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Das Ordnungsdenken im christlich-orthodoxen Raum

Nation, Religion und Politik im öffentlichen Diskurs der Rumänisch-Orthodoxen Kirche Siebenbürgens in der Zwischenkriegszeit (1918–1940)

von Marian Pătru (Autor:in)
©2022 Dissertation 312 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch rekonstruiert die Konzeption der Orthodoxen Kirche Siebenbürgens über die soziale Ordnung Rumäniens in der Zwischenkriegszeit. Der Autor fasst dieses regional geprägte Ordnungsdenken durch das Konzept der politischen Ethnotheologie zusammen. Dieser zufolge wäre die nationale Gemeinschaft mit der orthodoxen Gemeinschaft identisch, daher sollte der nationale Staat zugleich auch orthodox sein. Die soziale Ordnung, die er schafft, sollte eine legale Kodifizierung der moralischen Ordnung sein, die die Orthodoxie der Nation eingeprägt hat. Dieser Syllogismus erklärt die Haltung der Kirche gegenüber der ethnisch-religiösen Alterität und beleuchtet, warum sie die rechtsextremen politischen Bewegungen, die versprachen, den rumänischen Staat in einen christlichen Staat umzuwandeln, mit Sympathie betrachtete.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einführung
  • I.1. Vorbemerkungen
  • I.2. Methodologische und begriffliche Grundlagen
  • I.2.1. Warum die ROKS in der Zwischenkriegszeit? Begründung der institutionellen und temporalen Auswahl
  • I.2.2. Zielsetzung und Struktur der Argumentation
  • I.2.3. Forschungsstand
  • I.2.4. Die Grundbegriffe der Forschung
  • I.2.4.1. „Ordnung“ als Oberbegriff: Das Paradigma „das Ganze und seine Teile“
  • I.2.4.2. Der Begriff der Nation im Rahmen der Nationalismusforschung
  • I.2.4.2.1. Primordialismus: Die Nation als ontologische Gegebenheit
  • I.2.4.2.2. Modernismus: Die Nation als soziales Konstrukt
  • I.2.4.3. Die Beziehungen zwischen Religion/Kirche und Politik/Staat
  • I.2.4.4. Politische Theologie und die Themenkonstellation: „Das Vorpolitische – das Politische – die Politik“
  • I.2.5. Die Quellen: Die Presse und die Öffentlichkeit der Kirche
  • I.2.6. Die Kirchenelite, die Ordnung und die poietische Funktion des Diskurses
  • II. Der historische Kontext
  • II.1. Die ROKS und die Staatsmacht innerhalb des Habsburgerreiches
  • II.1.1. Die Abschaffung der orthodoxen Metropolie Siebenbürgens. Die Griechisch-Katholische (Unierte) Kirche und die Anfänge der rumänischen Nationalbewegung
  • II.1.2. Der „Moment ܇aguna“ in der Geschichte Siebenbürgens
  • II.1.2.1. Die politische Tätigkeit ܇agunas
  • II.1.2.2. Die kulturelle Tätigkeit und die Kirchenverwaltungsreform: Das Organische Statut
  • II.1.3. Die ROKS zwischen 1867 und 1918
  • II.2. Der kirchliche und politische Kontext zwischen 1918 und 1940
  • II.2.1. Die 1920er Jahre: Eine Epoche der kirchlichen und politischen Strukturreformen
  • II.2.1.1. Exkurs: Kirche und Staat in der modernen Geschichte Rumäniens
  • a) Das byzantinische Muster
  • b) Moderne Staatlichkeit und politische Kontrolle der Kirche
  • II.2.1.2. Die einheitliche Ordnung der Rumänisch-Orthodoxen Kirche und die Harmonisierung der regionalistischen Spannungen
  • II.2.1.3. Die Verfassung von 1923
  • II.2.1.4. Das Konkordat mit dem Vatikan
  • II.2.1.5. Die Verstaatlichung der orthodoxen Konfessionsschulen
  • II.2.2. Die Entwicklung des politischen Lebens in den 1930er Jahren
  • III. Der Nationsdiskurs der ROKS zwischen Theologie der Nation und Teleologie der Geschichte
  • III.1. Rumänischer Traditionalismus und der Imperativ der Organizität
  • III.2. Orthodoxer Traditionalismus oder der Orthodoxismus als Kristallisation der Konstellation Nation-Religion-Politik
  • III.2.1. Nichifor Crainic
  • III.2.2. Nae Ionescu
  • III.2.3. Nicolae Bălan – Dumitru Stăniloae – Nichifor Crainic und der Beitrag der ROKS zum Orthodoxismus
  • III.3. Nicolae Bălan und die christlich-orthodoxe Rezeption des Herderianismus
  • III.4. Der Nationsdiskurs als Teil der christlichen Geschichtstheologie
  • III.5. Von Transzendenz zu Immanenz: Strukturelemente der rumänischen nationalen Identität
  • III.5.1. Selbstreferentielle Gestaltung der nationalen Identität
  • III.5.1.1. Die geschlossene ethnische Gemeinschaft
  • III.5.1.2. Die Sprache als existenzielles Phänomen
  • III.5.1.3. Die Nation-Konfession und „das Rumänische Gesetz“/„das Gesetz der Vorfahren“
  • III.5.2. Die Gestaltung der nationalen Identität durch Abgrenzung
  • III.5.2.1. Gemeinschaft vs. Gesellschaft, Orient vs. Okzident und die soteriologische Funktion der Nation-Konfession
  • III.5.2.2. Nationale Identität aus der Perspektive der interkonfessionellen Kontroversen: „Katholizismus oder Nation?“
  • III.5.3. Die Wahrnehmung der Unierten Kirche durch die ROKS: Gestaltung der nationalen Identität durch Integrierung des „Anderen“
  • III.6. Zusammenfassung
  • IV. „Die Orthodoxen sind die Nation, die den rumänischen einheitlichen Nationalstaat bildet“. Kirche und Staat als komplementäre Äußerungsformen der Nation-Konfession
  • IV.1. „Der große Mose unserer Kirche“. Andrei ܇aguna als idealtypische Verkörperung des Regionalismus der ROKS
  • IV.2. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat im Spannungsfeld zwischen ܇agunianismus und Byzantinismus
  • IV.2.1. Die Ablehnung des ܇agunianismus
  • IV.2.2. Verteidigung des ܇agunianismus: Die entwicklungsfähige Kanonizität als Bereitschaft zur Rezeption des Zeitgeistes
  • IV.3. Die Notwendigkeit der Autonomie der Kirche
  • IV.4. Die Benennung der ROK in der Verfassung
  • IV.5. Die unmögliche Autonomie des Staates: Kirche und Staat im Spannungsfeld zwischen moralischer und legaler Ordnung
  • IV.6. Die Möglichkeiten der Kirche zur Bestimmung der sozialen Ordnung
  • IV.6.1. Das Liturgische
  • IV.6.2. Die Schule
  • IV.6.3. Kirche – Priester – Parteipolitik
  • IV.7. Zusammenfassung
  • V. Die ROKS und die radikale politische Wende in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre: Zwischen Rechtsextremismus, Autoritarismus und rumänisch-orthodoxem Staat
  • V.1. Grundzüge der Moderne aus der Perspektive der Beziehungen zwischen Kirche und Politik
  • V.2. Die wichtigsten rechtsextremen rumänischen Parteien: Zwischen Christentum, Nationalismus und Antisemitismus
  • V.2.1. Die Grundzüge des modernen europäischen Antisemitismus
  • V.2.2. Die Judenfrage im rumänischen Kontext
  • V.2.3. Die Nationalistische Demokratische Partei, die Liga der Nationalen Christlichen Verteidigung und die Nationale Christliche Partei
  • V.2.4. Die bedeutendste rumänische faschistische Bewegung: Die Legion Erzengel Michael/Eiserne Garde
  • V.3. Das Jahr 1936: Das Bewusstwerden einer notwendigen radikalen politischen Veränderung
  • V.4. Die ROKS und die sozial-politischen Veränderungen der Moderne
  • V.5. Die nationalistische Jugend als Vermittlerin einer Neuchristianisierung der rumänischen Gesellschaft
  • V.6. Die Bedeutung des Nationalismus
  • V.7. Die ROKS und der Antisemitismus
  • V.7.1. Die Haltung der ROKS gegenüber A.C. Cuzas Marcionismus
  • V.7.2. Exkurs: Die ROKS und die Religionsphilosophie Lucian Blagas
  • V.7.3. Das Alte Testament als Grundstruktur der christlichen Identität
  • V.7.4. Antisemitische Strategie: Die Dissoziation des jüdischen Volkes vom Alten Testament und von JHWH
  • V.7.5. Die jüdische Weltverschwörung als materialistischer Messianismus
  • V.7.6. Der theologische Antisemitismus als symbolische Ghettoisierung der Juden
  • V.7.7. Exkurs: Die Rolle des Metropoliten Nicolae Bălan bei der Rettung von Juden vor dem Holocaust
  • V.8. Die Haltung zu Kommunismus und Nationalsozialismus
  • V.8.1. Der Kommunismus
  • V.8.2. Der Nationalsozialismus
  • V.9. Religiös-politisches Märtyrertum: Die Semantisierung des Todes der Legionsführer Ion I. Mo܊a und Vasile Marin
  • V.10. Die Errichtung des rumänisch-orthodoxen Staates zwischen 1938 und 1940
  • V.11. Zusammenfassung
  • VI. Schlussfolgerungen: Das Ordnungsdenken als politische Ethnotheologie
  • VII. Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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I. Einführung

I.1. Vorbemerkungen

Die vorliegende Arbeit ist eine Rekonstruktion des von der Rumänisch-Orthodoxen Kirche Siebenbürgens (ROKS) von 1918 bis 1940 in der Öffentlichkeit bekanntgemachten Ordnungsdenkens.

Die Untersuchung geht von der Grundvoraussetzung aus, dass die regional geprägte Einstellung der ROKS gegenüber der thematischen Konstellation Nation-Religion-Politik an sich einen konzeptuellen Verarbeitungsprozess der eigenen Zeitlichkeit im kulturellen, politischen und religiösen Kontext der Zwischenkriegszeit durchlaufen hat. Dadurch trug die ROKS zur Gestaltung der spezifischen Haltung der Rumänisch-Orthodoxen Kirche (ROK) bei, die sie gegenüber den sozialen und politischen Umwandlungen der Moderne eingenommen hat – in erster Linie gegenüber dem Nationalstaat, aber auch gegenüber dem Thema einer Trennung des religiösen vom politischen Bereich. Der öffentliche Diskurs der ROKS war somit eine situative Interpretationsform des Verhältnisses zwischen dem himmlischen Reich Gottes und dem irdischen des Kaisers – ein Problem, mit dem sich die christliche Kirche während ihrer ganzen Geschichte beständig auseinandersetzen musste.

Die Analyse der Interaktionsweise einer nationalen Orthodoxen Kirche – und, im vorliegenden Fall, einer regionalen – mit dem politischen, religiösen und kulturellen Umfeld zu welchem sie gehört, ist bis jetzt die einzige Möglichkeit, die interpretativen Grundsätze ausfindig zu machen, welche die Orthodoxe Kirche1 verwendet, um ihre Haltung gegenüber dem Säkulum zu bestimmen. In diesem Fall ist es bezeichnend, dass, mit Ausnahme der Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche2 und neulich der Sozialenzyklika des Ökumenischen Patriarchats aus dem Jahre 2020 (For the Life of the World. Toward a Social Ethos of the Orthodox Church), keine andere Orthodoxe Kirche ←13 | 14→eine offizielle Stellungnahme gegenüber den Institutionen, Normen und Werten der modernen Gesellschaft hervorgebracht hat. Umso weniger kann von einer allgemein gültigen Doktrin die Rede sein, die die Grundsätze festlegt, nach denen das Orthodoxe Christentum in seiner Gesamtheit die eigene Haltung gegenüber der Welt gestaltet.3

Wenn man hinsichtlich der offiziellen Formulierungen und Annahmen seitens der Orthodoxen Kirche von keinem einheitlichen theologischen Diskurs sprechen kann, der „die Legitimität der Neuzeit“ (Hans Blumenberg) behandelt, so bot dennoch die Rezeption der Grundlagen der Sozialdoktrin im abendländischen Kulturbereich die Möglichkeit einer detaillierten Analyse der allgemeinen dogmatischen und historischen Grundlagen, die das Ethos der Interaktion des Orthodoxen Christentums mit dem modernen Zeitgeist kennzeichnet.4

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Eines der Elemente, welches die Orthodoxen Kirchen von den abendländischen christlichen Kirchen5 unterscheidet, ist die Tatsache, dass ihre Einstellung zur Gegenwart durch einen Rückgriff auf die Tradition vermittelt wird, d.h. auf eine Vergangenheit, die als die Bewahrerin ihrer authentischen dogmatischen und institutionellen Erfahrung betrachtet wird. Anders gesagt, das gegenwärtige konzeptuelle Universum wird in Abhängigkeit von der kirchlichen Tradition ausgelegt und nicht umgekehrt.6 Dieser Bewährungs- und Bestätigungsgrundsatz der sozialen, politischen und axiologischen Erscheinungen wird durch ein prägnantes eschatologisches Bewusstsein ergänzt. Hinsichtlich der Wertordnung führt dieses Bewusstsein zu einer Unterordnung der geschichtlichen Gegenwart und der sozialen Wirklichkeit gegenüber der Bedeutung des zukünftigen Lebens.7 Bei der Zusammenführung dieser beiden Dimensionen, um ihr Wahrnehmungsorgan für die Realität zu erstellen, begannen die Orthodoxen Kirchen eine gewisse Zurückhaltung gegenüber den sozialen Wandlungen, die der Modernität eigen sind, zu zeigen. Im Allgemeinen positionierten sie sich in einer defensiven Stellung gegenüber dem Neuen, das jedes historische Zeitalter mit sich brachte.8

Die Feststellung von H.G. Gadamer, wonach „all unser geschichtliches Verstehen durch ein wirkungsgeschichtliches Bewusstsein bestimmt ist“,9 ist nicht nur für das Verstehen der interpretativen Erfahrung der Individuen gültig, sondern auch für das der Institutionen. Und zwar in dem Sinne, dass die Vergangenheit nicht eine „vergangene“ und nicht mehr zugängliche Wirklichkeit ist, sondern dass die individuelle, kollektive oder institutionelle Erinnerung an ←15 | 16→diese Vergangenheit auf direkte Weise die Interpretation der Gegenwart beeinflusst.10 In diesem Sinne ist die Zeitlichkeit jeglicher Kirche der orthodoxen Tradition in einer bestimmten Epoche von der konstanten Anpassung an eine historische Authentizität in Form der Kirchentradition im Horizont der eschatologischen Erwartung bestimmt.11 Diese Methodologie der doppelten Ausrichtung, die die Orthodoxie benutzt, um ihre Existenz in der Gegenwart zu gestalten – zu einer idealisierten Vergangenheit und zu einer trans-historischen Zukunft hin –, ist die direkte Folge des Selbstverständnisses der christlichen Kirche in ihrer Gesamtheit als Institution mit einheitlicher Existenz, jedoch auf zwei ontologischen Ebenen angeordnet, einer immanenten und einer transzendenten. Sie bringt so in all ihren praktischen und diskursiven Haltungen das Bewusstsein zum Ausdruck, dass obwohl sie sich „in der Welt“ befindet, sie trotzdem nicht „aus der Welt“ ist (vgl. Johannes 17, 16 und 18, 36).

Die historische Authentizität, welche die Grundsätze der Haltung der Orthodoxie gegenüber der Gegenwart liefert, enthält nicht nur eine kulturelle Dimension (d.h. dogmatisch-geistige Tradition), sondern auch eine praktische und bezieht sich auf die konkreten Beziehungen zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft entlang ihrer Geschichte. Demzufolge war die Art und Weise, wie die Orthodoxen Kirchen in Ost- und Südosteuropa ihre Haltung gegenüber Staat und Gesellschaft im 20. Jahrhundert aufgebaut haben, von der Beziehung der Kirche zur politischen Macht im Byzantinischen Reich zwischen 325 und 1453 (der sogenannten byzantinischen Symphonie) und dem Verhältnis dieser Kirchen zu den im Laufe das 19. Jahrhunderts entstehenden modernen Nationen und Nationalstaaten geprägt. Diese Erfahrung führte zur Bildung eines ethnischpolitisch-religiösen Verhaltensmusters, das jede Orthodoxe Kirche ihrem eigenen nationalen Kontext anpasste.

Innerhalb der modernen Nationalstaaten sahen sich die Orthodoxen Kirchen mit dem Problem ihrer Einstellung zu der konfessionellen und ethnischen Alterität und mit dem Problem der theologischen Rechtfertigung der eigenen Beziehung zur Nation konfrontiert, wobei weder die Bibel noch die patristische Tradition eine klare Argumentationsgrundlage boten, die eine Verbundenheit der Kirche zu einer bestimmten ethnischen Realität rechtfertigen würde.12 In diesem Fall griff der theologische Diskurs zu einer antinomischen Herangehensweise an ←16 | 17→die Beziehung zwischen Einheit der ökumenischen Orthodoxie und der Vielheit der nationalen Orthodoxien: Einerseits wird der Wert der ethnisch-kulturellen Unterschiede anerkannt und andererseits wird betont, dass die Orthodoxie durch ihren eschatologischen Charakter die lokalen Besonderheiten durch ihre einschließende Perspektive, welche die gesamte Menschheit umfasst, überschreitet.13 Die beiden Elemente des Begriffs der „nationalen Kirche“ schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sie ergänzen sich. Während das nationale Element den Unterschied pflegt, betont die Orthodoxie die gemeinsamen geistlichen Elemente, durch die eine bestimmte Nation mit den anderen orthodoxen Nationen zu einer einheitlichen kirchlichen Gemeinschaft verbunden ist.14

Ab dem 19. Jahrhundert sicherten sich die Orthodoxen Kirchen die Nähe zu den neuen Nationalstaaten Südosteuropas, indem sich die Orthodoxie mit der Nation in Form von Nationalkirchen identifizierte, was aus ihrer Sicht bedeutete, dass die Kirche implizit eine Kernstruktur des Nationalstaates ist.15 Nationalstaaten und Nationalkirchen wurden als zwei sich ergänzende Wirklichkeiten wahrgenommen. Jede verfolgte die Gestaltung der Nation, indem sie in nationalistischer Weise das Überleben des Musters der byzantinischen Symphonie sichern.

I.2. Methodologische und begriffliche Grundlagen

I.2.1. Warum die ROKS in der Zwischenkriegszeit? Begründung der institutionellen und temporalen Auswahl

Die Auswahl des Sonderfalls der ROKS16 und der Zeitspanne zwischen den beiden Weltkriegen rechtfertigt sich durch das Spezifikum Siebenbürgens ←17 | 18→gegenüber den anderen Regionen, aus denen im Jahr 1918 Großrumänien entstanden ist.17 Das Spezifische an Siebenbürgen bestand nicht nur darin, dass es die größte Region war, die nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Königreich Rumänien18 vereint wurde, sondern vorrangig darin, dass es in Siebenbürgen die stärkste Nationalbewegung gab, die für die politischen Rechte der Rumänen und – zu Zeiten des österreichisch-ungarischen Dualismus (1867–1918) – gegen die Magyarisierung durch die Regierung in Budapest kämpfte.19 Die rumänische Nationalbewegung entstand innerhalb der Griechisch-Katholischen Kirche (Unierten Kirche) Anfang des 18. Jahrhunderts und wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von dem orthodoxen Metropoliten Andrei Şaguna (1808–1873) weitergeführt, um ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von weltlichen Intellektuellen mit kontinuierlichem Beitrag beider rumänischen Kirchen, bis 1918 fortgesetzt zu werden. Da im Habsburgischen Reich die Rumänen20 politisch nicht anerkannt waren und mit einer konstanten Entnationalisierungspolitik konfrontiert wurden, bot die Orthodoxe Kirche Siebenbürgens einen institutionellen Rahmen für die Bewahrung der ethnischen, kulturellen und religiösen Identität ←18 | 19→ihrer Gläubigen. Als Folge dieser engen Bindung identifizierte sich die orthodoxe Konfession mit der Nation, wobei die Orthodoxe Kirche Siebenbürgens dabei dem Entwicklungsmuster der Orthodoxen Kirche in den rumänischen Fürstentümern und im Allgemeinen denen in Südosteuropa während der Moderne folgte.

Ein Unterschied zwischen Siebenbürgen und den anderen rumänischen Provinzen (Altreich, Bessarabien und Buchenland, rumänisch: Bucovina) hinsichtlich der Beziehung der Orthodoxen Konfession zu der rumänischen Nation lag im Vorhandensein der Griechisch-Katholischen Kirche, zu welcher sich die Hälfte der Siebenbürger Rumänen bekannte. Diese Tatsache hat dem Nationsdiskurs der ROKS einen stark polemischen, anti-griechisch-katholischen und implizit auch anti-katholischen Charakter verliehen. Die polemische Komponente interkonfessioneller Natur beeinflusste zutiefst den Nationsbegriff der ROKS, indem diese eine Theologie der Nation unter direktem Einfluss der dogmatischen Polemik mit der Römisch-Katholischen und Griechisch-Katholischen Kirche entwickelte.

Der Hauptunterschied zwischen der ROKS und der des Altreiches besteht jedoch in der Art, wie die beiden Kirchen organisiert waren und in der Art ihres Verhältnisses zum Staat bis 1918. Die Kirchenverfassung (Das Organische Statut) des Metropoliten Andrei Şaguna aus dem Jahre 1868 gewährleistete die Autonomie der Kirche gegenüber dem österreichisch-ungarischen Staat sowie eine demokratische Gestaltung der eigenen Tätigkeiten. Sie sah ebenfalls eine Beteiligung der Laien an der Führung der Kirche durch die gemischten Synoden vor, welche zu einem Drittel aus Vertretern der Geistlichkeit und zu zwei Dritteln aus Vertretern der Gläubigen, die durch direkte Wahl bestimmt wurden, bestanden. Dagegen war die Orthodoxe Kirche im Altreich zu dem Zeitpunkt 1918 eine staatliche Institution mit einem internen Aufbau, in welchem die gläubigen Laien nicht vertreten waren und die Idee, Kirchenangelegenheiten demokratisch zu leiten, war praktisch unvorstellbar.

Die Konfrontierung des religiös-politischen Musters des Altreiches mit dem der ROKS – insbesondere im Kontext von Annahme der Verfassung von 1923 und des Gesetzes zur Organisation der ROK von 1925 – drängte die siebenbürgische Kirche dazu, ihr eigenes Konzept vom Staat und dessen Beziehung zur Kirche, über die politischen und religiösen Grundlagen der sozialen Ordnung, über die Beziehung zwischen Theologie und Politik usw. festzulegen und, als Grundlage all dieser theoretischen Elemente, die eigene Vorstellung über die Essenz der Nation und deren Beziehung zur Orthodoxie zu bestimmen. Neben dem konstanten Festhalten an den Begriffen der orthodoxen dogmatischen Tradition, hatte die Stellungnahme der ROKS zu dem neuen religiösen und politischen Kontext Großrumäniens selbstverständlich im Hintergrund ein prägnantes Regionalbewusstsein, in dem sich alle oben angeführten Eigenheiten konzentrierten. Diese Tatsache erlaubt die Art und Weise hervorzuheben, wie die Doktrinelemente der universellen Orthodoxen Kirche von der ←19 | 20→ROKS durch den Bezug auf einen historischen Regionalethos benutzt wurden, sodass sie die Frage nach der Beziehung zwischen Nation, Religion und Politik im Rahmen des rumänischen Nationalstaates nach 1918 beantwortet.

I.2.2. Zielsetzung und Struktur der Argumentation

Die schematische Darstellung dessen, was aus der Perspektive der Themenkonstellation Nation-Religion-Politik für die ROKS spezifisch ist, gestattet die systematische Formulierung der Ziele, die diese Arbeit verfolgt. Um es kurz zu formulieren, besteht das Hauptziel der vorliegenden Studie darin, die Frage nach den Grundzügen der Auffassung der ROKS zur sozialen Ordnung zu beantworten. Die Antwort auf diese Frage hängt von der vorausgehenden Klärung anderer Fragen ab. Eine dieser Fragen bezieht sich auf das Verständnis der Nation und der nationalen Identität durch die ROKS und zugleich auf die Rolle, die die Begriffe der dogmatischen Tradition in diesem Verständnis spielen. Damit eng verbunden soll auch untersucht werden, wie die ROKS die römisch-katholische Position zu den Nationen und Nationalstaaten bewertet. Letztendlich geht es in diesem Fall um einen theologischen Nationalismus, der die Frage zu beantworten versucht, ob die griechisch-katholischen Rumänen zur rumänischen Nation gehören oder nicht, da sie konfessionell zum Katholizismus und nicht zur Orthodoxie gehören.

Wenn die ROKS den Anspruch erhebt, im 19. Jahrhundert ihren Gläubigen durch ihre demokratische Kirchenverfassung eine quasi-politische Organisierungsweise gegeben zu haben, wie sieht sich die siebenbürgische Kirche selbst im Kontext eines rumänischen Nationalstaates? In welcher Beziehung müsste also der Staat zur Nation und zur Orthodoxen Kirche stehen, selbstverständlich aber auch zu der ethnisch-konfessionellen Vielheit Rumäniens? Wenn sich die Kirche selbst mit der Nation identifiziert, muss gefragt werden, ob das auch eine Identifizierung der Kirche mit dem Nationalstaat voraussetzt.

Eine weitere Frage beschäftigt sich mit der Einstellung der ROKS gegenüber den nationalistischen und faschistischen Parteien Rumäniens, die nach 1918 entstanden sind, z.B. gegenüber dem von diesen Parteien betriebenen rassischen und theologischen Antisemitismus, oder zu dem autoritären Regime, welches König Carol II. (reg. 1930–1940) 1938 durchsetzte. Damit eng verbunden ist die Frage nach dem Grundsatz, nach dem die ROKS den Nationalsozialismus und Kommunismus bewertet. Und letztendlich: Was waren die spezifischen Charakteristika der von der ROKS entwickelten politischen Theologie? Ausgehend von ihrer Stellung zum säkularen Staat und den oben erwähnten modernen politischen Strömungen soll gefragt werden, wie die allgemeine Haltung der ROKS zur Modernität definiert werden könnte, wenn man in Betracht zieht, dass ein wesentliches Merkmal dieser die Trennung von ←20 | 21→Religion/Kirche und Politik/Staat ist. Um auf diese Fragen zu antworten, ist diese Studie wie folgt aufgebaut:

Das zweite Kapitel wird den allgemeinen historischen Kontext vorstellen, auf den sich der öffentliche Diskurs der ROKS bezieht. Die Auswahl der vorgestellten Ereignisse wird abhängig von ihrer Relevanz für das untersuchte Thema erfolgen.

Das dritte Kapitel wird sich darauf konzentrieren, wie die ROKS die Herkunft, das Wesen und die historische Funktion der Nation versteht.

Im vierten Kapitel wird bewiesen, dass der Nationsbegriff der Zentralgrundsatz ist, nach dem die ROKS die Beziehung der ROK zum Nationalstaat und des Weiteren die Beziehung zwischen der moralischen Ordnung der Kirche und der legalen Ordnung des Staates im Entstehungsprozess der sozialen Ordnung theoretisierte. Die Stellung der ROKS gegenüber dem Nationalismus, dem Anti-semitismus und dem Faschismus der verschiedenen politischen Parteien, wie auch die Haltung zu dem autoritären Regime von König Carol II. fußen ebenfalls auf ihrem Begriff von Nation.

In diesem Kontext jedoch wird die Nationvorstellung aus einem theoretischen Diskurs in einen praktisch ausgerichteten verwandelt, welcher, so wie wir im fünften Kapitel zeigen werden, zur Beförderung eines ethnischen, also exklusivistischen Nationalismus und Antisemitismus, so wie zur Unterstützung der antidemokratischen Entwicklung des politischen Lebens im Rumänien der 1930er Jahre führte.

Jedes Kapitel enthält ein einführendes Unterkapitel, in dem der spezifische Kontext der vorgetragenen Thematik vorgestellt wird, und eine Zusammenfassung. Auswertende Schlussfolgerungen werden die Knotenpunkte der Argumentation wiederaufnehmen und das Spezifikum des Ordnungsdenkens der ROKS aus der Perspektive einer politischen Theologie heraus systematisieren, in der der Nationsbegriff die zentrale Rolle einnimmt.

I.2.3. Forschungsstand

Von den bisherigen Forschungen, die sich dem Verhältnis von Nation, Religion und Politik im Rumänien der Zwischenkriegszeit widmeten, nähert sich der Idee der Rekonstruktion des Ordnungsdenkens der ROKS am meisten das Standardwerk von Hans-Christian Maner, das die Positionen der Orthodoxen, Römisch-Katholischen und Griechisch-Katholischen Kirche zur politischen Dynamik Rumäniens zwischen 1918 und 194021 zum Gegenstand hat. Besonders ←21 | 22→wichtig ist das Unterkapitel „Die Orthodoxe Kirche und der Staat. Grundlegende konzeptionelle Überlegungen“,22 in dem die Haltung der ROK gegenüber dem Staat und die des Staates der ROK gegenüber während der Moderne systematisiert ist. Obwohl Maner die Tatsache richtig erfasst, dass „die Kirche unter dem Gesichtspunkt ihres Verhältnisses zum Staat auch ihre eigentliche zentrale, geistlichtranszendentale Aufgabe stellt“,23 behandelt er jedoch die theologische Perspektive der ROK zu Politik oder Nation nicht im Detail. Wie schon betont, stellt diese theologische Perspektive die Grundvoraussetzung für die Haltung der ROKS gegenüber dem rumänischen Nationalstaat und den politischen Kräften und Ideologien der Zwischenkriegszeit dar. Maners Arbeit bleibt im Wesentlichen die eines Historikers, der sich in erster Linie auf die Dynamik der Ereignisse konzentriert, während die vorliegende Arbeit sich in erster Linie mit den Ideen befasst, die vom Diskurs der ROKS zur Interpretation der Faktizität entwickelt worden sind. Für die vorliegende Forschung ist das geschichtliche Ereignis an sich nicht wichtig, es ist nur von Bedeutung wegen seiner auslösenden Funktion für den die Beziehungen zwischen Nation, Religion und Politik interpretierenden Diskurs.

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Die vorliegende Forschung unterscheidet sich auch durch die von ihr benutzten Quellen. Die oben erwähnte Arbeit Maners übergeht eine Reihe von Zeitschriften der ROKS: Vor allem die offiziellen Zeitschriften des Episkopates Klausenburg/Cluj (Renaşterea), Karansebesch/Caransebeş (Foaia Diecezană), Großwardein/Oradea (Legea Românească), dann die Zeitschrift Viaţa Ilustrată sowie Analele Asociaţie „Andrei Şaguna“ a clerului Mitropoliei Ortodoxe Române din Ardeal, Bănat, Crişana şi Maramurăş. Obwohl dem Telegraful Român, als offizieller Zeitschrift der Orthodoxen Metropolie Siebenbürgens auch die Aufgabe zukam, die repräsentativen Beiträge der untergeordneten Bistümer und der anderen kirchlichen Zeitschriften zu sammeln, ist z.B. eine Reihe der wesentlichen Beiträge zum Thema des theologischen Nationalismus nicht in der offiziellen Zeitung der Metropolie aus Hermannstadt/Sibiu erfasst.

Dieselbe Nichtberücksichtigung einiger das Verständnis des Nationalismus erhellender Quellen sowie das Fehlen der Fragestellung nach jener Theologie der sozialen und politischen Ordnung kennzeichnet auch die Arbeit von Nicolai Staab über die Beziehung zwischen nationaler Identität, Orthodoxie und ihrer Ansicht über das Abendland im kulturellen Diskurs im Rumänien der Zwischenkriegszeit.24

Eine andere Kategorie von Forschungen, die mit dem Ziel dieser Arbeit verwandt sind, sind diejenigen, die sich mit dem Werk von Dumitru Stăniloae beschäftigen. Die Beiträge von Stăniloae in den Zeitschriften der Metropolie Siebenbürgens und der Zeitschrift Gândirea in Bucureşti stellen die inhaltsreichsten theoretischen Beiträge der ROK der Zwischenkriegszeit über die Beziehungen zwischen Nation, Orthodoxie, Interkonfessionalismus und Politik ←23 | 24→dar. Neben den Arbeiten, die Stăniloaes Nationsbegriff auslegen25 – aber nicht die Beziehung zwischen der Idee von Nation und der sozialen und politischen Ordnung behandeln –, liegt dem Thema dieser Studie die Arbeit von Costion Nicolescu über das politische Denken von Stăniloae26 am Nächsten. Die Arbeit von Nicolescu beschränkt sich jedoch darauf, ausführliche Zitate aus den Beiträgen vorzustellen, die Stăniloae zwischen 1930 und 1945 veröffentlicht hat, zu denen noch kurze Kommentare und Angaben kommen, die für das Verständnis des historischen Kontextes notwendig sind, in dem sie verfasst wurden, was letztendlich diese Arbeit zu einer mehr deskriptiven als analytischen macht. Zweitens, aus strenger Sicht der vorliegenden Untersuchung ist diese Herangehensweise nur bruchstückhaft, da sie nur auf eine einzige Stimme aus dem gesamten Diskurs der ROKS eingeht, ohne diese in den Gesamtdiskurs der Institution, zu der sie gehört, zu integrieren. Jürgen Henkels Arbeit über das Leben und die Theologie Stăniloaes befasst sich systematisch mit seiner Vorstellung von der Nation, jedoch nur auf der Grundlage des Bandes Ortodoxie şi Românism von 1939.27 In diesem Band veröffentlichte Stăniloae 15 ausgewählte Artikel zum Thema christlicher Nationalismus, welche in den 1930er Jahren in der Zeitung Telegraful Român und in der Zeitschrift Gândirea erstveröffentlicht worden sind. Es genügt zu erwähnen, dass Stăniloae in den 1930ern allein im Telegraful Român ←24 | 25→rund 300 Artikel publizierte, um deutlich zu machen, wie oberflächlich eine Ausarbeitung der Vorstellung von der Nation bei Stăniloae ist, wenn sie nur dieses Werk von 1939 in Betracht zieht.

I.2.4. Die Grundbegriffe der Forschung

I.2.4.1. „Ordnung“ als Oberbegriff: Das Paradigma „das Ganze und seine Teile“

Jenseits der semantischen Schwankungen, die der Übergang von einem Referenzsystem zu einem anderen mit sich bringt, von einem historischen und kulturellen Kontext zu einem anderen,28 gibt es ein rekurrentes Element, auf welches sich alle Typen von Ordnung stützen, und zwar die Beziehung.

Als Ordnung wird ein Gefüge von Elementen bezeichnet, die in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen und einen größeren Bereich strukturieren.29

Da es sich um einen „Relationsbegriff“30 handelt, setzt die Ordnung zwei Ausrichtungen der Beziehung voraus: Einerseits die zwischen den Teilen und dem Ganzen, andererseits die Beziehung untereinander, zwischen den Teilen. Wenn diese doppelte Ausrichtung der Beziehung „eindeutig definiert“ sein soll, so bedeutet dies, dass die Ordnung noch ein Attribut hat, und zwar das der Rationalität in dem Sinne, dass die Beziehung zwischen unterschiedlichen Elementen eine Reihe von rationalen Gesetzen voraussetzt, die die Ordnung eines Systems bestimmen.31 Diese Gesetze existieren entweder durch sich selbst und der menschliche Beobachter beschränkt sich darauf sie zu entdecken – wie z.B. die Gesetze der Physik – oder sie sind von dem Beobachter geschaffen, um die ←25 | 26→Elemente im Rahmen eines kohärenten Gesamten in eine gewisse Beziehung zueinander zu stellen.32

Welches ist jedoch im Fall dieser Studie der strukturierte und geordnete größere Bereich der Beziehung zwischen Nation, Religion und Politik? Nation, Religion und Politik haben – jenseits der vorhandenen spezifischen Unterschiede – die verbindende Idee einer menschlichen Gemeinschaft und somit der Gesellschaft und ihrer Ordnung, hier verstanden als Beziehung zwischen Individuen, Menschengruppen und Institutionen, aufgrund eines Sets von allgemein angenommenen Normen und Regeln.33 In diesem Sinne wird, so wie im Weiteren gezeigt werden wird, die Nation als eine „gedachte Ordnung“34 einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft verstanden, die Politik – in ihrer klassischaristotelischen Auffassung – als Kunst das gemeinsame Leben der Menschen aufgrund von gerechten Normen35 und Religion, als:

Ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.36

Die Beziehung zwischen Nation, Politik und Religion hat als Ergebnis die Strukturierung der Gesellschaft als Ganzes. Die Individuen werden in diesem Fall von einer Identität ausgezeichnet, welche beim Zusammentreffen aller drei Ebenen entsteht: Sie nehmen sich selbst gleichzeitig als Mitglieder einer Nation wie auch einer Gesellschaft (verstanden als eine vom Staat gestalteten politischen Gemeinschaft) und auch einer Religion, bzw. Konfession zugehörend wahr. Die Existenz jeder ethnisch-nationalen oder konfessionellen Gruppe ist von solchen Werten, Normen und solchen Formen der sozialen Interaktion gekennzeichnet, die nur ihnen zu eigen sind und nicht der gesamten Gesellschaft. „Das Ganze“ bezieht sich somit nicht auf die ethnisch-nationale, religiöse oder konfessionelle Ordnung, da es keine ethnisch, religiös oder konfessionell einheitlich-homogene Gesellschaften gibt. Es gibt aber mehrere Religionen, Konfessionen und ethnischnationale Gruppen innerhalb derselben Gesellschaft, welche von derselben ←26 | 27→politisch-staatlichen Entität organisiert ist. Die politische Handlung des Staates umfasst die gesamte Gesellschaft mit allen ethnisch-nationalen und religiöskonfessionellen Gruppen, weshalb die soziale und politische Ordnung untereinander austauschbare Realitäten und einsetzbare Begriffe sind.

Die soziale Ordnung wird konstant von den Individuen und Menschengruppen durch einen Interpretationsprozess erschaffen, einen Prozess also, der die Wirklichkeitselemente mit einem bestimmten Sinn bzw. einer bestimmten Semantik versieht. Laut Niklas Luhmann ist der Sinn, das „Universalmedium aller psychischen und sozialen, aller bewusst und kommunikativ operierenden Systeme“, der konstant die „Autopoiesis dieser Systeme“37 und des sozialen Systems als Gesamtheit durch die Kommunikation generiert. Luhmann versteht mit Kommunikation nicht nur die nach gewissen sprachlichen Regeln strukturierten Diskurse, sondern auch „ein jeweils historisch-konkret ablaufendes, also kontextabhängiges Geschehen“,38 durch welches das System implizit etwas über die Weise mitteilt, in welcher es im Kontakt mit den anderen Teilsystemen der Gesellschaft kommt. Aus dieser Perspektive wird das Sozialsystem:

rekonstruiert durch eine weitere Unterscheidung von Teilsystem und Umwelt. Vom Teilsystem aus gesehen, ist der Rest des umfassenden Systems jetzt Umwelt. Das Gesamtsystem erscheint für das Teilsystem dann als Einheit der Differenz von Teilsystem und Teilsystemumwelt.39

Was den konkreten Fall der ROKS in der Zwischenkriegszeit betrifft, ist die soziale Ordnung von der Beziehung zwischen der orthodoxen Gemeinschaft als einheitliches Teilsystem und seiner Umwelt bestimmt. In diesem Fall besteht Umwelt aus der nationalen Gemeinschaft, dem politischen Bereich und der konfessionellen und religiösen Alterität, die die anderen Zentralsysteme bildeten. Obwohl sie vorwiegend den Begriff Nation verwendet und implizit auch das der Ordnung der Nation, durch den Sinn den sie der Beziehung zwischen der rumänischen Nation und den anderen ethnischen, konfessionellen und religiösen Gruppen zuschreibt, meint die ROKS implizit die Ordnung der gesamten Gesellschaft, an deren Neudefinition und Wandlung sie durch all ihre Handlungen teilnimmt. Wenn die Ordnung eine Bewertung der Beziehungen zwischen verschiedenen Wirklichkeiten benötigt, so bedeutet es, dass dies auch einer Hierarchisierung bedarf. Genauer gesagt, dies bedarf einer hierarchischen Strukturierung der Teile eines Ganzen und selbstverständlich auch bestimmter Kriterien zu deren axiologischen Unterscheidung.40 Die so gebildete Ordnung der ←27 | 28→Gesellschaft setzt ein hierarchisches Verhältnis seiner Untersysteme voraus, welches die ROKS ausgehend von ihrer Vorstellung über das Verhältnis zwischen Orthodoxie und der rumänischen Nation aufbaut.

I.2.4.2. Der Begriff der Nation im Rahmen der Nationalismusforschung

Im intellektuellen Diskurs des 20. Jahrhunderts haben sich zwei Hauptrichtungen für das Verständnis von Nation herausgebildet: Die primordiale und die modernistische (instrumentalistische oder konstruktivistische).41 Der Begriff Nationalismus hat selbst eine Vielzahl von Bedeutungen, die Anthony D. Smith auf vier reduzierte:

The whole process of growth of nations and national states; sentiments of attachment to and pride in the nation; an ideology and language (discourse) extolling the nation; a movement with national aspirations and goals.42

Diese vier Bedeutungen sind offenkundig komplementär. Die Unterscheidung erfolgt nur durch die Betonung des einen oder anderen Elements, welches die Besonderheit markiert (Nationalstaat, Nationalgefühl, ideologischer Diskurs, Nationalbewegung). Der Nationalismus als Bildungsprozess des nationalen Staates setzt eine nationale Bewegung voraus, deren Mitglieder ihr Handeln mit einem nationalen Gefühl und einer nationalen Ideologie begründen. Diese Ideologie ist ihrerseits die konzeptuelle Form der nationalen Gefühle und Bestrebungen.

I.2.4.2.1. Primordialismus: Die Nation als ontologische Gegebenheit

In der Interpretation von Clifford Geertz ist eine Nation eine menschliche Gemeinschaft „based on primordial attachments“, die aus der sozialen Realität hervorgehen, wie z.B. die Zugehörigkeit durch Geburt zu einem bestimmten religiösen oder sprachlichen Raum oder die Einhaltung bestimmter sozialer Gepflogenheiten usw. Die Bindungen, die auf einer Blut-, Brauchtums- oder Sprachgemeinschaft beruhen, haben in der Interpretation von Geertz „an ineffable, and at times overpowering, coerciveness in and of themselves“. Die ←28 | 29→Intensität dieser „primordial bonds“ ist unterschiedlich, abhängig von der historischen Zeit, in der eine bestimmte Menschengemeinschaft existiert und von dem Personentyp, der diese Gemeinschaft bildet. Aber

Details

Seiten
312
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631880081
ISBN (ePUB)
9783631880098
ISBN (Hardcover)
9783631705766
DOI
10.3726/b19759
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Mai)
Schlagworte
Orthodoxismus Diskursanalyse Nationalismus Antisemitismus Faschismus Stăniloae Kirchenelite Öffentlichkeit Modernität Politische Ethnotheologie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 312 S.

Biographische Angaben

Marian Pătru (Autor:in)

Marian Pătru studierte Orthodoxe Theologie an der Lucian-Blaga-Universität Sibiu/Hermannstadt und Ökumenische Theologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Mit der vorliegenden Untersuchung promovierte er im Bereich Geschichtliche Theologie am Institut für Orthodoxe Theologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Titel: Das Ordnungsdenken im christlich-orthodoxen Raum
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