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Mitwirkungspflichten und Sanktionen im Asyl- und Aufenthaltsrecht

von Jonas Ganter (Autor:in)
©2022 Dissertation 398 Seiten

Zusammenfassung

Bei der staatlichen Migrationssteuerung, und insbesondere bei der Durchführung von Asylverfahren, spielt die Mitwirkung von Ausländern eine zentrale Rolle. Die Arbeit nimmt daher eine ganzheitliche Betrachtung des asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verwaltungsverfahrens (von der Einreise bis ggf. zur Abschiebung) vor und untersucht, an welchen Stellen der Gesetzgeber Ausländer zur Mitwirkung verpflichtet und mit welchen Sanktionsinstrumenten er diese Verpflichtungen durchzusetzen versucht. Dabei richtet sie ihre Perspektive aber auch auf rechtliche Schranken sowie praktische Hindernisse und zeigt somit auf, wo der staatliche Anspruch an die verpflichtende Einbindung von Ausländern im Verfahren an Grenzen stößt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Teil: Einleitung
  • A. Leitende Fragestellung
  • I. Mitwirkungspflichten als Ausdruck der Rolle des Ausländers im Recht
  • II. Sanktionen als Durchsetzungsinstrument
  • B. Methodisches Vorgehen und Schwerpunktsetzung
  • C. Das Asyl- und Aufenthaltsrecht als Forschungsgegenstand der Arbeit
  • D. Migration zwischen Verfassungsauftrag und politisch-gesellschaftlichem Diskursgegenstand
  • I. Erwartungen der Gesellschaft an den „Fremden“: Mitwirkungspflichten als spiegelbildlicher Bestandteil des Gastrechts
  • II. Historische Genese der Rolle des Ausländers im Migrationsrecht
  • III. Asyl- und Aufenthaltsrecht als Teil des Verwaltungsrechts
  • 1. Asyl- und Aufenthaltsrecht und die Grundmodi der Verwaltung
  • a) Die ordnende Verwaltung
  • b) Die Leistungsverwaltung
  • c) Die Gewährleistungsverwaltung
  • d) Einordnung des Asyl- und Aufenthaltsrechts
  • 2. Der Steuerungsansatz und die neue Verwaltungsrechtswissenschaft: Eine Chance für das Asyl- und Aufenthaltsrecht?
  • 3. Zur Bedeutung des formellen Verfahrens für das materielle Migrationsrecht
  • a) Verfahren als subjektives Recht
  • b) Verfahren als „Schwäche“ des souveränen Staates?
  • II. Teil: Verwaltungsrecht und Kooperation
  • A. Der Amtsermittlungsgrundsatz als Säule des Verwaltungsverfahrens
  • I. Verfassungsrechtliche Bezugspunkte des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • 1. Art. 20 Abs. 3 GG und die Bindung an Recht und Gesetz
  • 2. Art. 3 Abs. 1 GG und die Gleichheit vor dem Gesetz
  • 3. Art. 20 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip
  • II. Amtsermittlung im europäischen Verwaltungsrecht
  • 1. Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten als Fundament des Verfahrens
  • 2. Art. 41 GRCh und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts als eigenständiges Fundament der Amtsermittlung?
  • III. Die Grenzen der Amtsermittlung als Raum der Mitwirkung
  • IV. Zwischenfazit: Amtsermittlung als Ausdruck staatlicher Verantwortung
  • B. Zu Begriff und Dogmatik der Mitwirkungspflicht: Zwischen Teilhabe und Zwang
  • I. Das Konzept der Mitwirkung in der Dogmatik des Verwaltungsrechts
  • II. Von der Mitwirkung zur Mitwirkungspflicht
  • 1. Mitwirkung als Recht und Pflicht: Das Verwaltungsverfahren zwischen Beteiligung und Verpflichtung
  • 2. Pflichten als Essenz des Rechts? Mitwirkungspflichten im Lichte der Imperativentheorie
  • 3. „Echte“ Pflichten und Obliegenheiten
  • a) Pflichten und Obliegenheiten im Zivilrecht: Die Interessenlage als Unterscheidungskriterium
  • b) Pflichten und Obliegenheiten im Sozialrecht
  • c) Einordnung asyl- und aufenthaltsrechtlicher Mitwirkungspflichten: „echte“ Pflichten oder Obliegenheiten?
  • d) Die Durchsetzbarkeit als Kriterium „echter“ Mitwirkungspflichten?
  • aa) Physische Mitwirkungspflichten
  • bb) Innere Mitwirkungspflichten
  • e) Zwischenfazit
  • 4. Pflichten ohne Mitwirkung?
  • III. Zwischenfazit: von der Mitwirkung am Verfahren zur Mitwirkung im Recht
  • III. Teil: Mitwirkungspflichten im Asyl- und Aufenthaltsrecht
  • A. Vorgaben zur asylrechtlichen Mitwirkung im europäischen Sekundärrecht
  • I. Art. 4 Abs. 1 RL 2011/95/EU (Qualifiktaionsrichtlinie)
  • II. Art. 13 RL 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie)
  • III. Art. 7 RL 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie)
  • IV. Art. 13 RL 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie)
  • B. Mitwirkungspflichten im Asyl-, Aufenthalts- und Asylbewerberleistungsgesetz: Systematisierung und Analyse
  • I. Untersuchung nach Steuerungsbereichen
  • 1. Verfahrensbezogene Mitwirkungspflichten
  • 2. Räumliche Mitwirkungspflichten
  • 3. Integrationsbezogene Mitwirkungspflichten
  • II. Untersuchung nach Fachgesetzen
  • III. Verfahrensbezogene Mitwirkungspflichten
  • 1. Verfahrensbezogene Mitwirkungspflichten im AsylG
  • a) Das AsylG als Antwort auf eine steigende Zahl an Asylverfahren
  • b) Die Ausdifferenzierung der Mitwirkung des Asylbewerbers durch das AsylG
  • c) Mitwirkung an der Datenerhebung (§ 7 AsylG)
  • d) Mitwirkung bei der Zustellung postalischer Behördenschreiben (§ 10 AsylG)
  • e) Stellung des Asylgesuchs (§ 13 Abs. 3 AsylG)
  • f) Allgemeine Mitwirkungspflichten im Verfahren (§ 15 AsylG)
  • aa) Allgemeines
  • bb) Abs. 1: allgemeine Sachverhaltsaufklärungspflicht
  • cc) Abs. 2: Konkretisierung der Sachverhaltsaufklärungspflicht
  • (1) Nr. 1: Pflicht, die erforderlichen Angaben zu machen
  • (2) Nr. 2: Mitteilungspflicht über Aufenthaltstitel
  • (3) Nr. 3: Pflicht zu Meldung und persönlichem Erscheinen
  • (4) Nr. 4: Pflicht zur Passaushändigung
  • (5) Nr. 5: Pflicht zur Aushändigung von Dokumenten
  • (6) Nr. 6: Mitwirkung an der Passbeschaffung und Aushändigung von Datenträgern
  • (a) Pflicht zur Mitwirkung an der Passbeschaffung
  • (b) Pflicht zur Aushändigung von Datenträgern
  • (7) Nr. 7: Duldung der erkennungsdienstlichen Maßnahmen
  • dd) Abs. 4: Duldung der Durchsuchung
  • ee) Abs. 5: Dauer der Mitwirkungspflichten
  • g) Mitwirkung an der asylrechtlichen Anhörung (§ 25 AsylG)
  • aa) Der Umfang der Mitwirkungslast des Asylbewerbers
  • bb) Zeitliche und räumliche Umstände der Anhörung
  • cc) Die Anhörung als „Herzstück“ des Asylverfahrens
  • (1) Die Anhörung aus der Sphäre des Antragstellers: zwischen Chance und psychischer Belastung
  • (2) Der sachtypische Beweisnotstand und die Bedeutung der „Glaubwürdigkeit“: eine besondere Anforderung an den Antragsteller
  • (3) Mitwirkungspflicht und rechtliche Vertretung in der Anhörung
  • (4) Die „sicheren Herkunftsstaaten“: Eine Ausweitung der Mitwirkungspflicht?
  • (a) Anwendbarkeit des verschärften Beweismaßstabs auf die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutz gem. §§ 3 und 4 AsylG
  • (b) Anwendbarkeit des verschärften Beweismaßstabs auf die nationalen Abschiebungsverbote des § 60 AufenthG?
  • (5) Art. 3 und 4 der RL 2011/95/EU als Maßstab der Beweislastverteilung bei der Anhörung
  • dd) Zwischenfazit: Die Anhörung als Balanceakt zwischen Rechtsgarantie und Mitwirkungspflicht
  • h) Mitwirkungspflichten bei einem Folgeantrag (§ 71 AsylG)
  • i) Mitwirkungspflichten bei Erlöschen, Widerruf oder Rücknahme der Anerkennung als Schutzberechtigter
  • aa) Die Pflicht zur Herausgabe des Anerkennungsbescheids bei Erlöschen der Anerkennung (§ 72 Abs. 2 AsylG)
  • bb) Die Pflicht zur Herausgabe des Anerkennungsbescheids bei Widerruf und Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft (§ 73 Abs. 6 AsylG)
  • cc) Die Mitwirkungspflicht beim Widerrufs- oder Rücknahmeverfahren (§ 73 Abs. 3a AsylG)
  • 2. Verfahrensbezogene Mitwirkungspflichten im AsylbLG i.V.m. SGB I
  • a) Die sozialrechtliche Pflicht zur Darlegung von Tatsachen (§ 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 60 SGB I)
  • b) Die Pflicht zum persönlichen Erscheinen (§ 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 61 SGB I)
  • c) Die Pflicht des Antragstellers, sich einer ärztlichen oder psychologischen Untersuchung zu unterziehen (§ 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 62 SGB I)
  • d) Die Pflicht zur Teilnahme an einer Heilbehandlung (§ 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 63 SGB I)
  • e) Die Pflicht zur Teilnahme an Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 64 SGB I)
  • f) Grenzen der Mitwirkung im Asylsozialrecht (§ 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 65 SGB I)
  • aa) Angemessenheit, Zumutbarkeit und Erforderlichkeit der Mitwirkung
  • bb) Unzumutbarkeit körperlicher Eingriffe (Abs. 2)
  • cc) Unzumutbarkeit der Selbstbelastung (Abs. 3)
  • 3. Verfahrensbezogene Mitwirkungspflichten im AufenthG
  • a) Die Pflicht zum Besitz eines gültigen Passes (§ 3 AufenthG)
  • b) Die Verpflichtung des Aufenthalts mit gültigem Aufenthaltstitel (§ 4 AufenthG)
  • aa) Allgemeines
  • bb) Besonderheiten bei Asylbewerbern
  • c) Die Pflicht zur Mitführung des Passes bei der Grenzüberschreitung (§ 13 Abs. 1 S. 2 AufenthG)
  • d) Pflicht zur Mitwirkung an der Identifizierung (§ 47a AufenthG)
  • e) Ausweisrechtliche Mitwirkungspflichten (§ 48 AufenthG)
  • aa) Abs. 1: Pflicht zur Vorlage eines Identitätsdokuments
  • bb) Abs. 3: Pflicht zur Mitwirkung an der Passbeschaffung
  • (1) Umfang der Mitwirkung und Abgrenzung zu § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG
  • (2) Konkrete Mitwirkungshandlungen bei der Passbeschaffung
  • (a) Mitwirkungshandlungen als Eingriff in die negative Religionsfreiheit
  • (b) Die Problematik sogenannter Freiwilligkeitserklärungen
  • (c) Praktische und finanzielle Grenzen der Passbeschaffungspflicht
  • f) Mitwirkung bei der Überprüfung, Feststellung und Sicherung der Identität (§ 49 AufenthG)
  • aa) Persönlicher Anwendungsbereich
  • bb) Abs. 2: Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung und Beantragung von Passpapieren
  • cc) Abs. 10: Duldungspflicht bei Identitätsfeststellungsmaßnahmen
  • g) Die Generalklausel zur Mitwirkung im Aufenthaltsrecht (§ 82 AufenthG)
  • aa) Die Möglichkeit der Vereinbarung weitergehender Mitwirkungspflichten
  • bb) Abs. 4: Pflicht zum persönlichen Erscheinen bei Behörden und Auslandsvertretungen
  • (1) Vorsprache bei deutschen Behörden
  • (2) Vorsprache bei der Auslandsvertretung des vermuteten Heimatstaates
  • (3) Duldung einer ärztlichen Untersuchung
  • (4) Zwangsweise Durchsetzbarkeit der Pflichten gem. § 82 Abs. 4 S. 2, 3 i.V.m. §§ 40, 41, 42 BPolG
  • cc) Abs. 5: Mitwirkungsverpflichtung bei der Erstellung eines Lichtbildes und von Fingerabdrücken
  • h) Zwischenfazit: Verfahrensbezogene Mitwirkungspflichten als Ausdruck staatlicher Abhängigkeit von Informationen und höchstpersönlichen Verfahrenshandlungen
  • IV. Räumliche Pflichten
  • 1. Räumliche Pflichten im AsylG
  • a) Folgeleistungspflicht bezüglich der Weiterleitung in die Aufnahmeeinrichtung (§ 20 AsylG)
  • b) Meldepflicht (§ 22 AsylG)
  • c) Meldepflicht für nach Unions- und Völkerrecht übernommene Verfahren (§ 22a AsylG)
  • d) Pflicht zur Stellung des formellen Asylantrags (§ 23 AsylG)
  • e) Pflicht zum Aufenthalt in Aufnahmeeinrichtungen (§ 47 AsylG)
  • f) Pflicht zur Folgeleistung einer Weiterleitung in eine Anschlussunterbringung (§ 50 Abs. 6 AsylG)
  • g) Die „Residenzpflicht“ (§ 56 AsylG)
  • h) Wohnsitzauflagen (§ 60 AsylG)
  • i) Die Pflicht zur Duldung einer Gesundheitsuntersuchung (§ 62 AsylG)
  • 2. Räumliche Pflichten im AufenthG
  • a) Verlassenspflicht bei räumlicher Beschränkung (§ 12 Abs. 3 AufenthG)
  • b) Wohnsitzverpflichtung für anerkannt Schutzbedürftige (§ 12a AufenthG)
  • c) Pflicht zur Folgeleistung bei der Verteilung unerlaubt eingereister Ausländer (§ 15a AufenthG)
  • d) Pflichten für ausreisepflichtige Ausländer (§ 46 Abs. 1 AufenthG)
  • e) Ausreisepflicht (§ 50 Abs. 1 AufenthG)
  • f) Besondere Pflichten Ausreisepflichtiger aus Gründen der inneren Sicherheit (§ 56 AufenthG)
  • g) Pflichten bei der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (§ 56a AufenthG)
  • h) Wohnsitz- und Aufenthaltspflichten ausreisepflichtiger Ausländer (§ 61 AufenthG)
  • 3. Zwischenfazit: räumliche Mitwirkungs- und Aufenthaltspflichten zwischen Verfahrenseffizienz und Gefahrenabwehr
  • V. Integrationsbezogene Mitwirkungspflichten im Integrationsverwaltungsrecht
  • 1. Dogmatische Grundlagen und Herausforderungen der Steuerung von Integration durch das AufenthG
  • 2. Integration auch bei „prekärem“ Aufenthaltsstatus?
  • 3. Die Pflicht zur Teilnahme an einem Integrationskurs (§§ 43, 44a AufenthG)
  • a) Adressatenkreis einer Verpflichtung zur Kursteilnahme
  • b) Konkrete Pflichten bei der Kursteilnahme
  • 4. Pflicht zur Teilnahme an einem berufsbezogenen Deutschförderungskurs (§ 45a AufenthG)
  • 5. Pflicht zur Wahrnehmung von Arbeitsgelegenheiten in der Unterkunft (§ 5 Abs. 4 AsylbLG)
  • a) Erfasster Personenkreis
  • b) Die subjektive Zumutbarkeit der Arbeitsgelegenheit
  • 6. Die Pflicht zur Teilnahme an arbeitsmarktbezogenen Integrationsmaßnahmen (§ 5a Abs. 2 AsylbLG)
  • 7. Pflicht zur Teilnahme an Integrationskursen (§ 5b AsylbLG)
  • 8. Pflicht zur Meldung der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (§ 8a AsylbLG)
  • VI. Allgemeine Grenzen der Mitwirkung
  • 1. Der Nemo-Tenetur-Grundsatz und die Pflicht zur Mitwirkung an der eigenen Aufenthaltsbeendigung
  • 2. Die Pflicht zur Duldung rechtswidrigen Verwaltungshandelns
  • 3. Recht als Kommunikation und die Verantwortlichkeit für Mitwirkung
  • a) Die Regelungswirkung von Recht aus transkultureller Perspektive
  • b) Die Integrationsgesetze der Länder Baden-Württemberg, Berlin und Nordrhein-Westfalen als Anerkennung der diversen Gesellschaft
  • c) Die Mitwirkung im Spannungsfeld zwischen Verhältnismäßigkeit im Einzelfall und objektiven Verfahrensstandards im Lichte des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG
  • IV. Teil: Sanktionen im Asyl- und Aufenthaltsrecht
  • A. Definition des Sanktionsbegriffs
  • I. Sanktionen zwischen Durchsetzungsnorm und Strafe
  • II. Sanktionszwecke als Unterscheidungskriterium zwischen Strafe und verwaltungsrechtlicher Durchsetzungsnorm
  • 1. Repressive Sanktionen
  • 2. Restitutive Sanktionen
  • a) Die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands als Sanktionszweck
  • b) Restitution im Verwaltungsrecht: Die Wiederherstellung staatlicher Steuerungskompetenz
  • 3. Präventive Sanktionen
  • a) Die Vorverlagerung der Gefahrenabwehr als Anwendungsfall präventiver Sanktionen
  • b) Präventive Sanktionen zwischen Gefahrenabwehr- und Migrationsrecht
  • III. Zwischenfazit: Sanktionen als staatlich angeordneter Rechtsnachteil
  • B. Analyse und Systematisierung nach Steuerungsbereichen
  • I. Verfahrensbezogene Sanktionen
  • 1. Die Entscheidung der Behörde „nach Aktenlage“ und die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig (§ 29 Abs. 3 AsylG)
  • 2. Die Ablehnung des Antrags als „offensichtlich unbegründet“ (§ 30 AsylG)
  • a) Pflichtverletzungen als Ablehnungsgrund (§ 30 Abs. 3 AsylG)
  • aa) Unzureichende oder widersprüchliche Tatsachenangaben (Abs. 3 Nr. 1)
  • bb) Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit (Abs. 3 Nr. 2)
  • cc) Weitere Asylanträge unter Angabe einer anderen Identität (Abs. 3 Nr. 3)
  • dd) Asylantragstellung zur Verhinderung einer Aufenthaltsbeendigung (Abs. 3 Nr. 4)
  • ee) Gröbliche Verletzung von Mitwirkungspflichten gem. § 13 Abs. 3 Nr. 2, § 15 Abs. 2 Nr. 3-5 oder § 25 Abs. 1 AsylG (Abs. 3 Nr. 5)
  • ff) Schwerwiegende Straftaten (Abs. 3 Nr. 6)
  • gg) Missbräuchliche Asylantragstellung für einen handlungsunfähigen Asylbewerber (Abs. 3 Nr. 7)
  • b) Schwerwiegende Straftaten gem. § 60 Abs. 8 AufenthG oder § 3 Abs. 2 AsylG (Abs. 4)
  • c) Die Rechtsfolgen des § 30 AsylG: Verfahrensbeschleunigung, verkürzter Rechtsschutz und Titelsperre
  • 3. Beschleunigte Verfahren in sogenannten AnKER-Zentren (§ 30a AsylG)
  • a) Sanktioniertes Verhalten (Abs. 1 Nr. 1-7)
  • aa) Verschweigen oder Täuschen über wesentliche Tatsachen (Nr. 2)
  • bb) Vernichtung oder Beseitigung von Identitäts- und Reisedokumenten (Nr. 3)
  • cc) Antragstellung zur Verzögerung aufenthaltsbeendender Maßnahmen (Nr. 5)
  • dd) Verweigerung der Abnahme von Fingerabdrücken (Nr. 6)
  • ee) Sicherheitsrechtliche Gefährdungen (Nr. 7)
  • b) Rechtsfolgen des § 30a AsylG
  • aa) Wohnsitznahmepflicht
  • bb) Verkürzte Verfahrensdauer
  • cc) Verbot der Erwerbstätigkeit
  • 4. Die Rücknahmefiktion bei fehlender Fortführungsanzeige als Sanktion? (§ 32a Abs. 2 AsylG)
  • 5. Die Rücknahmefiktion bei Nichtbetreiben des Verfahrens (§ 33 AsylG)
  • a) Sanktioniertes Verhalten
  • aa) Verletzung von verfahrensbezogenen Mitwirkungspflichten (Abs. 2 Nr. 1)
  • bb) Verletzung von räumlichen Mitwirkungspflichten durch „Untertauchen“ und durch die Verletzung der „Residenzpflicht“ (Abs. 2 Nr. 2 und 3)
  • cc) Die Rückreise in das Heimatland (Abs. 3)
  • b) Rechtsfolgen des Nichtbetreibens: Einstellung des Verfahrens unter der Möglichkeit der Wiederaufnahme
  • 6. Die Rücknahme humanitären Schutzes bei Täuschung über oder Verschweigen von wichtigen Tatsachen (§§ 73 Abs. 2; 73b Abs. 3 Alt. 2 AsylG)
  • a) Die Rücknahme als Sanktion?
  • b) Rechtsfolge der Rücknahme des Schutzstatus: Verlust des Aufenthaltsrechts
  • 7. Sanktionierung der Verletzung einer Teilnahmepflicht an Integrationskursen (§ 44a Abs. 3 AufenthG) durch Nichtverlängerung des Aufenthaltsrechts (§§ 8–9a AufenthG)
  • 8. Das Verbot der politischen Betätigung (§ 47 AufenthG)
  • a) Gründe eines Verbots der politischen Betätigung
  • b) Vereinbarkeit mit der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 GG und Art. 10 EMRK
  • 9. Die Duldung als Sanktionsinstrument (§§ 60a; 60b AufenthG)
  • a) Die Duldung für „Personen mit ungeklärter Identität“ (§ 60b AufenthG)
  • aa) Sanktioniertes Verhalten
  • bb) Rechtsfolgen: Erwerbstätigkeitsverbot, Wohnsitzauflage und Verbot der Anrechnung von Vorduldungszeiten
  • b) Das Verbot der Erwerbstätigkeit im Rahmen der Duldung (§ 60a Abs. 6 AufenthG)
  • II. Räumliche Sanktionen
  • 1. Die Ausweisung als räumliche Sanktion (§ 53 AufenthG)
  • a) Das „überwiegende Ausweisungsinteresse“ als Ergebnis sanktionierbaren Fehlverhaltens (§ 54 AufenthG)
  • aa) Besonders schwerwiegende Ausweisungsgründe
  • bb) Schwerwiegende Ausweisungsgründe
  • cc) Ausweisungsgründe zwischen allgemeiner Gefahrenabwehr und migrationspolitischem Statement
  • b) Die Wiedereinreisesperre als flankierende Sanktionsmaßnahme der Ausweisung (§ 11 AufenthG)
  • c) Die (elektronische) Aufenthaltsüberwachung als flankierende Sanktionsmaßnahme der Ausweisung (§§ 56; 56a AufenthG)
  • d) Die Beschränkung des räumlichen Aufenthalts gem. § 12 Abs. 2 S. 2 AufenthG
  • 2. Die Abschiebung als Sanktion (§ 58 AufenthG)
  • a) Die Abschiebungshaft als Sanktion (§ 62 AufenthG)
  • aa) Die Vermutung der Fluchtgefahr aufgrund von Pflichtverletzungen (Abs. 3a)
  • bb) Anhaltspunkte für Fluchtgefahr aufgrund von Pflichtverletzungen (Abs. 3b)
  • cc) Versäumnis eines Botschaftstermins als Grund für die „Mitwirkungshaft“ (Abs. 6)
  • b) Der Ausreisegewahrsam als „mildere Form der Abschiebungshaft“ (§ 62b AufenthG)
  • c) Zwischenfazit: Haft als Instrument der Durchsetzung von Mitwirkungspflichten
  • 3. Durchsetzung einer räumlichen Aufenthaltspflicht mittels unmittelbaren Zwangs, Ingewahrsamnahme und Haft (§ 59 AsylG)
  • 4. Die Verlängerung der Residenzpflicht als Sanktion (§ 59b AufenthG)
  • III. Straf- und ordnungsrechtliche Sanktionen
  • 1. Straf- und ordnungsrechtliche Sanktionen im AsylG (§§ 85 Nr. 1–4; 86 Abs. 1 AsylG)
  • 2. Straf- und ordnungsrechtliche Sanktionen im AufenthG (§ 95 AufenthG)
  • a) Die Strafbarkeit der Verletzung der Pass- bzw. Passbeschaffungspflicht (Abs. 1 Nr. 1)
  • b) Die Strafbarkeit der Nichtausreise (Abs. 1 Nr. 2)
  • c) Die Strafbarkeit der illegalen Einreise (Abs. 1 Nr. 3)
  • d) Die Strafbarkeit des Verstoßes gegen ein Ausreiseverbot und gegen das Verbot politischer Betätigung (Abs. 1 Nr. 4)
  • e) Strafbarkeit der Verletzung der Mitwirkungspflichten bei der Identifizierung (Abs. 1 Nr. 5 und 6)
  • f) Strafbarkeit der Verletzung räumlicher Melde- und Aufenthaltspflichten (Abs. 1 Nr. 6a und 7)
  • g) Strafbarkeit der Mitgliedschaft in einem „geheimen Ausländerverein“ (Abs. 1 Nr. 8)
  • h) Strafbarkeit des Verstoßes gegen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot (Abs. 2 Nr. 1)
  • i) Strafbarkeit des Verstoßes gegen die Mitwirkungspflichten bei der elektronischen Aufenthaltsüberwachung gem. § 56a AufenthG (Abs. 2 Nr. 1a)
  • j) Strafbarkeit unrichtiger oder unvollständiger Angaben zur Erlangung eines Aufenthaltstitels oder einer Duldung bzw. deren Gebrauch (Abs. 2 Nr. 2)
  • 3. Die Vereinbarkeit des Ausländerstrafrechts mit dem Ultima-Ratio-Prinzip
  • 4. Die Vereinbarkeit des Ausländerstrafrechts mit der Rückführungsrichtlinie: Die Kollision zweier Sanktionsmechanismen
  • IV. Sozialrechtliche Sanktionen im AsylbLG
  • 1. Der Leistungsumfang des AsylbLG als Ausgangspunkt einer sozialrechtlichen Sanktion
  • 2. Der Umfang der gekürzten Leistungen im AsylbLG
  • 3. § 1a AsylbLG: Hintergrund und Entstehungsgeschichte
  • a) Die Kürzungstatbestände (Sanktionsgründe) des § 1a Abs. 1 bis 7 AsylbLG
  • aa) Die Sanktionierung der Nichtausreise (Abs. 1)
  • bb) Die Sanktionierung der Einreise mit dem Ziel des Leistungsbezugs (Abs. 2)
  • cc) Die Sanktionierung der Vereitelung aufenthaltsbeendender Maßnahmen (Abs. 3)
  • dd) Die Zuständigkeit eines anderen Staates als Sanktionsgrund? (Abs. 4)
  • ee) Die Sanktionierung der Verletzung von Mitwirkungspflichten im Asylverfahren (Abs. 5)
  • ff) Die Sanktionierung des Verschweigens eigenen Vermögens (Abs. 6)
  • gg) Die Zuständigkeit eines anderen Dublin-Staates als Sanktionsgrund? (Abs. 7)
  • b) Die Dauer der Sanktion gem. § 14 AsylbLG und ihre Wirkung auf das Steuerungsinstrument der sozialrechtlichen Leistungskürzung
  • c) Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gem. Art. 20 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG als verfassungsrechtliche Grenze der Leistungskürzung
  • aa) Der materielle Gehalt des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum
  • bb) Sozialrechtliche Sanktionen im Lichte des menschenwürdigen Existenzminimums
  • (1) Die Verfassungsmäßigkeit der Sanktionierung von Mitwirkungspflichtverletzungen als Ausdruck des Nachranggrundsatzes
  • (2) Die Verfassungswidrigkeit der Sanktionierung von Mitwirkungspflichtverletzungen außerhalb des Nachranggrundsatzes
  • (3) Die empirische Geeignetheit der Sozialleistungskürzung als Bedingung der Verfassungsmäßigkeit
  • (4) Das menschenwürdige Existenzminimum im Unionsrecht (Art. 1 GRCh)
  • 4. Weitere Sanktionstatbestände im AsylbLG
  • a) Die Sanktionierung arbeits- und integrationsbezogener Mitwirkungspflichten (§§ 5 Abs. 4; 5a Abs. 3 und 5b Abs. 2 AsylbLG)
  • b) Die Sanktionierung der Verletzung räumlicher Aufenthaltspflichten und der Mitwirkungspflichten bei der Stellung eines Asylgesuchs (§ 11 Abs. 2; Abs. 2a AsylbLG)
  • aa) Leistungskürzungen aufgrund der Verletzung der Residenzpflicht (Abs. 2)
  • bb) Leistungskürzungen aufgrund unzureichender Mitwirkung bei der Ausstellung des Ankunftsnachweises (Abs. 2a)
  • c) Die Sanktionierung mangelnder Mitwirkung im Verfahren zur Gewährung von Sozialleistungen (§ 9 Abs. 3 S. 1 AsylbLG i.V.m. § 66 SGB I)
  • 5. Zwischenfazit
  • V. Der Verzicht auf einen Abschiebestopp als Sanktion: Priorisierungen bei der Abschiebepraxis
  • V. Teil: Ausblick und Fazit
  • A. „Den Rechtsstaat durchsetzen“: Das Vollzugsdefizit im Migrationsrecht und die politische Bedeutung der Rolle des Individuums im Verfahren
  • B. Fördern statt fordern? Das Potenzial positiver Anreize als Steuerungsinstrument im Asyl- und Aufenthaltsrecht
  • I. Positive Anreize durch Rückkehrprogramme
  • II. Positive Anreize am Beispiel der Ausbildungsduldung
  • III. Das Dilemma der Betroffenen: Die Mitwirkungsverweigerung als „rettender Strohhalm“
  • C. Zu den möglichen Auswirkungen einer europäischen Asylverfahrensverordnung auf die Mitwirkungspflichten und Sanktionen
  • D. Zusammenfassung der Ergebnisse
  • Literaturverzeichnis

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I. Teil: Einleitung

„Wir schaffen das!“ – Angela Merkel, Bundespressekonferenz, 31. August 2015.

„Wenig demoralisiert so sehr wie staatliche Hilflosigkeit“ – Heinrich Wefing, Die Zeit vom 28. Februar 2019.

A. Leitende Fragestellung

Diese beiden Zitate stehen im zeitlichen Kontext eines gesellschaftlichen Großereignisses, der sogenannten Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016. Sie stehen sinnbildlich für einen Grundkonflikt, dem sich die asyl- und aufenthaltsrechtliche Verwaltung ausgesetzt sieht: Die Bewältigung der Ankunft, Aufnahme und Integration mehrerer Hunderttausend Menschen stellte die Bundesrepublik und ihre staatlichen Strukturen vor eine gewaltige Herausforderung, welche sich in Angela Merkels schon heute legendär gewordenem Satz exemplarisch verkörpert. Er versucht im Kern einen gesamtgesellschaftlichen Optimismus zu transportieren, welcher ein politisches Gegengewicht zu Zweifeln und Ängsten darstellt, die durch diese Situation bei vielen Bürgern, aber auch zahlreichen Funktionsträgern in Politik und Verwaltung geweckt wurden.1 Interessant an dem Satz „Wir schaffen das“ ist aber nicht nur sein politischer Inhalt, sondern auch seine semantische Konstruktion. Das „Wir“ konzentriert sich in erster Linie auf das Land, die Bevölkerung als Zusammenschluss tatkräftiger Ehrenamtlicher und „anpackender“ Mitarbeiter in den staatlichen Verwaltungsstrukturen. Dieses Bild impliziert aber mit seiner Subjektivität des handelnden „Wir“ eine Objektivität derer die behandelt werden. Dem „Wir“ steht ein „die“ gegenüber, ein passives Objekt der Hilfsbedürftigkeit und gleichzeitigen Personifizierung der Herausforderung, die es zu schaffen gilt. Durch diese Sichtweise wird aber teilweise der Blick auf die aktive Rolle der geflüchteten Menschen verdeckt, um die es eigentlich geht, und deren tägliche Herausforderungen als Neuankömmlinge in einer fremden Gesellschaft die Frage aufwirft, was es denn alles für sie zu schaffen gilt.

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Die vorliegende Arbeit soll diesbezüglich einen Perspektivwechsel ermöglichen. Im Fokus stehen nicht die Herausforderungen derer, die aufnehmen, sondern derer, die aufgenommen werden sollen. Einen wichtigen Teil dieser Herausforderungen stellt ihr Umgang mit Behörden bzw. ihre rechtliche Stellung gegenüber dem Staat dar. Welche Pflichten treffen Ausländer bei der rechtlichen Begründung eines Aufenthalts? Was verlangt der Staat von ihnen? Und welche Folgen treten ein, wenn sie ihren Pflichten nicht nachkommen? Im Kontext dieser Fragen steht das zweite der eingangs aufgeführten Zitate. Es stammt vom Journalisten Heinrich Wefing und erschien am Ende eines Artikels in der Zeit im Februar 2019, also fast vier Jahre nach Angela Merkels Ausspruch. Der Artikel befasst sich mit dem chronischen Defizit bei der Durchsetzung des Aufenthaltsrechts. Demnach sei es nicht verwunderlich, wenn Bürger angesichts des Versagens staatlicher Steuerung von Migration „das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren“.2 Ob tatsächlich eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Vollzugsdefizit im Aufenthaltsrecht und der Erosion bürgerlichen Vertrauens in den Staat besteht, kann hier offenbleiben. Jedoch ist kaum bestreitbar, dass der optimistisch formulierte Anspruch Merkels und Wefings ernüchternde Diagnose schwerlich miteinander vereinbar sind. Wie zwei Kontinentalplatten prallen der Anspruch einer zupackenden Willkommenskultur, welche einerseits offen und integrierend auf Migranten zugeht und gleichzeitig effizient und durchsetzungsstark entscheidet, wer bleiben darf und wer gehen muss, und die alltägliche kleinteilige Arbeit der ausländerrechtlichen Verwaltung, bei den bspw. Abschiebungen regelmäßig schlicht an fehlenden Papieren scheitern3, aufeinander. Diese Kollision erzeugt politischen Druck, welcher zu immer neuen Mitteln und Wegen führt, um die Rechtsfolgen des Asyl- und Aufenthaltsrechts durchzusetzen.4

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I. Mitwirkungspflichten als Ausdruck der Rolle des Ausländers im Recht

Eine zentrale Rolle dabei spielen die betroffenen Ausländer selbst. Auch sie bleiben von innenpolitischen Reformen nicht verschont, ihr Mitwirken an der staatlichen Durchsetzung des Migrationsrechts spielt dabei vielmehr eine zentrale Rolle. So sieht bspw. § 15 AsylG eine umfangreiche Mitwirkung der Asylbewerber im Asylverfahren vor.5 Diese müssen Auskünfte erteilen und Dokumente vorlegen. Dazu gehören auch Smartphones, auf denen auch höchstpersönliche Informationen gespeichert sein können.6 Aber auch das pünktliche Erscheinen bei bestimmten Behördenterminen (bspw. §§ 22, 22a, 23 AsylG) gehört zu einer pflichtgemäßen Mitwirkung, ebenso wie die Vorsprache bei der Botschaft des Heimatstaates zur Beschaffung neuer Passpapiere (§ 48 AufenthG). Schließlich arbeitet auch die räumliche Kontrolle des Staates über den Aufenthaltsort von Ausländern mit rechtlichen Pflichten. Ausländer dürfen sich oftmals nur in bestimmten Regionen aufhalten oder müssen dort ihren dauerhaften Wohnsitz innehaben (§§ 56 und 60 AsylG). Bereits diese Beispiele zeigen auf, dass die Mitwirkung von Ausländern bei der staatlichen Regelung von Migration äußerst vielgestaltig ist und sich netzartig durch alle Regelungsbereiche des Migrationsrechts zieht. Darüber hinaus existieren aber auch zahlreiche Normen, welche die Einbindung und Verpflichtung von Ausländern in die Steuerung des Migrationsgeschehens nur mittelbar regeln. Ob eine Norm zu diesem Regelungsgefüge beiträgt und insofern als Mitwirkungspflicht interpretiert werden kann, lässt sich daher oft erst bei näherer Betrachtung und Interpretation im Zusammenhang mit anderen Normen feststellen. Daher wäre eine Beschränkung dieser Untersuchung auf Normen, welche unmittelbar als Mitwirkungspflichten erkennbar sind (z.B., weil bereits die Überschrift der Norm dies vorgibt, vgl. § 15 AsylG oder § 82 AufenthG), nicht sachgerecht. Stattdessen soll zum Zweck dieser Arbeit eine möglichst offene Definition der Pflichten des Ausländers gewählt werden. Betrachtet werden sollen also alle Normen, welche 1. dem Aufenthalts- oder Asylrecht entstammen oder auf welche dieses verweist und 2. dem Ausländer ein Tun, Dulden oder Unterlassen vorschreiben, welches in einem sachlichen Zusammenhang mit der staatlichen Steuerung von Migration steht. Die Arbeit begnügt sich somit nicht mit einem formalistischen und durch Erlass eines bestimmten Verwaltungsakts wirkenden Mitwirkungsbegriff. Stattdessen sollen ←29 | 30→auch andere, unter Umständen nur mittelbar wirkende Formen der Kooperation untersucht werden. Nur ein derart offenes Begriffsverständnis kann den Themenkomplex von Kooperation und Sanktion vollständig erfassen.

II. Sanktionen als Durchsetzungsinstrument

Mitwirkungspflichten bilden für sich genommen nicht das ganze Spektrum hoheitlicher Migrationssteuerung unter Einbindung von Ausländern ab. Entscheidend ist auch, wie der Gesetzgeber ihre Durchsetzung fördert und absichert. So sieht das Migrationsrecht auch zahlreiche Sanktionen vor, deren Rechtswirkung eintritt, wenn Mitwirkungspflichten verletzt werden. Sie bringen in der Regel einen Rechtsnachteil für die Betroffenen mit sich. So sieht der Gesetzgeber bei mangelhafter Mitwirkung bspw. vor, dass Asylverfahren abgebrochen, vorzeitig beendet oder in beschleunigten Verfahren zu Ende geführt werden (§§ 29–33 AsylG). Auch der aufenthaltsrechtliche Status, und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten einer Ausbildung oder Erwerbstätigkeit, können von der Verletzung bzw. Erfüllung von Mitwirkungspflichten abhängen (so bspw. bei der Duldung für Personen mit ungeklärter Identität gem. § 60b AufenthG). Ein aus grundrechtlicher Sicht besonders eingriffsintensives Sanktionsinstrument stellen zudem Sanktionen durch die Kürzung von Sozialleistung dar.7 Diese Beispiele zeigen, dass auch die Sanktionen im Asyl- und Aufenthaltsrecht verschiedenste Auswirkungen haben können und sich für die Durchsetzung der Mitwirkung und der Befolgung von Pflichten unterschiedlichster Mechanismen bedienen, bis hin zu einer Beendigung des Aufenthalts.8

Zugleich ist aber weder der Begriff der Mitwirkung noch der der Sanktion legal definiert. Oftmals verbergen sich auch Sanktionen nur implizit in einer Rechtsnorm oder ergeben sich erst aus dem Kontext oder durch Querverweise in andere Normen. Insbesondere durch die Reformen der letzten Jahre sind das Asyl- und Aufenthaltsrecht mittlerweile von einer stetig zunehmenden Vielzahl kleinteiliger Regelungen durchdrungen.9 Ein zentrales Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher, Mitwirkungspflichten und Sanktionen innerhalb dieses komplexen Regelungsgeflechts zu erkennen, sichtbar zu machen und zu fragen, welche Funktion sie bei der Steuerung von Migration erfüllen und insbesondere ←30 | 31→auch, an welche rechtlichen Grenzen sie dabei stoßen. Die damit verbundenen Fragen sollen nicht nur mit Blick auf die Dogmatik des einfachgesetzlichen Asyl- und Aufenthaltsrechts beantwortet werden. Erforderlich ist vielmehr eine Untersuchung auch im Lichte der Erkenntnisse der allgemeinen Verwaltungsrechtswissenschaft. Die Antworten auf diese Fragen sind Ziel der Arbeit und sollen einen Beitrag dazu leisten, die staatliche Steuerung von Ankunft, Aufenthalt und Integration von Menschen besser verstehen und einordnen zu können.

B. Methodisches Vorgehen und Schwerpunktsetzung

Da es sich bei dieser Untersuchung um eine rechtsdogmatische Arbeit handelt, vollzieht sich diese im Kern an einer Betrachtung des einfachgesetzlichen und von den Behörden angewandten Rechts. Ziel der Arbeit ist es insoweit, innerhalb des umfangreichen Asyl- und Aufenthaltsrechts diejenigen Normen zu identifizieren, welche den Ausländer selbst direkt oder indirekt adressieren.10 Dies umfasst nicht nur die Auslegung und Interpretation der einzelnen Tatbestandsmerkmale einer Norm, sondern auch deren Funktion im Gesamtgefüge des Asyl- und Aufenthaltsrechts sowie die rechtlichen Grenzen der Mitwirkungspflichten und Sanktionen. Die Arbeit verfolgt dabei jedoch nicht den Anspruch, jedes Problem, welches sich bei einzelnen Mitwirkungspflichten oder Sanktionen hinsichtlich der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht stellt, umfassend zu vertiefen. Ziel ist stattdessen, eine breitenwirksame Übersichtsdarstellung und Systematisierung des umfangreichen Katalogs an Mitwirkungspflichten und Sanktionen zu erstellen und so einen Beitrag zur Erschließung eines Rechtsgebiets zu leisten, welches sich gerade durch seine kleinteilige und unübersichtliche Regelungsdichte auszeichnet.11

Neben dieser Untersuchung der Normen sollen die Mitwirkungspflichten in einem weiteren Schritt auch anhand der Steuerungsbereiche, in dem sie jeweils wirken, systematisiert werden.12 So setzen Mitwirkungspflichten nicht nur bei der Schaffung einer inhaltlichen Entscheidungsgrundlage im Verwaltungsverfahren an, sondern auch bei der Kontrolle des räumlichen Aufenthaltsbereichs und damit der Verfügbarkeit über den Ausländer sowie bei seiner Integration an. Auch Sanktionen lassen sich dem entsprechend anhand ihrer jeweiligen ←31 | 32→Wirkungsbereiche systematisieren.13 Ein weiterer Aspekt, unter dem die Sanktionen untersucht werden, ist ihr Funktionsmechanismus: Soll eine Norm den Adressaten abschrecken und damit präventiv wirken oder dient sie vielmehr repressiven Zwecken in Form einer Strafe oder vereint sie mehrere Funktionsmechanismen in sich? Auch dies sind Fragen, die bei der Analyse der Sanktionen Beachtung finden.

C. Das Asyl- und Aufenthaltsrecht als Forschungsgegenstand der Arbeit

Das Vorhaben der Untersuchung der Mitwirkungspflichten und Sanktionen für Ausländer wirft zunächst die Frage auf, wo (also in welchen Normen) nach diesen überhaupt zu suchen ist und welche Gesetze folglich den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit bilden. Denn gerade im Bereich des Migrationsrechts besteht die allgegenwärtige Gefahr einer undifferenzierten Vermischung der Begrifflichkeiten. Dies hat auch mit der politischen Brisanz des Themas zu tun, durch die Begriffe wie „Migranten“, „Flüchtlinge“, „Geflüchtete“, „Asylbewerber“, „Asylsuchende“ oder „Asylanten“ zu politisch eingefärbten Werkzeugen werden, die in der Sache zwar oftmals dieselbe Personengruppe meinen, jedoch stets mit einem anderen politisch-normativen Kontext. Ähnlich komplex verhält es sich mit dem Rechtsgebiet, welches sich mit Personen befasst, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit innehaben.14 Die definierende Grenzlinie dieses als „Migrationsrecht“15 bezeichneten Rechtsgebiets ist also die Frage danach, ob die jeweilige Regelung ausschließlich Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit umfasst.16 Dies gilt vor allem für die Regelungen des Ausländer-, Asyl-, Staatsangehörigkeits-, und Vertriebenenrecht.17 Eine gewisse Sonderrolle zwischen den binären Polen der Deutschen und Ausländer nehmen die Bürger der Mitgliedstaaten der EU ein, da sie durch Art. 20 AEUV, zusätzlich zur nationalen Staatsbürgerschaft, eine Unionsbürgerschaft innehaben. Diese ist Ausdruck der europäischen politischen Solidargemeinschaft18 und verpflichtet die Mitgliedstaaten in weiten Teilen zur Gleichbehandlung mit den eigenen Staatsangehörigen. Unionsbürger ←32 | 33→sind damit, überspitzt ausgedrückt, nur noch partiell Ausländer.19 Diese Sonderstellung zeigt sich auch im einfachgesetzlichen deutschen Recht, bei dem das AufenthG gem. § 1 Abs. 2 Nr. 1 Unionsbürger ausdrücklich vom Anwendungsbereich ausnimmt. Für Letztere gilt, in Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EU, das Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU). Aufgrund dieser Sonderstellung ist der Aufenthalt von Unionsbürgern grundsätzlich nicht dem strengen Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterworfen, welches für Drittstaatsangehörige mit dem AufenthG gilt.20 Folglich erfüllen auch Mitwirkungspflichten für die Steuerung des Aufenthalts von Unionsbürgern nicht die gleiche Funktion, sodass das FreizügG/EU kein Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist.

Eine weitere Unterscheidung der oben angesprochenen Teilgebiete muss zwischen dem Ausländer- und Asylrecht auf der einen sowie dem Staatsangehörigkeits- und Vertriebenenrecht auf der anderen Seite getroffen werden. Denn Letzteres regelt primär die Frage, ob eine Person Staatsbürger ist oder wird bzw. befasst sich mit der historisch bedingten Sonderstellung der sogenannten „Statusdeutschen“ gem. Art. 116 Abs. 1 Alt. 2 GG.21 Dagegen befassen sich Asyl- und Aufenthaltsrecht mit den Regelungen über Einreise und Aufenthalt von Personen. Das Aufenthalts- und das Asylrecht dürfen allerdings nicht als autonome Regelungsregime eigenständiger Lebenssachverhalte missverstanden werden. Sie sind vielmehr in vielfältiger Weise miteinander verbunden und bilden daher letztlich ein gemeinsames Regelungsgeflecht. So regelt etwa das bis 2016 als „Gesetz über das Asylverfahren“ (Asylverfahrensgesetz, AsylverfG) bekannte heutige Asylgesetz (AsylG) zum einen die materiellen Voraussetzungen des Flüchtlings- bzw. Asylstatus, zum anderen aber auch formelle Regelungen des asylrechtlichen Verwaltungsverfahrens. Das AufenthG dagegen befasst sich allgemein mit den Regelungen von Einreise, Aufenthalt und Aufenthaltsbeendigung von Ausländern. Die Verbindung beider Gesetze ist daher in einem Stufenverhältnis zu sehen:22 Asyl- und Schutzsuchende sowie anerkannte Flüchtlinge gem. § 3 AsylG und Asylberechtigte gem. § 2 AsylG unterfallen dem ←33 | 34→insoweit vorrangigen Sonderreglungen des Asylgesetzes. Darüber hinaus sind sie aber auch Ausländer im Sinne des AufenthG und werden als solche von diesem erfasst. Dies wird bereits durch die Zielsetzung gem. § 1 Abs. 1 S. 3 AufenthG deutlich, wonach das AufenthG auch „der Erfüllung der humanitären Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland“ dient, welche sich in hohem Maße aus dem internationalen Flüchtlingsrecht ergeben.23

Über die Frage von Einreise, Aufenthalt und Aufenthaltsbeendigung hinaus umfassen die Regelungen über den temporären Aufenthalt (in Abgrenzung zum Einbürgerungs- und Staatsangehörigkeitsrecht) aber auch Fragen des Sozialstaats und dem, was in der öffentlichen Diskussion gemeinhin als „Integration“ diskutiert wird.24 Für Migranten, die sich noch im Ankunftsprozess (insbesondere im asylrechtlichen Verfahren) befinden, gilt im für die sozialrechtliche Sicherung des Existenzminimums zudem das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Dieses findet nicht nur zu Beginn des Aufenthalts Anwendung, sondern unter Umständen auch bei dessen Beendigung, etwa bei vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern gem. § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG.25 Generell kann an dieser Stelle nicht detailliert auf die Einzelheiten des Sozialrechts für Migranten eingegangen werden.26 Es lassen sich aber einige Prinzipien und Regelungsmuster erkennen. So besteht aus Sicht eines Nationalstaates ein grundlegender Konflikt zwischen Einwanderung und Sozialstaatlichkeit.27 Dabei wird „Einwanderung in die Sozialsysteme“ prinzipiell als Belastung abgelehnt, eine Einwanderung in die Erwerbstätigkeit dagegen als Quelle für Wirtschaftswachstum und damit auch für Sozialabgaben befürwortet.28 Der Zugang zu den Sozialsystemen für ←34 | 35→Migranten wird daher grundsätzlich im Sinne eines „do ut des“ ausgestaltet. Von Nicht-Deutschen erwartet das Recht, dass sie zunächst wirtschaftliche Anknüpfungspunkte im Ankunftsstaat bilden bzw. jedenfalls ihren Unterhalt ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen finanzieren können. Daher ist die Sicherung des Lebensunterhalts grundsätzliche Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Im Falle humanitärer Aufenthaltstitel kollidiert dieses Erfordernis jedoch mit den völker- und europarechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik im Bereich des Flüchtlingsrechts und wird daher gem. § 5 Abs. 3 AufenthG für humanitäre Aufenthaltstitel nicht gefordert. Das Erfordernis der Unterhaltssicherung wird aber mit zunehmender Dauer des Aufenthalts und einer andauernden wirtschaftlichen Teilhabe aufgeweicht. Je mehr und je länger sich ein Ausländer also in Wirtschaft und Gesellschaft des Aufnahmestaates verwurzelt, desto stärker soll er auch von dessen Sozialleistungssystem profitieren können.29 Mit den Aufenthalten aus humanitären Gründen lässt sich dieses System der gestuften sozialstaatlichen Solidarität allerdings nicht stringent vereinbaren, da hier aufgrund der humanitären Dringlichkeit der Aufnahme im Zielstaat eine vorangehende wirtschaftliche Absicherung des Ausländers nicht verlangt werden kann. Diese kurze Skizzierung zeigt daher auch, warum der Gesetzgeber das Sozialrecht der Personen, deren Aufenthalt sich aus humanitären Gründen ergibt, mit dem AsylbLG weitestgehend ausgegliedert hat. Für ein umfassendes Verständnis des Regelungsregimes, welchem Ausländer während ihres Aufenthalts in Deutschland unterliegen, ist auch eine Betrachtung der einschlägigen sozialrechtlichen Normen notwendig. Diese sollen daher auch, insbesondere in Gestalt des AsylbLG, als Rechtsquelle für Mitwirkungspflichten und Sanktionen von der vorliegenden Arbeit in den Blick genommen werden.

Gleiches gilt für das Integrationsrecht.30 Dieses noch sehr junge Untergebiet des Migrationsrechts wird zuweilen auch als „Migrationsfolgenrecht“31 oder als „Integrationsverwaltungsrecht“32 bezeichnet und befasst sich mit sämtlichen „Aufgaben der Verwaltung, die mit dem Ziel einer Förderung der Teilhabe und der Angleichung der Lebensverhältnisse unternommen werden“.33 Welchen Umfang die darunter fallenden Maßnahmen genau haben und für welche ←35 | 36→Lebensbereiche sie einen Gestaltungsanspruch erheben, hängt freilich vom Zweck des Aufenthaltes ab.34 So erfordert ein temporär kurz angelegter Aufenthalt aus humanitären Gründen andere Konzepte von Integration als ein langjähriger Daueraufenthalt zum Zwecke der Erwerbstätigkeit, der am Ende auch in einen Übergang zur deutschen Staatsbürgerschaft münden kann oder gar soll.35 Einigkeit herrscht indes dahin gehend, dass Integration ein überaus komplexer und dynamischer Prozess zwischen Migranten und der Aufnahmegesellschaft ist.36 Diskutiert wird dabei vor allem auch das angemessene Maß zwischen dem, was Migranten von der Aufnahmegesellschaft abverlangt werden kann auf der einen und einer Überregulierung in alle, auch innerste, Lebensbereiche hinein auf der anderen Seite.37 Allein aus diesem Grund lohnt für die Zwecke der vorliegenden Arbeit auch ein Blick auf die (Mitwirkungs-)Pflichten und Erwartungen, die Migranten durch das Integrationsverwaltungsrecht zugeschrieben werden.

Insgesamt zeigt sich, dass die präzise Eingrenzung der Teilrechtsgebiete, in denen die Mitwirkung von Ausländern und die Sanktionierung eines Rechtsbruchs eine wichtige Rolle für die Migrationssteuerung spielen, nur schwierig möglich ist. Zwar hat die Forschung in jüngerer Zeit verstärkt versucht, ein einheitliches Rechtsgebiet des Rechts für Nichtdeutsche zu definieren38, dies würde jedoch den Blick auf Rechtsgebiete wie das Sozialrecht, die zwar nicht spezifisch für Ausländer geschaffen und konzipiert wurden, jedoch im Bereich der Migrationsgestaltung große Wirkung entfalten, versperren.39 Um die Wirkung und ←36 | 37→Funktionsweise der Mitwirkungspflichten und Sanktionen im Asyl- und Aufenthaltsrecht vollständig zu erfassen und verstehen zu können, müssen daher neben den Normen des Asyl- und Aufenthaltsgesetzes auch solche des Asylbewerberleistungsgesetzes und das SGB in den Blick genommen werden. Denn insgesamt legen das Asyl- und Aufenthaltsrecht ein ganzheitliches Verfahrensverständnis an den Tag, welches vom Moment der Einreise an einen hohen Steuerungsanspruch für zahlreiche Lebensbereiche erhebt.40

D. Migration zwischen Verfassungsauftrag und politisch-gesellschaftlichem Diskursgegenstand

Das Aufenthalts- und Asylrecht knüpft als spezifisch für Ausländer geltendes Recht stets auch an politische Diskurse an bzw. entsteht aus diesen heraus. Dies gilt sicherlich nicht exklusiv für das Migrationsrecht. Auch das Umweltrecht bspw. wird durch gesamtgesellschaftliche Debatten stark geprägt.41 Dennoch sticht das Migrations-, und vor allem das Asylrecht, in dieser Frage besonders hervor, da kaum eine Debatte die Gesellschaft in den vergangenen Jahren so polarisiert hat, wie die Frage der deutschen und europäischen Asylpolitik.42 Dies hängt auch mit einer tradierten Kernfunktion des Migrationsrechts zusammen: Die Gefahrenabwehr ist eine der wichtigsten historischen Keimzellen des staatlichen Umgangs mit Ausländern. Daraus folgt für die Verwaltung auch, dass das Aufenthalts- und auch das Migrationsrecht insgesamt aus seiner historischen Genese heraus betrachtet Teil des besonderen Polizeirechts ist.43 Dieses wiederum ist Teil des besonderen Verwaltungsrechts, da seine grundlegende Funktion in der Sicherung und Garantie der öffentlichen Sicherheit und Ordnung als zentrale Aufgabe staatlicher Verwaltung besteht.44 Aus dieser Warte betrachtet, sichert das Polizeirecht vor allem den Schutz grundrechtsrelevanter Rechtspositionen und dient letztlich der „Verwirklichung der Verfassung“.45

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Begreift man aber den staatlichen Umgang mit Ausländern im Kern als Verfassungsauftrag im Sinne eines Schutzes der „eigenen“ Bevölkerung, so erklärt sich auch dessen großes Polarisierungspotenzial. Das Migrationsrecht wird als Handlungsrahmen staatlicher Gewalt im Umgang mit Nichtdeutschen daher nicht nur durch einen Verfassungsauftrag als solchen, sondern zugleich auch stark von den damit korrespondierenden „politischen, sozialen, wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Verhältnissen“46 geprägt. Verkürzt gesagt: Die grundlegende Bedeutung, die der Verfassungsgesetzgeber dem staatlichen Schutz der Grundrechte seiner Bürger zugesprochen hat, und die sich im Gefahrenabwehrrecht verkörpert, spiegelt sich gleichsam auch in der Erhitzung der gesellschaftlichen Debatten um das Thema Migration. Diese Diskussion um den richtigen Umgang mit hohen Asylantragszahlen und über eine effiziente Rückführungspolitik hat spätestens durch die Straftaten in der Kölner Silvesternacht 2015 und den Anschlag am Berliner Breitscheidplatz am 19.12.2016 ihren Höhepunkt erreicht.

Für die Gesetzgebung im Aufenthalts- und Asylrecht ist dies ein kaum zu unterschätzender Faktor. Die Debatten, Beiträge, Einwürfe und Publikationen, die in jüngster Zeit zum Thema Migration und Flucht47, aber auch zu den dahinterstehenden Metathemen wie Identität und Heimat48, in die Öffentlichkeit traten, sind so zahlreich wie vielfältig.49 Dass die politischen Gewalten in Bund und Ländern durch die damit einhergehende Politisierung der Gesellschaft beeinflusst werden, verwundert daher nicht. So wurde das Bundesministerium des Inneren 2018 sogar um eine explizite Zuständigkeit für das Thema „Heimat“ erweitert. Anders als bspw. das Resort „Bau“, welches ebenfalls in die Zuständigkeit des BMI fällt, handelt es sich bei „Heimat“ jedoch um ein kaum greifbares und höchst subjektives Gefühl und weniger um einen klar abgrenzbaren Aufgabenbereich.50 Überträgt man ein solches durch Emotionen geprägtes Konstrukt ←38 | 39→nun auf die offizielle Zuständigkeit eines Bundesministeriums, so wirft dies die Frage auf, wie sich dies mit der rationalen Umsetzung von Verwaltungsrecht als Kernaufgabe staatlicher Behörden vereinbaren lässt. Ein möglicher Erklärungsansatz liegt darin, Heimat gerade als nicht technisches Resort mit eigenem Gesetzgebungs- und Umsetzungsauftrag zu begreifen, sondern als „Administrierung eines Gefühls“:51 Es geht in diesem Sinne weniger um konkrete Aufgaben, die es mittels Gesetzen und Verwaltungsmaßnahmen zu bewältigen gilt, sondern mehr um eine „Gesamtfärbung“ der Arbeit des BMI im Lichte der Heimatverbundenheit.52 Dies verdeutlicht, wie sich die politische Polarisierung der Gesellschaft um das Thema Migration bis in den Aufbau von Verwaltungsstrukturen „hineinfressen“ kann, was das Migrationsrecht in gewissem Sinne von anderen, nüchternen Verwaltungsrechtsgebieten abhebt.

Es ist daher naheliegend, dass neben den administrativen Strukturen auch das Migrationsrecht als „geronnene Politik“53 selbst unmittelbar beeinflusst wird durch den politischen Konflikt zwischen humanitärem Enthusiasmus auf der einen und kommunitaristischer Abschottung auf der anderen Seite, inklusive aller Facetten dazwischen. Dies äußert sich gerade auch im Bereich der Mitwirkungspflichten und Sanktionen: Ob der Staat autoritär gegenüber Asylbewerbern auftritt und diese vielfach zu bestimmten Handlungen verpflichtet oder ob er eine liberale Politik des „laissez faire“ betreibt, in der Migration ein ungesteuerter Prozess organischer Entwicklung ist, ist eine wesentliche politische Frage, die über Art und Umfang der Mitwirkungspflichten entscheidet. Gleiches gilt für die Frage, ob der Staat Mitwirkungspflichten mithilfe scharfer Sanktionsinstrumente durchzusetzen versucht oder ob er darauf verzichtet und den Mitwirkungspflichten damit eher einen Appellcharakter verleiht. Besonders interessant für die vorliegende Arbeit ist daher die Frage, ob und wenn ja, welche Mitwirkungspflichten und Sanktionen das Produkt der aus den Migrationskrisen der ←39 | 40→vergangenen Jahrzehnte entstandenen Gesetzespakete sind und inwieweit sich der kontroverse politische Diskurs damit letztlich auch im Recht manifestiert hat.

I. Erwartungen der Gesellschaft an den „Fremden“: Mitwirkungspflichten als spiegelbildlicher Bestandteil des Gastrechts

Mitwirkungspflichten und der Regelungsanspruch des Gesetzgebers im Umgang mit Ausländern, der sich in ihnen ausdrückt, können letztlich auch auf ein grundlegendes Dilemma zurückgeführt werden, dem sich Gesellschaften seit jeher im Umgang mit Ausländern ausgesetzt sehen. Denn die Begegnung mit dem „Fremdem“ weckt stets zwei gegenläufige Impulse.54 Zum einen birgt das Fremde immer das Potenzial einer Gefahr: Was man nicht kennt, bei dem ist zunächst Vorsicht geboten. Zugleich weckt aber das Bekannte im Fremden Empathie. Ein anderer Mensch, in dem wir uns wiedererkennen, wirft immer auch die Frage auf: Wie möchte ich selbst behandelt werden, wenn ich fern der Heimat um Einlass bitte? Dies gilt umso mehr, wenn der Fremde um Hilfe, also Asyl, nachsucht. Diese grundsätzliche Ambivalenz lässt sich auch sprachgeschichtlich ausmachen. So bedeutet das lateinische Wort „hostis“ zugleich „Fremder“, aber auch „Feind“, auch im Sinne von „Staatsfeind“.55 Das Wort „Hospes“ dagegen bedeutet ebenfalls „Fremder“, aber auch „Gast“.56 Beide Wörter haben den gleichen Wortursprung.57

Dieses, der Begegnung mit dem „Fremden“ immanente, Spannungsverhältnis lässt sich grundsätzlich in beide Richtungen auflösen. Entweder der Fremde schafft es, das Misstrauen ihm gegenüber zu überwinden. Dann kommt es nicht selten vor, dass aus Misstrauen Vertrauen und ein Ausländer Teil der örtlichen Gemeinschaft wird.58 Oder aber Vertrauen wird enttäuscht und die Einstufung ←40 | 41→als „Feind“ setzt sich durch. Die Verletzung gesetzlicher Pflichten und Verbote durch Ausländer spielt dabei eine wichtige Rolle, vor allem solcher des Gefahrenabwehr- und Strafrechts. Seit den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 wird im öffentlichen Diskurs „Ausländerkriminalität“ auch mit Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus assoziiert und verklammert.59 Hinzu kommt seit den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln und anderen deutschen Städten das stereotype Bild des „arabischen Sexualstraftäters“. Verletzt ein Ausländer Strafgesetze, vor allem solche im Bereich staatsgefährdender Straftaten, des Sexualstrafrechts oder des Betäubungsmittelgesetzes, so reproduziert dies im öffentlichen Diskurs daher eben jene Bilder des Fremden als „Terrorist“, „Triebtäter“ oder „Drogendealer“. Diese wirkmächtigen Bilder sind Ausdruck des historisch verwurzelten Misstrauens gegenüber „Fremden“ und ein Grund, warum Pflicht- und Rechtsverletzungen von Ausländern ein derartiges Reizthema (rechts)politischer Diskurse darstellen.

Dies gilt aber nicht nur für das Thema „Ausländerkriminalität“, sondern auch für Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren. Auch die Identitätstäuschung im Asylverfahren, das absichtliche „Verschwindenlassen“ des Passes oder das Vortäuschen einer Erkrankung zur Vermeidung einer Abschiebung, sind Verhaltensweisen, welche im öffentlichen Diskurs über Migration für besondere Empörung sorgen. Denn letztlich entscheidet sich die Frage zwischen „Feind“ oder „Gast“ auch daran, ob der Fremde sich an die Regeln der Gesellschaft hält, bei der er Aufnahme begehrt. Dem ist, anders als bei der Einhaltung gesetzlicher Pflichten durch deutsche Staatsbürger, auch ein meritokratischer Gedanke immanent. Denn ein Ausländer muss sich das Recht auf Aufenthalt, anders als ein Staatsbürger, erst „verdienen“, indem er sich an Regeln hält, mitwirkt und die Erwartungen der Aufnahmegesellschaft erfüllt. Die Erfüllung von Mitwirkungspflichten ist daher ein wichtiger Baustein bei der Konstruktion des öffentlichen Bildes vom „guten Migranten“, der keine Straftaten begeht und den von ihm verlangten Anforderungen bereitwillig nachkommt. Die Erfüllung oder Verletzung von Mitwirkungspflichten ist in diesem Sinne Teil des kollektiven emotionalen Balanceaktes zwischen Empathie und Misstrauen bei der Ankunft und Integration von Ausländern in die Gesellschaft.

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II. Historische Genese der Rolle des Ausländers im Migrationsrecht

Die Rolle des Ausländers im Verwaltungsrecht und damit auch, welche Mitwirkung der Staat ihm abverlangt, ist nicht allein durch den öffentlichen Diskurs über Migration beeinflusst und durch den demokratischen Gesetzgeber bestimmt, sondern auch historisch gewachsen. Für das Verständnis der Bedeutung und Funktion von Mitwirkungspflichten und Sanktionen im Asyl- und Aufenthaltsrecht ist es daher wichtig, zunächst die historische Entwicklung des staatlichen Umgangs mit Ausländern in Deutschland und Europa zu betrachten. Dies kann, angesichts des kaum überschaubaren Umfangs dieser Thematik, nur in einem Überblick geschehen. Dennoch soll dieser Überblick zumindest die wesentlichen Leitlinien und Prinzipien des heutigen Asyl- und Aufenthaltsrechts in einen Bezug zu ihren historischen Wurzeln und Ursprüngen setzen.

Anders als das bürgerliche oder das Strafrecht ist das Recht der Migration ein vergleichsweise junges Rechtsgebiet. Lediglich im Rahmen des Bürgerrechts mittelalterlicher Städte entstand als Gegenstück zum Bewohner der Stadt mit Bürgerrechten quasi spiegelbildlich der „Fremde“, über dessen Rechte vor allem anhand der wirtschaftlichen Bedürfnisse der Stadt entschieden wurde.60 Darüber hinaus war jedoch ein überregionales systematisches61 „Fremdenrecht“ als Vorläufer des Regelungsregimes, welches wir heute unter dem Begriff des Migrationsrechts zusammenfassen können, in dieser Zeit nicht möglich. Eine Ordnung der Gesellschaft erfolgte bis in die Neuzeit über eine Zuordnung in der Ständegesellschaft und nicht über eine stringente Form von Staatsangehörigkeit.62 Erst das Ende des Dreißigjährigen Krieges schuf aus den vom Krieg zerstörten Herrschaftsgebieten von Adel und Klerus eine Art völkerrechtliches prä-staatliches Subjekt als Anknüpfungspunkt der herrschaftlichen Rechte im Verhältnis zwischen Kleinstaat und Reich.63 Im ganzen Gebiet des Reichs, insbesondere in Süddeutschland, war zudem mancher Landstrich um 2/3 entvölkert ←42 | 43→worden, sodass hier insbesondere wirtschaftliche Gesichtspunkte die Herrscher zu Maßnahmen der Immigrationspolitik zwangen. Zugleich brachte die Entstehung moderner Staatlichkeit den Merkantilismus als Grundmodell staatlicher Wirtschafts- und Finanzpolitik der damaligen Zeit hervor, welcher ein wesentlicher Faktor einer Migrationspolitik wurde, die unter dem Begriff der „Peuplierung“64 eine gezielte Ansiedelung von Menschen als wirtschaftliche Arbeitskräfte forcierte.65 Von einem systematischen Migrationsrecht, welches auch Mitwirkungspflichten und Sanktionen normiert, war das ökonomisch geprägte Migrationsregime jener Zeit aber noch weit entfernt.

Erst aufgrund der politischen Spannungen des ausgehenden 18. Jhd. etablierten sich in den linksrheinischen Gebieten des heutigen Deutschlands zunehmend eine strenge Visa- und Passpolitik nach französischem Vorbild.66 Zwar hatte es auch zuvor in Europa Versuche gegeben, ein System von legitimierenden Reisedokumenten einzuführen. Diese dienten aber bis dahin entweder dem Schutz des Reisenden, indem dieser sich mit einem hoheitlich beglaubigten Identitätspapier vor dem Misstrauen der einheimischen Bevölkerung schützen konnte, oder aber der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen der Monarchen, da diese durch die Vergabe von Reisedokumenten hofften, die Ein- und Ausreise von Arbeits- und Finanzkapital so besser kontrollieren zu können.67 Diese Pass- und Visumspflicht setzte sich als Ausdruck des staatlichen Misstrauens gegenüber „feindseligen Ausländern“ auch nach dem Ende der napoleonischen Ära fort.68 Bereits im juristischen Umgang mit Ausländern jener Zeit waren daher die ordnungs- und polizeirechtlichen Züge des Ausländerrechts deutlich erkennbar. Zugleich gewährten allerdings in der ersten Hälfte des 19. Jhd. viele deutsche Staaten wie Bayern, Baden, Württemberg und Hessen „jedem Einwohner“ grundlegende Rechte wie Sicherheit der Person und des Eigentums sowie Glaubens- und Gewissensfreiheit und näherten sich damit einer menschenrechtlichen (im Gegensatz zur staatsbürgerrechtlichen) Perspektive in ←43 | 44→ihren Landesverfassungen.69 Die Frankfurter Reichsverfassung von 1849 dagegen gewährte derlei Grundrechte nur „jedem Deutschen“, führte aber zugleich innerhalb der deutschen Staaten zu einer zunehmenden Liberalisierung der Migrationskontrolle innerhalb des Reiches.70 Im Zuge der Reichseinigung setzte sich diese Entwicklung fort. Art. 3 S. 1 der Verfassung des Deutschen Reichs von 1871 bestimmte „daß der Angehörige (Unterthan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaates in jedem anderen Bundesstaate als Inländer zu behandeln […] [ist].“.71 Art. 3 S. 3 nahm von diesem Grundsatz jedoch „diejenigen Bestimmungen, welche die Armenversorgung und die Aufnahme in den lokalen Gemeindeverband betreffen“ aus.72 Auch die Ausweisungspolitik dieser Zeit innerhalb des Deutschen Reichs wurde damit maßgeblich durch ökonomische Erwägungen der deutschen Staaten bestimmt.73 Die Verhaltenspflichten, die aus diesem System für Ausländer folgten, beinhalteten somit letztlich zwei Aspekte: Der Ausländer durfte keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen und gleichsam keine „wirtschaftliche Last“ für die Allgemeinheit.

Das frühe 20. Jhd. und die Weimarer Republik brachte zunächst für das Migrationsrecht keine wesentlichen Neuerungen mit sich.74 Im Jahr 1932, und damit im letzten Jahr vor der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, trat dann jedoch die auf die polizeiliche Generalklausel gestützte preußische Ausländerpolizeiverordnung in Kraft, welche als erstes Fachgesetz des Ausländerrechts gilt und erstmals weitreichende Regelungen zu Aufenthalt, Erwerbstätigkeit und Ausweisung von Ausländern enthielt.75 Diese normierte den bis dahin historisch gewachsenen Charakter des Ausländerrechts als Ordnungsrecht nun endgültig. Zwar führte diese Verfestigung der Migrationssteuerung im Verwaltungsrecht nicht zu subjektiven Aufenthaltsrechten der Ausländer im Sinne des heutigen Verwaltungsrechts, sondern normierte lediglich objektive tradierte Grundsätze der Migrationsverwaltung. Der Ausländer blieb aber auch in diesem neuen ←44 | 45→Regelungsregime Objekt und nicht Subjekt der Verwaltung.76 Für die Mitwirkungspflichten und Sanktionen hatte die Preußische Ausländerpolizeiverordnung dennoch zur Folge, dass das zuvor bestehende sehr weite Ermessen der Behörden, welche Handlungen des Ausländers „schädlich“ waren und daher sanktioniert werden durften, nun erst mal reguliert und eingegrenzt wurde.77 Gegen das vormalige „polizeistaatliche“ Ausländerrecht hatte es in der Literatur bereits kritische Stimmen gegeben.78

Die nationalsozialistische Diktatur passte 1938 mit der reichsweiten Ausländerpolizeiverordnung (AuslPolV) den Regelungsanspruch des Ausländerrechts an den nationalsozialistischen Zeitgeist an.79 Dies hatte die Beseitigung sämtlicher Ansätze eines erstmals rechtsstaatlich normierten Ausländerrechts zur Folge. Der Aufenthalt und das, was man dem Ausländer an Verhalten abverlangte, wurde nun vollständig der politischen Willkür des nationalsozialistischen Staates unterworfen. Diese Politik vollzog sich primär anhand der Generalklausel des § 1 der Ausländerpolizeiverordnung von 1938, wonach der Aufenthalt jenen Ausländern erlaubt sein sollte, die „nach ihrer Persönlichkeit und dem Zweck ihres Aufenthalts die Gewähr dafür bieten, daß sie der ihnen gewährten Gastfreundschaft würdig sind“. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, welche Merkmale der „Persönlichkeit“ oder des Verhaltens eines Ausländers im Nationalsozialismus zu einem unerwünschten Aufenthalt führten. Konkrete Anzeichen dafür finden sich bspw. in § 5 Abs. 1 lit. h) AuslPolVO 1938, wonach der Aufenthalt verboten werden kann, wenn der Ausländer „als Zigeuner oder nach Zigeunerart umherzieht“. Neben derlei rassistischen Sanktionsgründen findet sich aber auch bereits der Tatbestand der Täuschung über die Identität (§ 5 Abs. 1 lit. g)), damals freilich ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der „Rasse“. Als Sanktionsinstrumente enthielt die AuslPolVO 1938 neben der Ausweisung ←45 | 46→und Abschiebung auch bereits Straftatbestände für den illegalen Aufenthalt im Reichsgebiet.

Trotz der deutlichen Elemente nationalsozialistischen Gedankenguts in der AuslPolVO hielt die junge Bundesrepublik zunächst an diesem Regelungsregime fest, wenngleich dieses nun unter den Vorgaben des Grundgesetzes stand und damit das Migrationsrecht erstmals in der Geschichte80 „in den Bannkreis eines rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts“81 gelangte. Erst 1965 wurde die AuslPolV durch das Ausländergesetz (AuslG) abgelöst.82 Dieses entwickelte die ordnungsrechtliche Zielrichtung der AuslPolVO fort, differenzierte sie weiter aus und schuf mit § 70 AuslG nun auch eine verfahrensrechtliche „Mitwirkungsgeneralklausel“, wonach der Ausländer die für seinen Aufenthalt notwendigen Informationen und Umstände unverzüglich geltend zu machen hat. Auch enthielt das AuslG bereits einen umfangreichen Katalog an Pflichten bei der Mitwirkung der Identitätsklärung und der Kontrolle über den räumlichen Aufenthalt (Dritter Abschnitt, §§ 36–41a AuslG). Zugleich enthielt das AuslG aber auch erstmals die Möglichkeit eines subjektiven Anspruchs auf die Erteilung eines Aufenthaltsrechts (§ 6 AuslG).

Dieser Paradigmenwechsel weg von einem Aufenthaltsrecht allein im Wege des behördlichen Ermessens und hin zu einer stärkeren Würdigung der Interessen der Ausländer bildete sich in der Bundesrepublik auch in der Entstehung des Asylgrundrechts ab. Die Erfahrungen der Deutschen insbesondere im Zweiten Weltkrieg führten zu der Erkenntnis, dass von ihrem eigenen Staat verfolgten Minderheiten nur Schutz finden könne, wenn sich andere Staaten zur Aufnahme bereit erklären.83 Folge dieser Erkenntnis war die konstitutionelle Normierung des Asylgrundrechts in Art. 16 GG. Diese Sichtweise eines humanitär motivierten Aufenthaltsrechts war dem deutschen Verfassungsrecht bis dahin weitestgehend fremd geblieben.84 Zuvor hatte zwar bereits der Erste Weltkrieg und ←46 | 47→mit ihm die Fluchtbewegungen ethnischer Minderheiten ein völkerrechtliches Bewusstsein für das Phänomen der politischen Flüchtlinge geschaffen.85 Ein eigener Verfassungsartikel für ein Recht auf Asyl war dennoch eine wesentliche Neuerung, auch wenn dieser in den ersten Nachkriegsjahren ein „unbeachtetes Schattendasein“86 führte. Erst die Fluchtbewegungen aus dem sowjetisch dominierten Ostblock im Zuge dortiger politischer Unterdrückung (z.B. des „Prager Frühlings“ 1968) führten zu einem Anstieg der Asylbewerberzahlen insbesondere in den 1960er- und 1980er-Jahren.87 Diese Entwicklungen mündeten 1982 mit dem Asylverfahrensgesetz (AsylVerfG) im gesetzgeberischen Versuch einer effizienteren verwaltungstechnischen Steuerung der Asylmigration und insbesondere einer Bekämpfung der missbräuchlichen Inanspruchnahme des Asylverfahrens.88 Das AsylVerfG normierte im Sinne einer effektiven Verfahrensdurchführung auch ausdrücklich die Mitwirkung des Antragstellers, indem dieser bspw. Auskünfte über sein Verfolgungsschicksal erteilen (§ 12 Abs. 1 S. 3 AsylVerfG v. 16.07.1982) oder seinen Pass aushändigen muss (§ 26 AsylVerfG v. 16.07.1982). 1993 führte der sogenannte Asylkompromiss dann zu einer derart weitreichenden Beschneidung des Anwendungsbereichs des Art. 16 GG, dass dies ein stetiges Absinken der Antragszahlen im Laufe der 1990er-Jahre zur Folge hatte. Der Gesetzgeber konnte auf diese Weise, indem er die Anzahl der Verfahren insgesamt reduzierte, gleichsam den Reformdruck innerhalb des Asylverfahrensrechts reduzieren.

Anfang der 2000er-Jahre nahm unter der rot-grünen Koalition dafür die reguläre Migration aus Drittstaaten wieder liberalere89 Züge an, was 2005 schließlich zur Aufhebung des Ausländer- und zur Einführung des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) führte.90 In diesem „bekennt sich der Gesetzgeber zur Steuerung der Migration nach Deutschland u. damit zu einer kontrollierten Öffnung für neue ←47 | 48→Einwanderung“.91 Diese Öffnung steht jedoch unter dem Primat der Interessen der Bundesrepublik, sodass sich das Aufenthaltsgesetz keineswegs als „Magna Charta der Staatsfremden“92 präsentiert, sondern ein strukturelles Spannungsverhältnis zwischen staatlich-ökonomischen und menschenrechtlich-individualistischen Interessen konstruiert. Den ordnungsrechtlichen Charakter hat das Aufenthaltsrecht durch diese Transformation daher insgesamt nicht verloren, auch da das AufenthG den grundlegenden Regelungsmechanismus des Verbots mit (Aufenthalts-)Erlaubnisvorbehalt beibehalten hat.93 Die bis dato entwickelten Mitwirkungspflichten und Sanktionen haben sich folglich auch im AufenthG erhalten.

Neben dem Aufenthaltsgesetz ist die jüngere Entwicklung des Migrationsrechts vor allem von einer starken Europäisierung geprägt. Die aus Art. 67 Abs. 2 AEUV entwickelte „gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrolle an den Außengrenzen“ hat insgesamt im Bereich des Flüchtlingsrechts zu einer stetigen Verbesserung der rechtlichen Situation von Asylbewerbern geführt.94 So wurden etwa durch die Asylverfahrensrichtlinie einheitliche europäische Mindeststandards geschaffen und damit auch Garantien auf Rechtsschutz und ein Verfahren in einer Sprache, die der Asylbewerber versteht, sowie ein Verbot der Ablehnung des Asylantrags, weil dieser verspätet gestellt wurde.95 Zugleich hat der deutsche Gesetzgeber aber auf die stark gestiegenen Asylbewerberzahlen der jüngeren Zeit (insbesondere 2015 und 2016) mit der Einführung neuer Mitwirkungspflichten und Sanktionen reagiert.96 Innerhalb des unionsrechtlich überwölbten Migrationsrechts unterliegen Gesetzgeber und Verwaltung daher heute nicht mehr nur den Grenzen der deutschen Grundrechte, sondern gleichsam auch des Europarechts.97

Abschließend lässt sich festhalten, dass die Ausländern abverlangten Pflichten und Verhaltensweisen bis weit hinein in das 20. Jhd. hauptsächlich von Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen des Staates geprägt waren.98 Diese beiden ←48 | 49→grundsätzlichen Pole finden sich auch heute noch im Migrationsrecht wieder, bei dem vor allem die reguläre Migration (gesteuert durch das Aufenthaltsgesetz) wirtschaftlich erwünschten Ausländern eine stetig verbesserte Rechtsstellung zuspricht.99 Ein entscheidender Schritt für diese Entwicklung war die Anerkennung der Grundrechtsbindung des Staates auch im Umgang mit Ausländern durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung.100 Parallel zu dieser wesentlichen Einschränkung der Souveränität des Staates etablierten sich weitere rechtliche Zugeständnisse, zu Beginn vor allem im Arbeits- und Sozialrecht.101 Dementsprechend war es dann auch der faktisch dauerhafte Aufenthalt der „Gastarbeiter“ und ihrer Familien, welcher den Gesetzgeber 1978 erstmals zur Einführung von Daueraufenthaltstiteln bewegte.102 Hier zeigt sich, dass die Dominanz ökonomischer Aspekte im Migrationsrecht nicht nur den Interessen des Staates dient, sondern letztlich auch zur Verbesserung der individuellen Rechtsstellung von Zuwanderern führen kann.103 Doch auch wenn das heutige Migrationsrecht durch die Anerkennung der Subjektstellung von Ausländern wesentliche Anteile seiner polizeistaatlichen Eigenschaften verloren hat, so verkörpern doch gerade die zahlreichen Pflichten der Ausländer im Recht und deren Durchsetzung mittels Sanktionen das Ergebnis eines Steuerungskonzepts, welches immer noch vielfach mit Befehl und Zwang operiert, sodass das ordnungsrechtliche Erbe dieses Rechtsgebiets nicht verleugnet werden kann.

III. Asyl- und Aufenthaltsrecht als Teil des Verwaltungsrechts

1. Asyl- und Aufenthaltsrecht und die Grundmodi der Verwaltung

Neben den politischen und historischen Hintergründen ist aber auch der verwaltungstechnische Charakter des Migrationsrechts und damit die Frage nach seiner grundlegenden Einordnung im Rahmen der Verwaltung für das Verständnis der Bedeutung von Mitwirkungspflichten und Sanktionen wesentlich. Hierzu hat ←49 | 50→die Forschung in der Vergangenheit verschiedene Grundmodi herausgearbeitet.104 In deren Licht kann das Aufenthaltsrecht wiederum besser systematisiert und verstanden werden. Klassische Typen der hoheitlichen Verwaltung sind demgemäß die ordnende, die Leistungs- und die Gewährleistungsverwaltung.105

a) Die ordnende Verwaltung

Die ordnende Verwaltung zeichnet sich, vereinfacht ausgedrückt, durch die Wahrnehmung der ursprünglichsten Aufgaben staatlicher Gewalt aus; dem Schutz grundrechtlicher Abwehrpositionen Privater (allen voran Leben und Eigentum) gegenüber der Gewalt des vorgesellschaftlichen Naturzustands.106 Da der Staat insofern als Monopolinhaber der (physischen) Gewalt agiert, ist es nur folgerichtig, dass in diesem ursprünglichsten aller Verwaltungsbereiche die primäre Handlungsstruktur von einer klassisch-hoheitlichen Rollenverteilung geprägt ist, in der ein durch Macht übergeordneter Staat eine durch Machtverzicht untergeordnete Gesellschaft kontrolliert und durch Ge- und Verbot steuert. Dieses Grundmodell ist zunächst sehr auf die individuelle Interaktion des Staates mit dem Bürger ausgerichtet. Daraus folgen zum einen ein teilweise „verengter“ Blick auf den jeweiligen individuellen Sachverhalt und zum anderen ein eher reaktiver Charakter des Rechts, welches gerade im Bereich der Gefahrenabwehr Einzelfälle als mögliche Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung entsprechend steuert.107 Jedoch hat sich auch die ordnende Verwaltung im Lauf der Zeit weiterentwickelt und insbesondere im Bereich der Gefahrenabwehr in Gestalt der sogenannten „Risikoverwaltung“ präventive Ergänzungen erfahren.108

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b) Die Leistungsverwaltung

Die Leistungsverwaltung stellt demgegenüber vor allem ein System der Gewährung von Ressourcen durch den Staat dar. Vereinfacht ausgedrückt geht es also – im Unterschied zur Ordnungsverwaltung – nicht um primär in grundrechtliche Freiheiten eingreifendes Handeln des Staates, sondern um die Gewährung eines „Mehr“ an Rechtspositionen, hauptsächlich in Form von materiellen oder immateriellen Gütern. Darunter fallen als „Klassiker“ etwa die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge sowie die Leistungen der sozialen Sicherheit.109 Dies darf freilich nicht zu dem Missverständnis führen, ein rechtswidriges Nichtgewähren sozialer Leistungen sei kein Eingriff (etwa in das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum110). Jedoch macht es rechtsdogmatisch gerade vor dem Hintergrund des Konzepts der Grundrechte vorrangig als Abwehrrechte111 dennoch einen wesentlichen Unterschied, ob Verwaltung aktiv eingreifend oder passiv unterlassend den Schutzbereich eines Grundrechts berührt.

c) Die Gewährleistungsverwaltung

Diesem gegensätzlichen Verhältnis von Ordnungs- und Leistungsverwaltung entzieht sich der dritte, relativ junge Grundmodus der Gewährleistungsverwaltung. Dieser hat insofern Auffangcharakter, als dass er diejenigen Verwaltungsvorgänge umfasst, welche „Ordnungs- und Leistungsverwaltung überschreiten“112.113 Grundlegend charakteristisch ist zudem der präventive und vorbeugende Aspekt der Gewährleistungsverwaltung. Diese schafft durch eine Regulierung typischer Gefahrenfelder (wie etwa der Finanz- oder ähnlicher Märkte) bereits eine geregelte Basis der Handlungsfelder von Privaten, sodass die Ordnungsverwaltung mit ihren Eingriffsinstrumenten nur noch punktuell einschreiten bzw. die Leistungsverwaltung durch Gewähr von Leistungen nur ←51 | 52→noch punktuell korrigierend eingreifen muss.114 Typische Anwendungsfelder in diesem Sinne sind zum einen die bereits angesprochene Verwaltung und Regulierung von Märkten und anderen wirtschaftlichen Betätigungsfeldern115, zum anderen aber auch infrastrukturelle Felder wie das Bauplanungsrecht.116 Ebenfalls ein wichtiger Aspekt der Gewährleistungsverwaltung ist die Kooperation von Staat und Privaten (oftmals Unternehmen) zur vorausschauenden und kooperativen Regulierung der jeweiligen Tätigkeitsfelder.117

d) Einordnung des Asyl- und Aufenthaltsrechts

Das Asyl- und Aufenthaltsrecht, sowie das Migrationsrecht im Allgemeinen, in diesen verwaltungstypisierenden Dreiklang entsprechend einzuordnen, ist aufgrund der Vielfalt seiner Aufgaben und der Vielgestaltigkeit seiner Mittel nicht einfach. Thym hat das Migrationsrecht insgesamt als „Grundmodell hoheitlich-imperativer Aufgabenwahrnehmung“ bezeichnet.118 Er begründet dies zum einen mit dem imperativen Befehlsinstrumentarium der Ausländerverwaltung gegenüber dem Ausländer, welches er im Kontrast zu einem kooperativen Aushandlungsverhältnis von Bürger und Staat sieht.119 Zum anderen führt er aber auf der Ebene der dahinterstehenden grundsätzlichen Konzeption die eigentliche Systematik des Aufenthaltsrechts an: das Verbot mit Genehmigungsvorbehalt.120 Demnach ist der Aufenthaltstitel als Dreh- und Angelpunkt des rechtmäßigen Aufenthalts ein hoheitlicher Einzelakt und demnach Ausdruck der hoheitlich-imperativen Verwaltung. Dem ist zunächst zuzustimmen, insbesondere im Hinblick auf den hoheitlich-imperativen Charakter des Aufenthaltstitels, welcher im Verwaltungsverfahren typischerweise durch einseitige Ermessensentscheidung der Behörde zustande kommt und nicht durch einen kooperativen Aushandlungsprozess mit dem Ausländer selbst. Darin spiegelt sich auch die nach wie vor nur punktuell angetastete Souveränität des Staates über die Frage, wer einreisen ←52 | 53→und sich im Staatsgebiet aufhalten darf und wer nicht.121 Allerdings folgt die Verfahrenssystematik des Aufenthaltstitels nicht dem Modell einer generellen Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt, den die eingreifende Ordnungsverwaltung umsetzt. Denn ein Ausländer darf sich nicht grundsätzlich im Land aufhalten und wird nur ggf. durch eine eingreifende Ordnungsverwaltung des Landes verwiesen und abgeschoben.122 Vielmehr benötigt er aus dem generellen Verbot des Aufenthalts heraus eine Erlaubnis in Form eines Aufenthaltstitels. Worum es bei der Entscheidung über diesen also geht, ist letztlich die Frage, ob dem Ausländer ein „Mehr“ an Rechten in Gestalt des Rechts auf Einreise und Aufenthalt zusteht. Die Gewährung von Aufenthaltsrechten entspricht systematisch somit eher der Leistungs- als der Eingriffsverwaltung. So ist gemeinsames Merkmal der Leistungsverwaltung die Gewähr von „Teilhabe“ an den einzelnen Bürger.123 Nach herkömmlichem Verständnis meint Teilhabe zwar die Teilhabe an gemeinschaftlichen Gütern der öffentlichen Daseinsvorsorge und der sozialen (Geld-)Leistungen.124 Jedoch besteht in dieser Hinsicht kein struktureller Unterschied zwischen der Gewähr einer Rechtsposition an öffentlichen Gütern und der Gewähr eines Aufenthaltsrechts. Beides sind Rechtspositionen, die weitestgehend zur Disposition der öffentlichen Gemeinschaft stehen, und die somit durch eine Regelung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zu verteilen sind. Und auch für das Verwaltungsverfahren in der Praxis zeigen sich interessante Parallelen.125 So zeichnet sich das sozialverwaltungsrechtliche Verfahren durch eine Disharmonie zwischen der standardisierten, auf die Verwaltung als „Gravitationszentrum“ ausgerichteten Massenverwaltung und der oftmals tiefgreifenden und existenziellen Abhängigkeit des Bürgers von den sozialen Leistungen aus, woraus eine gewisse Distanz der Verwaltung zum Bürger folgt.126 ←53 | 54→Ähnliche Konstellationen finden sich im Asyl- und Aufenthaltsrecht. Auch dort folgt die Verwaltung standardisierten Prüfungsmustern anhand klar definierter übergeordneter Kriterien, während auf der Seite des Ausländers nicht selten eine existenzielle Abhängigkeit vom positiven Ausgang des Verfahrens besteht. Aus diesem Machtgefälle resultiert dann oftmals eine „Atmosphäre des wechselseitigen Misstrauens“,127 welche ebenfalls Ausdruck einer Distanz zwischen Ausländer und Behörde ist. Dieser Entwicklung versuchen die verantwortlichen Stellen, jedenfalls im Bereich der Asylverwaltung, durch eine Sensibilisierung der Mitarbeiter für das eigene Auftreten im Kontakt mit den Antragstellern und eine entsprechende Anregung zur Selbstreflexion zu begegnen.128 Gleichwohl können derlei Strategien die grundlegende soziale Dynamik eines ausländerrechtlichen Verwaltungsverfahrens nicht auflösen. Der beteiligte Ausländer bleibt im Ergebnis meist Adressat einer Entscheidung, von deren Ausgang er in höchstem Maße abhängig ist. Eine mögliche Verstärkung kann diese Konstellation noch durch die Stellung des bearbeitenden Beamten im Zentrum des Verfahrens erfahren. So trifft, jedenfalls im Bereich der Asylverfahren, der entscheidende Beamte (auch schlicht „Entscheider“ genannt) allein die Entscheidung über den Ausgang des Verfahrens und trägt dafür auch die Verantwortung. Eine innerbehördliche Anhörung oder Entscheidungsfindung im Team ist nicht vorgesehen.129 Somit personifiziert sich die Abhängigkeit des Ausländers von der Macht der entscheidenden Behörde in besonders starker Weise. Diese Abhängigkeit führt zwangsläufig zu einer Anpassungsstrategie, bei der der Ausländer versucht, sein Verhalten und insbesondere seine Antworten auf Fragen an die Erwartungshaltung des prüfenden Entscheiders anzupassen.130 Diese soziale Dynamik des ausländerrechtlichen Verfahrens ist derart wirkmächtig, dass der Ausländer unter Umständen auch in späteren Gesprächssituationen außerhalb der Verwaltung in die dort entwickelten Erklärungs- und Rechtfertigungsmuster zurückfällt.131

Für die Einordnung der aufenthaltsrechtlichen Verwaltung in das Koordinatensystem der verwaltungsrechtlichen Grundmodi ergibt sich aus diesen Befunden ein gemischtes Bild. Insgesamt lässt sich das Aufenthaltsrecht trotz seiner individuellen Besonderheiten aber wohl dem Grunde nach der klassischen Ordnungsverwaltung zuordnen, was zum einen in seiner historischen Verwurzelung ←54 | 55→im Polizeirecht132 und zum anderen in seiner imperativ-individuellen Funktionsweise begründet liegt.133 Jedoch weißt das Aufenthalts-, und insbesondere das Asylrecht, in der Konzeption seiner Verfahren deutliche Parallelen zu den Verwaltungsverfahren der Leistungs- und dort speziell der Sozialverwaltung auf. Seine Ähnlichkeit mit der Leistungsverwaltung ist allerdings vor allem der Betrachtung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt als zu vergebender staatlicher Ressource geschuldet. Diese Ressource ist bei genauerem Blick jedoch nicht mit den sonstigen, meist materiellen Gütern der Leistungsverwaltung vergleichbar. Aus der Perspektive des Ausländers mag es sich also um die Vergabe einer für ihn wertvollen Ressource handeln, von der er nicht selten abhängig ist. Aus Sicht des agierenden Staates geht es jedoch vorrangig um die Eindämmung potenzieller Gefahrenquellen durch Zuwanderung bzw. um die wirtschaftlichen Vorteile, die sich aus Zuwanderung ergeben können.134 Diese Interessenlage des Staates wird nur partiell im Asylrecht durchbrochen, wenn es um die Gewährung humanitären Schutzes geht. Hier bestehen durchaus Aspekte der Leistungsverwaltung. Doch sobald klar ist, dass ein Antragsteller keinen Anspruch auf Schutz hat und sein Asylantrag abgelehnt wird, „kippt“ das Verfahren mit der Aufenthaltsbeendigung wieder in Richtung des Ordnungsrechts. Seine traditionelle Verankerung im hoheitlich agierenden Ordnungsrecht konnte das Asyl- und Aufenthaltsrecht daher insgesamt nie verlieren. Trotz kooperativer Ansätze, gerade auch im sich entwickelnden Integrationsverwaltungsrecht, bleibt das Aufenthaltsrecht daher letztlich ein Rechtsgebiet der ordnenden hoheitlichen Verwaltung.135 Dazu trägt auch der Umstand bei, dass der faktische Aufenthalt von Ausländern (nicht das Aufenthaltsrecht) dogmatisch betrachtet einen Bruch des tradierten Dualismus zwischen Eingriffs- und Leistungsverwaltung darstellt. Denn der Ausländer, welcher sich schlicht faktisch im Hoheitsgebiet aufhält, hält sich gem. § 4 Abs. 1 AufenthG zunächst rechtswidrig auf. Er kann daher von den Behörden grundsätzlich ausgewiesen und abgeschoben werden. Bei einer Abschiebung handelt es sich um einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG, da auch ein Ausländer ohne Aufenthaltsrecht dennoch Grundrechtsträger ist.136 ←55 | 56→Vor einem solchen Eingriff der ordnenden Verwaltung schützt ihn nur ein Aufenthaltstitel als begünstigender Verwaltungsakt der Leistungsverwaltung. Diese Systematik des Ordnungsrechts, bei der ein begünstigender Verwaltungsakt als Schutzschranke vor staatlichen Eingriffen fungiert, findet sich auch in anderen Bereichen des besonderen Verwaltungsrechts, so z.B. im Baurecht, wo ein ohne begünstigende Baugenehmigung errichtetes Gebäude von der Bauordnungsverwaltung beseitigt werden kann. Gleiches gilt für das Waffenrecht, wo vor dem Entzug des Waffenbesitzes nur eine waffenrechtliche Erlaubnis schützt.137 Letztlich ist also auch eine Aufenthaltserlaubnis nur ein Sicherungsmechanismus für den Ausländer innerhalb der eingreifend regelnden Ordnungsverwaltung des Ausländerrechts, auch wenn es sich aus seiner Perspektive als Gewähr einer Ressource darstellt.

Auch die Mitwirkungspflichten und Sanktionen fügen sich in diesen Befund des Aufenthaltsrechts als Ordnungsrecht mit leistungsrechtlichen Elementen ein. Denn zum einen verkörpern Mitwirkungspflichten in ihrer Ausprägung als Ge- und Verbote klassische Instrumente der Ordnungsverwaltung. Zum anderen dienen aber gerade die Mitwirkungspflichten im asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verwaltungsverfahren auch der Gewährung von Aufenthaltsrechten. Nur wenn durch die Mitwirkung des Ausländers sein Sachverhalt geklärt wird, kann der Staat ihm letztlich ein Aufenthaltsrecht zusprechen. Damit sind Mitwirkungspflichten im Ergebnis auch Teil einer migrationsrechtlichen Leistungsverwaltung, die über die Gewährung von Aufenthaltsrechten zu entscheiden hat.

2. Der Steuerungsansatz und die neue Verwaltungsrechtswissenschaft: Eine Chance für das Asyl- und Aufenthaltsrecht?

Die Betrachtung des aufenthaltsrechtlichen Verwaltungsverfahrens soll nicht im methodisch entleerten Raum stattfinden. Hier kann ein Blick aus dem Referenzgebiet des Aufenthaltsrechts heraus und damit auch eine Rückbesinnung auf das allgemeine Verwaltungsrecht weiterhelfen.138 So findet sich in der jüngeren allgemeinen Verwaltungsrechtswissenschaft eine stark ausgeprägte Diskussion über neue Ansätze der Untersuchung von Verwaltung in Form der sogenannten ←56 | 57→Steuerungsdiskussion.139 Dieser Ansatz grenzt sich vor allem von der „klassischen“ sogenannten Juristischen Methode ab, welche sich durch eine strikte Innenansicht des Rechts auszeichnet und damit politische und gesellschaftliche Kontextualisierungen des Rechts weitgehend ausblendet ebenso wie sozialwissenschaftliche Empirie.140 Dagegen setzt die „neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ und mit ihr der erwähnte Steuerungsansatz bei einer ganzheitlichen Betrachtung von Verwaltung an. Wesentlich ist dabei vor allem der Perspektivwechsel weg von einer auf den Rechtsakt ausgerichteten Perspektive des Verwaltungsrichters,141 und damit den Kategorien „rechtmäßig“ und „rechtswidrig“,142 hin zu einer aufgabenorientierten Perspektive der Verwaltung selbst.143 So formuliert Schmidt-Assmann für diesen Ansatz als Prämisse „alles Recht zielt auf Wirksamkeit“.144 Dementsprechend kommt es bei der Untersuchung des Verwaltungsrechts darauf an, wie die Verwaltung als steuernder Akteur die Wirksamkeit gesetzlicher Vorgaben im System des Rechts erreicht bzw. erreichen kann. Dazu reicht es nicht aus, sich auf das althergebrachte Instrumentarium der Juristischen Methode, also auf imperative Ge- und Verbote eines rein hoheitlich handelnden Staates als Grundmodell145, zu beschränken. Vielmehr müssen ergänzend auch „informelle“ Instrumente wie etwa Anreize oder Warnungen sowie der gezielte Einsatz von Informationen oder materiellen Ressourcen in den Blick genommen werden.146

Darüber hinaus existieren aber auch weitergehende Definitionen des Begriffs der Steuerung.147 So unterscheidet Bast zwischen einem funktionalistischen und einem pluralistischen Steuerungsverständnis. Ersteres zeichnet sich dabei vor allem durch eine sehr technische Perspektive auf die Steuerung staatlicher Aufgaben aus, was wiederum auf dem Grundverständnis basiert, Steuerung sei letztlich nur die Ausführung der notwendigen Schritte im Sinne einer objektiv ←57 | 58→vernünftigen (oftmals ökonomisch begründeten) Staatslenkung.148 Dagegen bezieht der pluralistische Steuerungsbegriff explizit auch die politische und gesellschaftliche Dynamik des Themas Migration in seine Steuerungsperspektive mit ein149 ebenso wie die Erkenntnis faktischer Beschränkung steuerungstechnischer Kompetenz des Staates.150 Der daraus resultierende Steuerungsbegriff bringt den großen Vorteil einer umsichtigen und in gewissem Sinne auch „demütigen“ Perspektive mit sich, welcher insoweit die komplexen Herausforderungen von Migration als staatlicher Aufgabe anerkennt.151 Konsequenz daraus ist auch, dass die Verwaltungsrechtswissenschaft sich nicht mehr auf eine stoische Untersuchung der Dogmatik des positiven Rechts beschränkt, sondern im Lichte sozialwissenschaftlich fundierter Realitäten auch eine De-lege-ferenda-Perspektive einnimmt.152 Folglich muss die Frage nach der „Zweckmäßigkeit“ von Entscheidungen und damit der realen Wirkung von Normen in diesem Zusammenhang erlaubt sein.153

Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit, welche nach der Funktionsweise und dem Zweck von Mitwirkungspflichten und Sanktionen fragt, ist eine Beachtung der sozialen und politischen Begleitfaktoren ohne Zweifel wesentlich. So mag der Fokus auf das Verwaltungsrecht als Steuerungsinstrument von Migration zunächst als sehr technische Perspektive erscheinen. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die damit verbundenen Fragen von zahlreichen Begleitfaktoren außerhalb des Rechts abhängen. Für die Beantwortung der dazu notwendigen Fragen können der Steuerungsansatz und auch die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft154 als übergeordnetes Reformmodell insgesamt, einen möglichen Beitrag liefern. Denn ihr wichtigstes Anliegen ist es, die Untersuchung verwaltungsrechtlicher Vorgänge zum einen nicht nur unter der Prämisse des rein hoheitlich agierenden Staates vorzunehmen, zum anderen aber den Blick auch über die Vielseitigkeit der involvierten Stellen und Akteure schweifen ←58 | 59→zu lassen.155 Dies ist gerade für die Mitwirkungspflichten ein wichtiger Aspekt, da sie den Ausländer selbst als handelndes Subjekt in den Mittelpunkt einer Regelung stellen. Es kommt hier folglich nicht nur auf die Perspektive des steuernden Staates an, sondern auch auf die des Ausländers selbst: Was sind seine Interessen im Verfahren? Vor welche Entscheidungsprozesse und -dilemmata sieht er sich gestellt?156 Und können Mitwirkungspflichten abhängig davon ihre Steuerungsfunktion effektiv erfüllen? Dies sind Fragen, welche ein erweiterter Blick abseits des klassischen Fokus auf die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns aufwirft.

Die Mitwirkungspflichten und Sanktionen des Asyl- und Aufenthaltsrechts sind im Lichte der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft und des pluralistischen Steuerungsansatzes betrachtet daher mehr als das bloße Rechtsverhältnis zwischen Ausländer und Staat. Vielmehr geht es dabei auch um soziale Dynamiken, um rechtspolitische Zielsetzungen und Demonstrationen und das Verwaltungsrecht als Werkzeug des Staates zur Migrationssteuerung. Hier zeigt sich, gerade in jüngerer Zeit, ein Spannungsverhältnis zwischen der vom Gesetzgeber konzipierten Form der Migrationssteuerung und der faktischen Realität der globalen Migrationsbewegungen.157 So ist nach der Konzeption des AufenthG und ausweislich seines Gesetzeszwecks in § 1 AufenthG die Zuwanderung primär eine Angelegenheit geplanter Steuerung.158 In diesem System bildet die aus humanitären Gründen notwendige und insofern gerade nicht zur individuellen Disposition des Staates gestellte Zuwanderung ausdrücklich die Ausnahme.159 Dies steht jedoch quantitativ in einem deutlichen Widerspruch zur faktischen Realität, in der allein 2015 von 1,14 Mio. Zuwanderern 890.000 Asylbewerber waren.160 Bedenkt man nun, dass ein wesentlicher Topos, welcher das Konzept der „Steuerung und Begrenzung“ der Zuwanderung begleitet, jener der Kontrolle ist, so liegt der rechtspolitische Druck, der sich aus dem Widerspruch von Theorie und Praxis ergibt, auf der Hand. Den handelnden politischen Akteuren stellt sich eine Einwanderung entgegen dem Konzept des Aufenthaltsrechts ←59 | 60→als Kontrollverlust des Staates dar, den es zu beheben gilt.161 Dabei wird jedoch die Komplexität und Vielschichtigkeit des Themas nur unzureichend beachtet. Vieles spricht dafür, dass ein Steuerungsanspruch des Staates im Bereich der Migration, der sich als hocheffizientes, lückenloses und allumfassendes Regelungssystem versteht, a priori zum Scheitern verurteilt ist, da er eine derart hohe Erwartung an die Steuerungsleistung des Rechts weckt, welche auch die effizienteste Verwaltung nicht erfüllen kann.162 Jedoch können staatliche Steuerungsmaßnahmen über ihre direkte Steuerungs- und Begrenzungsleistung hinaus Wirkung entfalten, etwa indem sie als symbolische rechtspolitische Akte über den öffentlichen Diskurs Einfluss auf Migrationsentscheidungen von Migranten nehmen.163 Aus diesem Kontext heraus erklären sich möglicherweise einige der Maßnahmen des Gesetzgebers, durch welche die Steuerungsleistung im Bereich der Migration und damit die Kontrolle der Zuwanderung verbessert werden soll, die aber auf den ersten Blick keine unmittelbare Wirkung entfalten, und eher als „Symbolgesetzgebung“ erscheinen.

Für das Thema der vorliegenden Arbeit ist der Konflikt zwischen der Konzeption des Rechts und faktischer Praxis, dessen Resultat der allseits bekannte rechtspolitische Druck nach mehr Kontrolle (aber auch nach schnelleren Verfahren164) ist, ein wichtiger Aspekt. Eine Perspektive, die abseits des starren Blicks auf Rechtsnormen auch danach fragt, innerhalb welcher faktischer oder politischer Grenzen sich die Steuerung von Migration bewegt, kann daher zu einem besseren Verständnis der Herausforderungen beitragen, die der Gesetzgeber de lege lata durch Mitwirkungspflichten und Sanktionen zu lösen gedenkt.

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3. Zur Bedeutung des formellen Verfahrens für das materielle Migrationsrecht

Mitwirkungspflichten und Sanktionen sind Bestandteile des formellen Verfahrens zur Umsetzung migrationsrechtlicher Vorgaben. Sie dienen damit aber zugleich dem materiellen Migrationsrecht. Denn begreift man das Verwaltungsverfahren als Prüfung, ob und wenn ja, welche Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt vorliegen, so erfüllt der Staat damit zugleich auch seine Pflicht, vor der Beendigung eines Aufenthalts den Betroffenen Gehör zu verschaffen. Dies gilt insbesondere für das asylrechtliche Verfahren. Denn zu den völker- und menschenrechtlichen Pflichten des Asylrechts gehört jedenfalls das Verbot einen Menschen „sehenden Auges“ an einen Ort zurückzuschicken, an dem ihm schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen drohen (Non-Refoulement-Gebot). Dieser Grundsatz ist unter anderem in Art. 3 EMRK normiert und beinhaltet die Pflicht eines Staates, eine Person nicht in ein Gebiet zurückzuverbringen, in dem ihm Folter, Tod oder unmenschliche Behandlung droht.165 Hierbei handelt es sich um eine materielle Vorgabe des Völkerrechts. Darüber hinaus ist ein Verfahren aber auch zur Erfüllung organisationsrechtlicher Fragen im Unionsrecht notwendig. So sieht das gemeinsame europäische Asylsystem ein System klar geregelter Kriterien für die Verteilung von Asylsuchenden vor (Art. 3 Abs. 1, 2; Art. 7 ff. Dublin-III-VO). Neben der Frage, in welchem Staat der Asylsuchende zuerst den Boden der EU betreten hat, ist für die Zuständigkeit unter anderem auch entscheidend, ob der Antragsteller in einem Mitgliedstaat Verwandte hat oder ob er minderjährig ist.166 Diese Regelungen enthalten aber über ihren organisatorischen Charakter zwischen den EU-Mitgliedstaaten hinaus auch subjektive Rechte für Asylsuchende.167 Diese können einen individuellen Anspruch geltend machen, dass ihr Antrag in dem Mitgliedstaat bearbeitet wird, den die Kriterien der Dublin-III-VO vorsehen.168 So wirken bspw. Überstellungsfristen, anhand derer sich die Zuständigkeit eines EU-Mitgliedstaates für das Asylverfahren entscheidet, nicht nur zwischen den beteiligten Staaten.169 ←61 | 62→Vielmehr kann sich auch ein Asylbewerber selbst unmittelbar auf diese Regeln als subjektives Recht berufen.170 Dieser subjektiv-materielle Gehalt formeller Verfahrensregeln bedeutet in der Konsequenz auch, dass Mitgliedstaaten der EU Asylbewerber nicht einfach an der (Binnen-)Grenze zurückweisen können. Vielmehr müssen sie zuvor in einem Verfahren die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates aktiv prüfen und geltend machen.

a) Verfahren als subjektives Recht

Der Zugang zu einem Verfahren ist daher kein bloßes „Gnadenrecht“, welches die Unterzeichnerstaaten der EMRK und die Mitgliedstaaten der EU gewähren können. Vielmehr handelt es sich um eine zwingende Folge des Non-Refoulement-Gebots und der verfahrensrechtlichen Anforderungen des Unionsrechts. Um diesen Rechten in der Praxis Wirksamkeit zu verschaffen, bedarf es einer formellen Prüfung. An dieser Stelle setzt die Bedeutung des Verwaltungsverfahrens ein. Das Verfahren ist damit auch essentieller Bestandteil der grundlegenden menschenrechtlichen Wertung, schutzsuchenden Nichtstaatsangehörigen Rechte zu gewähren. Das materielle „Recht, Rechte zu haben“171 wird erst vollständig durch ein formelles „Recht, Rechte geltend machen zu können“. Auf die staatlichen Steuerungsmöglichkeiten von Migration gemünzt, bedeutet dies: Erst durch eine Prüfung, ob dem Antragsteller durch die Rückführung eine subjektive Rechtsverletzung droht, kann der Staat sich die notwendige Legitimation verschaffen, Personen zurückzuführen und damit seine Steuerungskompetenz rechtskonform ausüben. Die Durchführung eines Verfahrens und dessen negativer Ausgang dienen damit einerseits der Sicherstellung dieser asyl- und flüchtlingsrechtlichen Rechte, zum anderen aber auch der Rechtfertigung des Eingriffs in die Handlungs- und Bewegungsfreiheit, welcher durch die zwangsweise Rückführung in den Herkunftsstaat entsteht.

Details

Seiten
398
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631877036
ISBN (ePUB)
9783631877043
ISBN (MOBI)
9783631877050
ISBN (Paperback)
9783631876534
DOI
10.3726/b19651
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (April)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 398 S.

Biographische Angaben

Jonas Ganter (Autor:in)

Jonas Ganter studierte Rechtswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und war anschließend als Forschungsreferent am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer tätig. Seine Promotion erfolgte an der dortigen Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften.

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Titel: Mitwirkungspflichten und Sanktionen im Asyl- und Aufenthaltsrecht
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