzips
  • 2. Vertrauensschutzprinzip
  • 3. Rechtssicherheit als Interesse der Allgemeinheit
  • II. Konfliktlösungsmodelle
  • III. Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts
  • 1. Rückwirkungsdogmatik als Rechtsfortbildung
  • 2. Rückwirkungsverbot des Bundesverfassungsgerichts
  • D. Zusammenfassung
  • Kapitel 3 – Rechtsdogmatische Grundlagen des Vertrauensschutzprinzips
  • A. Zivilrechtlicher Begründungsansatz
  • B. Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot, Art. 103 Abs. 2 GG
  • C. Grundrechte als Rechtsquelle des Vertrauensschutzgrundsatzes
  • I. Eigentumsfreiheit, Art. 14 Abs. 1 GG
  • II. Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG
  • III. Art. 33 Abs. 5 GG als vertrauensschützende Norm im Bereich des Beamtenrechts
  • IV. Die allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG
  • V. Der allgemeine Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG
  • VI. Zwischenergebnis
  • D. Verfassungsrechtliche Strukturprinzipien
  • I. Sozialstaatsprinzip
  • II. Demokratieprinzip
  • III. Rechtsstaatsprinzip
  • E. Kumulativer Begründungsansatz
  • F. Weitere Begründungsansätze
  • G. Zusammenfassung
  • Kapitel 4 – Die Gesetzesrückwirkung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
  • A. Die Anfänge der Rückwirkungsdogmatik
  • B. Einführung der Rückwirkungskategorien
  • C. Terminologische Neuausrichtung des Zweiten Senats
  • D. Verfassungsrechtliche Zulässigkeitsgrenzen rückwirkender Gesetze
  • I. Einzelne Ausnahmetatbestände
  • 1. Vorhersehbarkeit der Änderung der Rechtslage
  • a) Gesetzesbeschluss des Bundestages
  • b) Vorlegislatorische Maßnahmen, insbesondere Ankündigung einer Gesetzesänderung
  • c) Gesetzesverkündung
  • 2. Ersetzung einer nichtigen Rechtsnorm
  • 3. Unklare und verworrene Rechtslage
  • 4. Zwingende Gründe des Gemeinwohls
  • 5. Bagatellvorbehalt
  • 6. Weitere Fallgruppen der Zulässigkeit echter Rückwirkung
  • II. Zulässigkeitsprüfung unechter Rückwirkung
  • 1. Fehlendes bzw. nicht schutzwürdiges Vertrauen
  • 2. Vertrauensbeeinträchtigung
  • 3. Fiskalinteressen des Staates
  • 4. Übergangsregelungen
  • 5. Zwischenergebnis
  • III. „Dritte“ Kategorie der Rückwirkung
  • E. Veranlagungszeitraum-Rechtsprechung im Steuerrecht
  • F. Kritik am Rückwirkungskonzept des Bundesverfassungsgerichts
  • G. Alternativkonzepte im Schrifttum
  • H. Zusammenfassung
  • Kapitel 5 – Die neuen Maßstäbe der Rückwirkungsrechtsprechung
  • A. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 07.07.2010 und vom 10.10.2012
  • I. Beschlüsse des Zweiten Senats vom 07.07.2010
  • 1. Anlassfälle
  • a) Verlängerung der Spekulationsfrist, § 23 EStG
  • b) Mehrbelastung von Entschädigungszahlungen, §§ 24 Nr. 1a, 34 EStG
  • c) Absenkung der Beteiligungsgrenze, § 17 EStG
  • 2. Die neue Rückwirkungsdogmatik
  • a) Beibehaltung des dualistischen Rückwirkungskonzepts
  • b) Die neuen Vertrauenstatbestände
  • aa) Konkret gefestigte Vermögenspositionen
  • bb) Verbindliche Dispositionen
  • cc) Verwirklichung des letzten Merkmals des materiellen Steuertatbestandes
  • c) Strenge Rechtfertigungsanforderungen
  • d) Neues zur dogmatischen Verortung des Vertrauensschutzprinzips?
  • II. Beschluss des Ersten Senats vom 10.10.2012
  • 1. Vorlagegegenstand
  • 2. Entscheidung des Ersten Senats
  • a) Vertrauenstatbestände
  • b) Rechtfertigungsprüfung
  • c) Verfassungsrechtliche Herleitung
  • d) Fortführung der Rechtsprechung des Zweiten Senats
  • III. Zusammenfassende Bewertung
  • B. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.04.2018
  • I. Streitgegenstand
  • II. Entscheidungsgründe
  • III. Entscheidungsbewertung
  • 1. Vertrauenstatbestand der verbindlichen Disposition
  • 2. Verwirklichung des materiellen Steuertatbestandes
  • 3. Konkret gefestigte Vermögensposition
  • 4. Interessenabwägung
  • IV. Zusammenfassung
  • C. KAGG-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 17.12.2013
  • I. Der Anlassfall
  • II. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
  • 1. Rückwirkung im materiellen und formellen Sinne
  • 2. Abgrenzung zwischen konstitutiver und deklaratorischer Gesetzesänderung
  • 3. Fallgruppe der unklaren und verworrenen Rechtslage
  • III. Reaktionen auf die Entscheidung
  • 1. Kritik am KAGG-Beschluss im Sondervotum
  • 2. Bewertungen im Schrifttum
  • 3. Rechtsprechungsbrechende Reaktionsgesetzgebung
  • IV. Zusammenfassung
  • Abschließende Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis

Die verwendeten Abkürzungen sind im Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache von Hildebert Kirchner, 9. Aufl., Berlin 2018 nachgewiesen.

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Einleitung

A. Problemaufriss

„Vertrauen ist der Anfang von allem.“ Mit diesem Satz warb in den 1990er Jahren ein großes deutsches Kreditinstitut neue Kunden. In zwischenmenschlichen Beziehungen ist Vertrauen unverzichtbar.1 Das gilt auch im Recht. Der Vertrauensschutz ist eine Herausforderung für den modernen Verfassungsstaat. Er ist nicht nur eine Bewährungsprobe der Rechtsstaatlichkeit, sondern auch eine Frage politischer Glaubwürdigkeit. Der rechtliche Vertrauensschutz hat zwar eine weit zurückreichende Tradition, entwickeln konnte er sich aber erst in der Nachkriegszeit unter Geltung des Grundgesetzes.2 Mit dem vollzogenen Paradigmenwechsel gewann dieses Rechtsinstitut erhebliche Bedeutung im Bürger-Staat-Verhältnis: Er sichert die Freiheit des Individuums und begrenzt zugleich die staatliche Gewalt.

B. Vertrauensschutz als Rechtsprinzip

Der Vertrauensschutz hat sich mittlerweile als ein selbstständiges verfassungsrechtliches Rechtsprinzip fest etabliert.3 Der Grundsatz des Vertrauensschutzes entfaltet seine Wirkkraft gegenüber allen drei Staatsgewalten. Er ist allerdings je nach Funktionsbereich staatlichen Handelns unterschiedlich stark ausgeprägt. Seinen Ursprung hat der Vertrauensschutz im Bereich der Exekutive.4 ←15 | 16→Er tritt hier in ein Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und findet vorrangig bei der Aufhebung von Verwaltungsakten Anwendung.5 Der Gedanke des Vertrauensschutzes bekam seine normative Ausgestaltung für das allgemeine Verwaltungsverfahren in den Korrekturvorschriften der §§ 48 ff. des Verwaltungsverfahrensgesetzes von 1976.6 Damit hat der Gesetzgeber zum größten Teil die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte Vertrauensschutzrechtsprechung umgesetzt.7

Ein Vertrauensschutz gegenüber der Judikative heißt Schutz vor rückwirkenden verschärfenden Rechtsprechungsänderungen8 und ist am schwächsten ausgeprägt.9 Die Rechtslage wird primär, aber nicht ausschließlich durch den Gesetzgeber bestimmt. Geprägt wird sie auch durch die höchstrichterliche ←16 | 17→Rechtsprechung. Zwar ist eine Gerichtsentscheidung im Gegensatz zu einer Norm einzelfallbezogen, betrifft einen in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt und erwächst nur für die Prozessbeteiligten in Rechtskraft. Dennoch kommt ihr eine „para-normative“10 Wirkung zu. Die von der Rechtsprechung praktizierte Gesetzesauslegung kommt auch jenseits des konkret entschiedenen Falles zur Anwendung. Die höchstrichterlichen Judikate können somit eine Vertrauensgrundlage bilden. Es stellt sich daher die Frage, ob die Gerichte an ihre früheren Entscheidungen trotz gewandelter Rechtsauffassung gebunden sind. Diskutiert wird etwa die Übertragung der für das Gesetzesvertrauen entwickelten Rückwirkungslehre auf die Akte der Judikative.11 Mit den Argumenten der richterlichen Unabhängigkeit und der drohenden Versteinerung der Rechtsfortbildung wird eine Bindung der Rechtsprechung an das Vertrauensschutzprinzip überwiegend verneint.12

Fortgeschritten ist der Vertrauensschutz hingegen im Bereich der Gesetzgebung. In legislativer Dimension erscheint er als Rückwirkungsverbot. Die Frage der Zulässigkeit rückwirkender Gesetze ist nicht neu.13 Sie beschäftigte von Anfang an intensiv die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung14, die mittlerweile unüberschaubar ist. Um eine angemessene Lösung der komplexen und praxisrelevanten Problematik bemüht sich auch die Rechtswissenschaft. Die Anzahl der hierzu erschienenen Publikationen ist erdrückend. Unzählige Abhandlungen greifen die Thematik in ihren vielfältigen Facetten auf. Das besondere Interesse an dem Thema und seine Unerschöpflichkeit belegen eine Reihe diesem gewidmete Habilitationsschriften.15 Wenngleich Konsens darüber ←17 | 18→besteht, dass der Gesetzgeber beim Erlass rückwirkender Gesetze verfassungsrechtlichen Grenzen unterliegt, ist im Einzelnen nach wie vor umstritten, wo diese genau liegen. Das seit Jahrzehnten höchst umstrittene Thema beherrscht bis heute die öffentlich-rechtliche Diskussion.16

Die Omnipräsenz der Rückwirkungsproblematik steht in engem Zusammenhang mit fortschreitender Ausweitung und Dynamik der Staatstätigkeit.17 Es gibt kaum noch Lebensbereiche, die normativ nicht erfasst sind. Der Bürger gerät dadurch in immer stärkere Abhängigkeit vom gesetzgeberischen Handeln, was sein Bedürfnis nach Vertrauensschutz steigert.18 Für seine persönliche Lebensplanung und -gestaltung ist der Einzelne im besonders hohen Maß auf die Stabilität und Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung angewiesen. Rückwirkende belastende Änderungen rechtlicher Rahmenbedingungen gefährden die Wahrnehmung der Freiheit. Die Verlässlichkeit des Rechts ist somit eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Die Rechtssicherheit, die für den Bürger Vertrauensschutz bedeutet, hat eine freiheitssichernde Funktion und ist insoweit ein fundamentales Prinzip einer jeden verfassungsgemäßen Rechtsordnung.19

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Die Gesetzgebung bedeutet heute vor allem Gesetzesänderung.20 Aufgrund der fast flächendeckenden Durchnormierung dient die Gesetzgebung in erster Linie als Instrument zur Optimierung und Anpassung einer bereits existenten Rechtsordnung. Die schnelle wirtschaftliche Entwicklung sowie technischer Fortschritt erfordern Reaktionen des Gesetzgebers und führen zur viel beklagten Normenflut. Der Gesetzgeber steht unter ständigem Reformdruck, die Rechtslage an die sich auch im politischen und sozialen Bereich rasch ändernden Verhältnisse anzupassen. Diese Dynamik manifestiert sich in häufigen Gesetzesänderungen, die an die vorgefundenen Sachverhalte und Rechtsbeziehungen anknüpfen. Zwar umfasst die Gesetzgebungsbefugnis auch die Befugnis zur Gesetzesänderung. Der Gesetzgeber ist jedoch bei seiner Gestaltung nicht völlig frei. Er hat den Schutz des berechtigten Vertrauens des Bürgers in die Beständigkeit der geltenden Rechtslage zu beachten. Somit handelt es sich bei der Rückwirkungsproblematik letztlich um die Auflösung eines Spannungsverhältnisses zwischen der Kontinuität und der Flexibilität des Rechts.

Einen Anlass, sich mit der Rückwirkungsproblematik auseinanderzusetzen, bieten die jüngeren Entwicklungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Im letzten Jahrzehnt sind mehrere Grundsatzentscheidungen ergangen, die die Anforderungen an die Zulässigkeit rückwirkender Gesetze neu bestimmen.21 Dadurch hat die seit über 60 Jahren bestehende Rückwirkungsdogmatik eine entscheidende Fortentwickelung erfahren. Soweit ersichtlich ist diese bislang noch nicht monographisch aufgearbeitet worden. Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, diese Forschungslücke zu schließen.

C. Aufbau der Arbeit

Zentraler Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist es, die vorstehend genannten jüngeren Entwicklungen in der Rückwirkungsrechtsprechung nachzuzeichnen, zu bewerten und in die bisherige Dogmatik einzuordnen. Hierzu ist zunächst die Rückwirkungssystematik zu strukturieren sowie der aktuelle Stand der Diskussion wiederzugeben. Die komplexe verfassungsrechtliche Problematik kann hier nicht in all ihren Verästelungen dargestellt werden. Es wird daher auf die ←19 | 20→Kernfragen der Gesetzesrückwirkung, die ein für die Erörterung der neuen Rechtsprechungslinien unverzichtbares Grundverständnis vermitteln, einzugehen sein.22

Die Darstellung untergliedert sich in fünf Kapitel. Zunächst ist zu untersuchen, warum gerade Steuerrecht als Referenzgebiet für die Rückwirkungsproblematik gilt. Es ist auffallend, dass die Rechtsprechung zur Gesetzesrückwirkung überproportional häufig Steuergesetze zum Gegenstand hat. So beschäftigten sich die jüngeren rechtsprechungsändernden Judikate wie bereits die Grundsatzentscheidungen zuvor mit rückwirkenden Steuergesetzen. Hierzu ist im ersten Kapitel auf die einzelnen Besonderheiten dieser Rechtsmaterie im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten einzugehen.

Im zweiten Kapitel sind die allgemeinen methodischen Fragen der Rückwirkungsdogmatik zu erörtern. Eine Untersuchung der Problematik der Gesetzesrückwirkung hat sich zunächst mit dem Begriff der Rückwirkung auseinanderzusetzen. Sodann ist der Grundsatz des Vertrauensschutzes von dem mit ihm verwandten Institut der Rechtskontinuität abzugrenzen. Anschließend ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Bestands- und Änderungsinteresse, welches die gesamte Rückwirkungsproblematik prägt, darzustellen. Dabei ist das hierfür vorgesehene Konfliktlösungsmodell und dessen Umsetzung durch die Rechtsprechung zu erörtern.

Zu den kontrovers diskutierten Fragen eines positivrechtlich nicht fixierten Vertrauensschutzgrundsatzes gehört die Frage nach dessen Existenzgrundlage. Diese kann Aufschluss über die Reichweite und die Voraussetzungen der Vertrauensschutzgewährung geben. Im dritten Kapitel gilt es daher den verfassungsrechtlichen Standort des Vertrauensschutzes zu bestimmen. Hier sind die verbreiteten dogmatischen Begründungsansätze einer genauen Betrachtung zu unterziehen.

Die Darstellung der neuen Entwicklungen in der Rechtsprechung setzt eine Bestandsaufnahme voraus. Daher widmet sich das vierte Kapitel der herkömmlichen Rückwirkungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Hierbei ←20 | 21→ist insbesondere auf die Veranlagungszeitraum-Rechtsprechung im Steuerrecht einzugehen. Die Bestandsaufnahme umfasst eine Übersicht über die an der Rechtsprechung massiv geübte Kritik. Da sich die Reaktionen im Schrifttum nicht in der Kritik erschöpfen, sind auch die vorgeschlagenen Alternativkonzepte zu skizzieren.

Im fünften Kapitel sind die neuen wegweisenden Judikate des Bundesverfassungsgerichts darzustellen und zu bewerten. Hier ist zu untersuchen, inwiefern das Bundesverfassungsgericht seine über viele Jahrzehnte etablierte Vertrauensschutzrechtsprechung modifiziert hat. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse schließt die Arbeit ab.

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 22→

1 Zum Vertrauen als Grundlage menschlichen Zusammenlebens aus soziologischer Sicht Luhmann, Vertrauen, 2014; aus rechtswissenschaftlicher Sicht Birk, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: DStJG 27 (2004), S. 1 (10 f.).

2 Eingehend zur geschichtlichen Entwicklung des Vertrauensschutzes Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 56 ff.; ferner Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR Bd. IV, § 79 Rn. 6 ff.

3 Vgl. etwa Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 154 f.

4 Vertrauensschutz im Bereich der Verwaltungstätigkeit wurde umfassend in der Habilitationsschrift von Blanke, Vertrauensschutz im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, 2000, untersucht. Siehe ferner Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 508 ff.; Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR Bd. IV, § 79 Rn. 86 ff.; Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 321 ff. Speziell zur Steuerverwaltung Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 583 ff.; Englisch/Plum, Schutz des Vertrauens auf Steuergesetze, Finanzrechtsprechung und Regelungen der Finanzverwaltung, StuW 2004, S. 342 (363 ff.); schon früher Haas, Vertrauensschutz im Steuerrecht, S. 100 ff.

5 Eine exemplarische Übersicht über weitere Anwendungsbereiche des Vertrauensschutzes auf der Ebene des Verwaltungsrechts findet sich bei Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 20 f. Die Vertrauensschutzproblematik von Verwaltungsvorschriften war jüngst Gegenstand einer umfangreichen Untersuchung von Helbich, Vertrauensschutz in Verwaltungsvorschriften des Steuerrechts, 2015.

6 Ein auf die Besonderheiten des Steuerrechts ausgerichtetes Korrektursystem ist in den §§ 130 ff. sowie in den §§ 172 ff. der Abgabenordnung enthalten. Für das Sozialverwaltungsverfahren gelten die §§ 45 ff. SGB X.

7 Dazu etwa Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR Bd. IV, § 79 Rn. 8.

8 Dazu etwa Berdesinski, Die rückwirkende Änderung der Rechtsprechung, 1993; Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001; Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 531 ff., 615 ff.; Lübbe, Grenzen der Rückwirkung bei Rechtsprechungsänderungen, 1998; Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR Bd. IV, § 79 Rn. 134 ff.; Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 363 ff. Speziell zum Steuerrecht Ebner, Vertrauensschutz und Kontinuitätsgewähr in der höchstrichterlichen Rechtsprechung am Beispiel des Steuerrechts, 2010; Englisch/Plum, Schutz des Vertrauens auf Steuergesetze, Finanzrechtsprechung und Regelungen der Finanzverwaltung, StuW 2004, S. 342 (358 ff.); Fischer, Rückwirkende Rechtsprechungsänderungen im Steuerrecht, DStR 2008, S. 697 (697 ff.); Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 615 ff.; Leisner-Egensperger, Kontinuitätsgewähr in der Finanzrechtsprechung, in: DStJG 27 (2004), S. 191 ff.; Rose, Rückwirkende Steuerrechtsprechung und Steuerplanungssicherheit, Stbg 1999, S. 401 (401 ff.); Willibald, Vertrauensschutz bei verschärfender Rechtsprechung im Bereich des Steuerrechts, DStZ 1991, S. 442 (442 ff.).

9 Birk, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: DStJG 27 (2004), S. 9 (21); Ebner, Vertrauensschutz und Kontinuitätsgewähr in der höchstrichterlichen Rechtsprechung am Beispiel des Steuerrechts, S. 16.

10 Leisner-Egensperger, Kontinuitätsgewähr in der Finanzrechtsprechung, in: DStJG 27 (2004), S. 191 (193 f.).

11 Das Bundesverfassungsgericht lehnt dies im Grundsatz ab, BVerfGE 18, 224 (240 f.); 59, 128 (165 ff.).

12 Zum Ganzen etwa Ebner, Vertrauensschutz und Kontinuitätsgewähr in der höchstrichterlichen Rechtsprechung am Beispiel des Steuerrechts, S. 36 ff.; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 598 ff.; Leisner-Egensperger, Kontinuitätsgewähr in der Finanzrechtsprechung, in: DStJG 27 (2004), S. 191 (193 ff.); Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 363 ff.

13 Eine komprimierte Übersicht über die historische Entwicklung der Rückwirkungsdogmatik findet sich bei Iliopoulos-Strangas, Rückwirkung und Sofortwirkung von Gesetzen, S. 27 ff.

14 BVerfGE 1, 264 (280); 2, 237 (264 f.).

15 Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002; Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002; Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002; Arnauld, Rechtssicherheit, 2006; schon früher Aschke, Übergangsregelungen als verfassungsrechtliches Problem, 1987; Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981. Die Vertrauensschutzthematik war Gegenstand der im Jahr 2003 stattgefundenen 28. Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft in Graz.

Details

Seiten
286
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631875773
ISBN (ePUB)
9783631875780
ISBN (MOBI)
9783631875797
ISBN (Paperback)
9783631866092
DOI
10.3726/b19577
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (März)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 286 S.

Biographische Angaben

Maria Lairich (Autor:in)

Maria Lairich studierte Rechtswissenschaften an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Sie war als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Steuerrecht von Herrn Professor Dr. Ralf P. Schenke tätig, wo auch ihre Promotion erfolgte.

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