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Arbeitsmarkt- und Berufsinformationen als Datenbasis für eine verbesserte Abstimmung zwischen Bildung und Beschäftigung

Ein Verfahren zur Entwicklung beruflicher Curricula am Beispiel des Bereichs der Informations- und Kommunikationstechnologien

von Maik Jepsen (Autor:in)
©2022 Dissertation 436 Seiten

Zusammenfassung

Das Bestreben eines jeden Landes liegt darin, Mismatch zwischen Bildung und Beschäftigung zu verringern. Der Berufsbildung wird hierbei eine Schlüsselrolle zuerkannt. Für sie besteht die Aufgabe, die bestehenden beruflichen Bildungsangebote fortlaufend zu überprüfen, zu aktualisieren oder neue Angebote zu gestalten. Der Autor entwickelt ein neues Verfahren, um diesen Prozess zu unterstützen. Als Datenbasis dienen Arbeitsmarkt und Berufsinformationen der Bundesagentur für Arbeit. Der Ansatz zeigt, wie sich Qualifikationsbedarfe und berufliche Aufgaben und Anforderungen identifizieren lassen. Die Erprobung des Verfahrens liefert exemplarische Ergebnisse für den IKT-Bereich. Akteure der Berufsbildungsplanung und der Curriculumentwicklung können von der Arbeit profitieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort des Promotionsbetreuers und Reihenmitherausgebers
  • Vorwort
  • Inhalt
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Zur Notwendigkeit der Analyse beruflicher Arbeit
  • 1.2 Untersuchungsgegenstand und Ziel der Untersuchung
  • 1.3 Gang der Untersuchung
  • 1.4 Abgrenzung der Untersuchung
  • 2 Theoretische Einbettung beruflicher Curriculumentwicklung
  • 2.1 Anforderungen an berufliche Bildungsangebote
  • 2.1.1 Zum Verhältnis von Bildung und Beschäftigung
  • 2.1.2 Funktion und Elemente von Curricula
  • 2.1.3 Didaktische Bezugspunkte in der Curriculumkonzeption
  • 2.1.4 Arbeits- und Geschäftsprozessorientierung in der Gestaltung beruflicher Curricula
  • 2.1.5 Berufliche Aufgaben-, Handlungs- und Lernfelder
  • 2.1.6 Lernergebnisse und Kompetenzen in der Berufsbildung
  • 2.1.7 Problembereiche der Curriculumentwicklung
  • 2.2 Beruf als Strukturierungsdimension für Arbeit und Ausbildung
  • 2.2.1 Zum vielschichtigen Berufsbegriff
  • 2.2.2 Gesellschaftliche Arbeitsteilung als Ausgangslage des Berufsphänomens
  • 2.2.3 Merkmale von Berufen im Arbeitsmarkt
  • 2.2.4 Entstehung und Wandel von Berufen
  • 2.2.5 Berufe als Bezugselement für Ausbildungen
  • 2.2.6 Wandel der Beruflichkeit
  • 2.2.7 Zusammenfassung
  • 2.3 Stand der Qualifikationsforschung
  • 2.3.1 Berufliche Arbeit als Gegenstand wissenschaftlicher Forschungsdisziplinen
  • 2.3.2 Forschungsinstrumente und Methoden der Qualifikationsforschung
  • 2.3.3 Herausforderungen bisheriger Forschungsansätze
  • 2.3.4 Arbeitsmarkt- und Berufsinformationen im Rahmen der Qualifikationsforschung
  • 2.3.5 Zusammenfassung
  • 2.4 Europäische Konzepte zur Entwicklung beruflicher Bildungsangebote
  • 2.4.1 Standards in der Berufsbildung
  • 2.4.2 Grundformen von Berufsstandards
  • 2.4.3 European e-Competence Framework – ein europäischer Rahmen für IKT-Berufsstandards
  • 2.4.4 Zum „Job Competence Model“
  • 2.4.5 Zur Entwicklung ergebnisorientierter Berufsstandards
  • 2.4.6 Zusammenfassung
  • 3 Arbeitsmarkt- und Berufsinformationen in Deutschland
  • 3.1 Historische Entwicklungslinien der Berufsforschung
  • 3.1.1 Interesse an beruflichen Informationen
  • 3.1.2 Berufskunde als Grundlage für Arbeitsvermittlung und Berufsberatung
  • 3.1.3 Methodische Ansätze der Berufsanalyse
  • 3.2 Klassifikation der Berufe 2010
  • 3.2.1 Funktion und Verwendung der Klassifikation der Berufe
  • 3.2.2 Struktur der Klassifikation der Berufe 2010
  • 3.2.3 Datenbasis und Entwicklung der Klassifikation der Berufe 2010
  • 3.3 Berufsinformationssystem BERUFENET
  • 3.3.1 Zugang zum BERUFENET
  • 3.3.2 Struktur und Systematik des BERUFENET
  • 3.3.3 Kategorien der beruflichen Datensätze
  • 3.3.4 Zusammenhang zwischen Ausbildungen und Erwerbsberufen
  • 3.3.5 „Kompetenzen“ im BERUFENET
  • 3.3.6 Datenbasis und Aktualisierung des BERUFENET
  • 3.4 Zusammenfassung
  • 4 Verfahren zur Curriculumentwicklung – Methodologie und Forschungsdesign
  • 4.1 Kernelemente des Forschungsansatzes und Präzisierung der Fragestellungen
  • 4.2 Datenquellen, Fallauswahl und Eingrenzung der Analyse
  • 4.3 Quantitative Analysen der Arbeitsmarkt- und Berufsinformationen
  • 4.4 Qualitative Analysen der Berufsinformationen
  • 4.5 Ansatz zur Kompetenzbeschreibung von beruflichen Arbeitsaufgaben
  • 5 Exemplarische Ergebnisse des Verfahrens zur Curriculumentwicklung
  • 5.1 Analyse der beruflichen Struktur sowie Qualifikationen im IKT-Bereich
  • 5.1.1 Berufliche Differenzierungen in der IKT-Arbeit
  • 5.1.2 Berufsbenennungen und Anforderungsniveaus in der IKT-Arbeit
  • 5.1.3 IKT-Qualifikationsangebote
  • 5.1.4 Reflexion der beruflichen Strukturanalyse
  • 5.2 Analyse der Qualifikationsbedarfe in der IKT-Arbeit
  • 5.2.1 Beschäftigungszahlen in der IKT-Berufshauptgruppe
  • 5.2.2 Anforderungsniveaus der IKT-Beschäftigten
  • 5.2.3 Qualifikationsniveau der IKT-Beschäftigten
  • 5.2.4 Wirtschaftszweige der IKT-Beschäftigten
  • 5.2.5 Regionale Betrachtung der Beschäftigungssituation
  • 5.2.6 Reflexion der Qualifikationsbedarfsanalyse
  • 5.3 Analyse der beruflichen Arbeitsaufgaben im IKT-Bereich
  • 5.3.1 Berufliche Aufgabenfelder in der IKT-Arbeit
  • 5.3.2 Der Gegenstandsbereich von IT-Lösungen
  • 5.3.3 Struktur der beruflichen IKT-Aufgabenfelder
  • 5.3.4 IKT-Aufgabenfelder in Bezug zum European e-Competence Framework
  • 5.3.5 Gemeinsame Aufgaben der IKT-Berufe
  • 5.3.6 Berufliche „Outcomes“ in der IKT-Arbeit
  • 5.3.7 Reflexion der beruflichen Aufgabenanalyse
  • 6 Interpretation der Ergebnisse sowie didaktische Empfehlung zur Curriculumentwicklung im IKT-Bereich
  • 6.1 Wachsender Qualifikationsbedarf und möglicher Mismatch im IKT-Bereich
  • 6.2 Aufgabenfelder und ihre Relevanz in der IKT-Arbeit
  • 6.3 Curriculumentwicklung an Fachschulen für Technik im IT-Bereich in Schleswig-Holstein
  • 7 Nutzen von Arbeitsmarktinformationen zur Entwicklung beruflicher Curricula – Chancen und Vorbehalte
  • 7.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
  • 7.2 Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen für die Praxis
  • 7.3 Grenzen des Verfahrens
  • 7.4 Implikationen für die berufswissenschaftliche Forschung
  • Literaturverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Anhang
  • A 1: Berufsbenennungen der IKT-Berufe
  • A 2: Qualifikationsangebote für IKT-Berufe
  • A 4: Genese der Informatikberufe auf Basis von Berufsklassifikationen
  • A 5: IKT-Beschäftigtenanzahlen
  • A 5.1: IKT-Beschäftigtenanzahlen nach Berufsgruppen der Jahre 2012 und 2018
  • A 5.2: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte nach Anforderungsniveau
  • A 5.3: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte nach Berufsabschluss
  • A 5.4: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte nach Wirtschaftsabteilungen der WZ 2008 und ausgewählten Berufen der KldB 2010
  • A 5.5: Branchenindikator “Beruf in Wirtschaftsabteilungen (BiWa)“ für IKT-Berufe
  • A 5.6: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in der Berufsuntergruppe „4334 Berufe in der IT-Systemadministation“ nach Wirtschaftsabteilungen der WZ 2008, absteigend
  • A 6: Codierleitfaden der qualitativen Inhaltsanalyse
  • A 7: Kategoriensysteme der MAXQDA-Analyse
  • A 7.1: Kategoriensystem zur Ermittlung beruflicher Aufgabenfelder
  • A 7.2: Kategoriensystem „BA-Kompetenzen“
  • A 8: Durchdringungsgrad der Aufgabenfelder (n =103)
  • Reihenübersicht

←14 | 15→

1 Einleitung

1.1 Zur Notwendigkeit der Analyse beruflicher Arbeit

Eine dauerhafte Herausforderung jeder Arbeitsgesellschaft besteht darin, die Diskrepanz zwischen den benötigten Anforderungen in der beruflichen Arbeit und dem Arbeitsvermögen der Bewerber1 zu verringern (vgl. Baethge & Teichler 1995, S. 207 f.; Brater 2010, S. 805). In der internationalen Literatur wird dieses Phänomen als „Skill Mismatch“ bezeichnet, das verschiedene Passungsprobleme wie z. B. Überqualifizierung, Unterqualifizierung, Qualifikationsdefizite, Fachkräfteüberschuss sowie Fachkräftemangel zusammenfasst (vgl. Cedefop 2010a, S. 2; ILO 2014). Der Taxi fahrende Akademiker wird beispielsweise häufig herangezogen, um eine formale Überqualifikation – eine Person weist eine höhere Qualifikation auf, als die Arbeit es von ihr erfordert – zu beschreiben. Unterqualifikation besteht dann, wenn Personen zur Ausübung ihrer aktuellen Arbeit nicht den üblichen, notwendigen formalen Abschluss besitzen, z. B. Personen sind ohne berufliche Ausbildung als IT-Fachkraft tätig.

Skill Mismatch ist ein dauerhaftes und sich zugleich zuspitzendes Problem, das durch globale Faktoren beeinflusst wird. Hierzu gehören z. B. demographischer Wandel, technologische Innovationen, Klimawandel sowie der weltweit steigende Bildungsstand (vgl. ILO 2015, S. 2).

Das Europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (Cedefop) hat im Jahre 2014 mit dem „European skills and jobs survey (ESJS)“ die bestehenden Skill-Mismatch-Problemfelder in den Ländern der Europäischen Union ermittelt (Cedefop 2015). Die Untersuchung kommt zum Ergebnis, dass die beruflichen Fähigkeiten von 44 % der Erwerbstätigen nicht ausreichen, um die volle Produktivität in ihrer Arbeit zu erreichen und ein nicht ausgeschöpftes Potential besteht (vgl. ebd., S. 43). Insbesondere besteht eine Unterqualifizierung für Personen, die älter als 40 Jahre sind (vgl. ebd., S. 37).

Insgesamt sind die Folgen der verschiedenen Arten von Skill Mismatch sowohl für die wirtschaftliche Entwicklung als auch für die Menschen relevant. ←15 | 16→Sie können insbesondere zu geringerer Produktivität, höheren Sozialkosten, geringerer Arbeitszufriedenheit und Diskriminierung führen (vgl. Cedefop 2010d, S. 51 ff.). Aus diesen Gründen wird die Reduzierung des Skill Mismatch als eine zentrale Herausforderung betrachtet. Sie steht auf der politischen Tagesordnung vieler Länder.

Der Berufsbildung wird eine Schlüsselrolle zuerkannt, Skill Mismatch zu reduzieren. Ihre Aufgabe besteht u. a. darin, allen Menschen Möglichkeiten zu bieten, ihre Fähigkeiten aus der Perspektive des lebensbegleitenden Lernens weiterzuentwickeln, um kontinuierlich verändernde Anforderungen und Bedingungen der Arbeitswelt zu bewältigen (vgl. Wilson et al. 2016, S. 5). Gegenwärtig bestehen beispielsweise hohe Erwartungen an die berufliche Weiterbildung, um den prognostizierten beruflichen Herausforderungen infolge der digitalisierten Arbeitswelt zu begegnen (vgl. Weber 2017, S. 372; Zika et al. 2019, S. 27).

Nicht oder nur unzureichend mit dem Arbeitsmarkt abgestimmte Berufsbildungssysteme können dagegen Skill Mismatch befördern, was zu einer geringeren Beschäftigungsfähigkeit der Menschen führen kann (vgl. Cedefop 2010c, S. 3; Wilson et al. 2016, S. 5). Berufliche Curricula bilden eine zentrale Instanz, um eine Verbindung zwischen Bildungsangeboten – dem Bildungssystem – und beruflichen Anforderungen – dem Beschäftigungssystem – herzustellen (siehe Abbildung 1–1; vgl. Klebl & Popescu-Willigmann 2015, S. 10).

Abbildung 1–1:Wechselwirkungszusammenhang zwischen Arbeitswelt und Berufsbildung (in Anlehnung an Petersen 1996a, S. 214)

←16 | 17→Mit den in den 1990er-Jahren eingeführten Curriculum Reformen zur Arbeitsorientierung in der beruflichen Bildung wurde beabsichtigt, eine bessere Abstimmung mit der Arbeitswelt zu erzielen. In einem grundlegenden Perspektivwechsel finden fortan die curricularen Inhalte in der beruflichen Arbeit ihre Begründung, anstatt isoliert von vermeintlich korrespondierenden Fachwissenschaften abgeleitet zu werden. Mit „Ein Fach ist eben kein Beruf“ bringen Neuweg und Putz diese Problematik auf den Punkt (Neuweg & Putz 2018, S. 684). Darunter wird jedoch keine einfache Anpassung bzw. kein purer Funktionalismus der beruflichen Bildung an die Arbeit verstanden, sondern vielmehr der Anspruch, durch Mitgestaltung und Partizipation die Arbeitswelt und Berufsbildung weiterzuentwickeln (vgl. Petersen 1996a, S. 214). Das Ziel der beruflichen Bildung, berufliche Handlungsfähigkeit mit gesellschaftlichen Bildungsansprüchen zu vereinen, steht außer Frage. Es geht darum, junge Menschen zu befähigen, ihre berufliche Zukunft als auch ihre Zukunft in Familie und Gesellschaft verantwortlich zu gestalten (vgl. KMK 2017a, S. 13 f.). Es besteht die Notwendigkeit, auf den Arbeits-, Technik- und Demografie-Wandel der Erwerbstätigkeit zu reagieren und gleichzeitig diesen auch prospektiv mitzugestalten (vgl. Petersen 1996a, S. 214 ff.).

Zur Gestaltung arbeitsorientierter beruflicher Bildungsgänge ist es daher naheliegend und zugleich unerlässlich, eine fundierte Analyse der Arbeitswelt vorzunehmen, deren Merkmale zu identifizieren und sie curricular und didaktisch aufzubereiten. Auf diese grundlegende Problematik in der Curriculumentwicklung beruflicher Bildungsgänge machten u. a. Stratmann (vgl. Stratmann 1975) und Teichler (Teichler 1995, S. 502) aufmerksam. Sie sehen hierin eine entsprechende Forschung begründet. Deren Aufgabe formuliert Rauner dahin gehend, „[…] einen Zusammenhang […] zwischen den in der Berufsarbeit inkorporierten Kompetenzen, der Entwicklung von Berufsbildern und die Begründung von Inhalten, Zielen und Strukturen beruflicher Bildung“ herzustellen (vgl. Rauner 2004a, S. 10).

Situation der Curriculumentwicklung für schulische berufliche Bildungsgänge

Trotz mittlerweile etablierter berufswissenschaftlicher Forschungsansätze (Becker & Spöttl 2008) und Verankerung der Berufsbildungsforschung im Berufsbildungsgesetz (BBiG) (2019, § 84) fehlt deren Implementierung in Teilen der Berufsbildungspraxis. Insbesondere zeichnet sich ein anderes Bild ab, wenn es um die Entwicklung von schulischen Berufsbildungsangeboten geht, die außerhalb des Geltungsbereichs des BBiG und der Handwerksordnung ←17 | 18→(HWO) liegen. Hierzu stehen gewöhnlich keine vergleichbaren, gesetzlich verankerten Verfahren und Forschungsmittel zur Verfügung, die eine Entwicklung von arbeitsmarktrelevanten beruflichen Bildungsangeboten unterstützen. Gewöhnlich übernehmen die Lehrkräfte beruflicher Schulen diese Aufgaben, ohne Einbindung von Sozialpartnern und ohne wissenschaftliche Begleitung.

In den Handreichungen der Kultusministerkonferenz (KMK) werden zwar normative Vorgaben – es sind Lernfelder zu entwickeln, die sich auf berufliche Handlungsfelder beziehen (vgl. KMK 2017a; KMK 2017b, S. 6) – definiert, jedoch wird nicht ersichtlich, wie dies im Falle für rein schulische berufliche Bildungsgänge geschehen kann (vgl. Pätzold & Rauner 2006a, S. 14). Rauner und Pätzold fassen dies treffend als „Dilemma schulischer Lehrplankommissionen“ (ebd., S. 14) zusammen.

Die Problematik erfährt mit der Weiterentwicklung von beruflichen Schulen zu Dienstleistungsunternehmen – in Schleswig-Holstein Regionale Berufsbildungszentren (RBZ) – eine zunehmende Bedeutung. Die erweiterten Befugnisse gehen mit der Übertragung von Verantwortung einher, eigenständig ein verbessertes und mit der Wirtschaft abgestimmtes berufliches Bildungsangebot bereitzustellen (vgl. MBF 2007, S. 7). Euler und Severing unterstreichen die besondere Rolle der Berufsbildung im Zuge der gegenwärtigen Veränderungen in eine digitale Arbeitswelt (vgl. Euler & Severing 2020). Sie fordern u. a. von Fachschulen ein höheres Engagement, um curriculare Angebote zur Entwicklung von Digitalkompetenzen – die bundesweiten Standards genügen – in der beruflichen Weiterbildung zu etablieren (vgl. ebd., S. 24 ff.).

Es zeigt sich jedoch, dass curriculare Reformen aufgrund von Veränderungen in der Arbeitswelt nur begrenzt gelingen. Eine bundesweite Umfrage zur Arbeit in Lehrplankommissionen an Fachschulen für Technik im Jahre 2017 legt dar, dass die Fachschulcurricula meist veraltet und kaum eine Arbeits- und Kompetenzorientierung aufweisen (vgl. Jepsen 2021). Nur für knapp die Hälfte der Befragten spiegeln die Lehrpläne ein attraktives Bildungsangebot wider, das aktuellen beruflichen Anforderungen des Arbeitsmarktes gerecht wird. Für die überwiegende Anzahl der befragten Lehrkräfte leisten die derzeitigen Lehrpläne nur einen geringen Beitrag für die unterrichtliche Umsetzung (vgl. ebd.).

Hier bestätigt sich die bereits in den 1960er-Jahren von Grüner erhobene Sorge über die Aktualität curricularer Inhalte an beruflichen Schulen (vgl. Grüner 1975, S. 143). Zugleich können die von der KMK formulierten Modernisierungsansätze für eine zukunftsweisende Berufsbildung bekräftigt werden, die eine kompetenzorientierte Gestaltung, u. a. eine lernergebnisorientierte Grundstruktur von Ordnungsmitteln zu konstituieren, beabsichtigen (vgl. KMK 2010, S. 5 f.).←18 | 19→

Ferner wird in der Praxis das als „Producer Capture“ bekannte Phänomen ersichtlich. Es beschreibt die Gefahr, dass sich die Institutionen bei der curricularen Gestaltung mehr an dem orientieren, was ihre Lehrkräfte in der Lage sind zu leisten und weniger daran, was derzeit und zukünftig im Beschäftigungssystem relevant ist (vgl. Allais et al. 2009, S. 9). So gaben die befragten Lehrplanentwickler an, dass die Gestaltung zukünftiger Bildungsangebote hauptsächlich auf den eigenen Erfahrungen als Lehrkraft beruht. Diese basieren insgesamt auf keinen gesicherten Daten und sind somit nicht frei von Eigeninteressen und zufälligen Impulsen (vgl. Jepsen 2021).

Insgesamt bestätigt sich die von Pätzold und Rauner beschriebene Notwendigkeit berufswissenschaftlicher Begleitforschung (vgl. Pätzold & Rauner 2006b, S. 14). Sie hätte die Aufgabe, Entscheider in der Bildungsplanung sowie die Gruppe von Lehrplanentwicklern mit einer repräsentativen Datenbasis zu versorgen, die frei von interessenpolitischen Zielen ist. Die Informationen sollten über einen möglichen zukünftigen Bedarf an Fachkräften eines beruflichen Bereichs aufklären sowie (zukünftige) berufliche Aufgabenfelder und Anforderungen eines entsprechenden Niveaus beinhalten. Derartig abgesicherte Informationen können didaktisch bewertet in die Entwicklung kompetenzbasierter Curricula einfließen. Die auf dieser Basis bei ihrer Entwicklung begleiteten Bildungsgänge hätten dann das Potential, ausgehend von bedeutsamen beruflichen Kontexten, sinnstiftende Bildungsprozesse zu initiieren, um zur Persönlichkeitsentwicklung beizutragen und gleichzeitig ihren Absolventen realistische Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu gewähren.

1.2 Untersuchungsgegenstand und Ziel der Untersuchung

In den letzten Jahrzehnten haben sich im Rahmen der Berufsbildungsforschung die methodischen Ansätze weiterentwickelt, um Gegenstände, Anforderungen und Zusammenhänge beruflicher Arbeit zu identifizieren und für die Gestaltung der Berufsbildung aufzubereiten.

Zu den Instrumentarien gehören u. a. empirisch-analytische Verfahren wie Arbeitsbeobachtungen, Expertengespräche, Fallstudien, Befragungen und Experten-Facharbeiter-Workshops (vgl. Rauner & Grollmann 2018, S. 721 ff.).

Eine Herausforderung dieser Verfahren besteht darin, dass die empirischen Ansätze der Datengewinnung einen hohen Aufwand erfordern können, um repräsentative Ergebnisse hervorzubringen (vgl. Fischer 2014, S. 19). Zudem weisen die Forschungsvorhaben meist eine geringe Kontinuität auf, da sie gewöhnlich anlassbezogen z. B. im Rahmen von Neuordnungsverfahren oder Evaluierungen dualer Ausbildungsberufe erfolgen (vgl. Petersen & Wehmeyer 2003; Schwarz et al. 2016).←19 | 20→

Insgesamt besteht daher ein Bedarf an ökonomisch-orientierten Forschungsansätzen, mit deren Hilfe langfristig und kontinuierlich relevante Daten über berufliche Arbeit zur Verfügung stehen.

Arbeit und Berufe sind ferner ein Forschungsgegenstand am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das eine eigenständige Abteilung der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg ist. Das IAB veröffentlicht seit Ende der 1960er-Jahre kontinuierlich wissenschaftliche Erkenntnisse über den Arbeitsmarkt und über Berufe (vgl. Blaschke et al. 1994, S. 15 ff.).

Die in Deutschland von der Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung gestellten Arbeitsmarkt- und Berufsinformationen beinhalten u. a. die Klassifikation der Berufe (KldB) 2010 mit ihren diversen darauf basierenden Statistiken sowie das Berufsinformationssystem BERUFENET (https://berufenet.arbeitsagentur.de) (BA 2011a).

Das Interesse am zentralen Gegenstand „Beruf“ verdeutlicht den Überschneidungsbereich zwischen Berufsforschung und Berufsbildungsforschung, den u. a. Pahl hervorhebt (vgl. Pahl 2018). In der Forschungspraxis zeigt sich jedoch, dass die hervorgebrachten Daten und Erkenntnisse der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nur wenig Eingang in die Berufsbildungsforschung finden.

Ausnahmen bilden die Beiträge von Petersen (u. a. 2014; 2015; 2018a) sowie Petersen und Wehmeyer (2004). Die Ansätze zeigen, wie Erwerbs- und Bildungsberufe mithilfe verschiedener Klassifikationen des Beschäftigungs- und Bildungssystems national und international systematisiert werden können und so zu mehr Transparenz führen.

Becker und Spöttl verweisen auf die Informationsquelle der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im Rahmen von Sektoranalysen (vgl. Becker & Spöttl 2008, S. 84 ff.). Der Nutzen beschränkt sich jedoch vorrangig darauf, eine Fallauswahl für tiefergehende empirische Untersuchungen mit direktem Zugang zu betrieblichen Arbeitsprozessen zu erhalten (vgl. Becker & Spöttl 2006, S. 10).

Demgegenüber erhebt die Internationale Labour Organization (ILO) seit vielen Jahrzehnten die Forderung, international Arbeitsmarkt- und Berufsinformationen der Arbeitsagenturen als Quelle für die Berufsbildungsplanung zu nutzen (vgl. Phan et al. 2001, S. 62; Richter 1989, S. 1; Řihová 2016). Die Bedeutung der Arbeitsagenturen als kontinuierlicher Lieferant derartiger Daten wird hierbei betont. In gemeinsamen Leitfäden untermauert die ILO gemeinsam mit der European Training Foundation (ETF) und dem Cedefop mithilfe internationaler Beispiele den Mehrwert der Informationen für die Berufsbildung (vgl. Andersen et al. 2015).←20 | 21→

Petersen weist – im Zusammenhang mit seinen Analysen – auf das Potential des Materials hinsichtlich berufsdidaktischer Abstimmungsprobleme hin, formuliert aber gleichzeitig dringenden Klärungsbedarf (vgl. Petersen 2018a, S. 105). Weitergehende Analysen der Daten, insbesondere die Auswertung aus der Berufsbildungsperspektive, sind bisher nicht bekannt. Diese Einschätzung wird durch die Ergebnisse internationaler Studien durch die ILO/ETF/Cedefop gestützt. Vor allem sehen sie einen Bedarf an forschungsökonomisch-orientierten Methoden, um stetig Veränderungen der Arbeits- und Berufsanforderungen zu identifizieren (vgl. Wilson et al. 2016, S. 113).

Zusammengefasst lässt sich konstatieren, dass die Arbeitsmarkt- und Berufsinformationen der Bundesagentur für Arbeit in Deutschland bisher nur eine untergeordnete Rolle im Rahmen der Berufsbildungsforschung einnehmen. Zudem ist die aktuell zur Verfügung stehende Datenlage aus Sicht der Berufsbildung nur unzureichend erforscht. Folglich existieren nur wenige methodische Ansätze, die Daten im Rahmen der Berufsbildung zu nutzen.

Aus diesem Desiderat resultiert die leitende Fragestellung der Arbeit. Sie lautet:

Wie kann die Curriculumentwicklung beruflicher Bildungsgänge mithilfe von Arbeitsmarkt- und Berufsinformationen der Bundesagentur für Arbeit unterstützt werden?

Mit der Untersuchung wird das Ziel verfolgt, das mögliche Potential der Daten im Rahmen der Curriculumentwicklung beruflicher Bildungsgänge aufzuzeigen. Ein Schwerpunkt liegt darin, geeignete Methoden zu erproben und in einem Verfahren zu arrangieren, um ausgewählte, grundlegende curriculare Fragestellungen im Rahmen der Entwicklung beruflicher Bildungsgänge zu erschließen. Hierzu gehören für einen beruflichen Bereich u. a.

  • Berufe in der Arbeitswelt und berufliche Bildungsgänge in ihrem Zusammenhang darzustellen,
  • einen möglichen Qualifikationsbedarf abzuschätzen,
  • berufliche Aufgabenfelder zu identifizieren,
  • berufsübergreifende Aufgaben zu eruieren,
  • Arbeitsaufgaben zu erkunden und einen Formulierungsansatz für berufliche Outcomes zu erproben,
  • Arbeitsaufgaben hinsichtlich verschiedener Anforderungsebenen zu unterscheiden.←21 | 22→

1.3 Gang der Untersuchung

Der Gegenstand der theoretischen Analysen umfasst insbesondere folgende Themenbereiche:

Grundsätzliche Anforderungen an berufliche Curricula

Ausgehend von der Interdependenz zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem richtet sich der Blick auf grundsätzliche Funktionen und Elemente von Curricula sowie auf die grundlegenden didaktischen Bezugspunkte in der beruflichen Bildung wie die seit Mitte der 1990er-Jahre eingeleitete Arbeitsorientierung und der Perspektivwechsel zur Kompetenzorientierung. Die Ergebnisse der theoretischen Betrachtung liefern den Begründungszusammenhang für die in dieser Arbeit aufgeworfenen Unterfragen. Die theoretischen Analysen umfassen zudem die Klärung zentraler Begriffe sowie strukturelle Elemente von Curricula in der Berufsbildung. Die grundsätzlichen Problembereiche und üblichen Phasen in der Curriculumentwicklung werden aufgezeigt. Sie dienen dazu, die in der Arbeit entwickelten Verfahrenselemente einordnen zu können.

Beruf als verbindendes Element zwischen Bildung und Beschäftigung

Die Klärung des Berufsbegriffs erfährt eine besondere Aufmerksamkeit, da er ein verbindendes Element zwischen Bildung und Beschäftigung einnimmt. Die Begriffsklärung konzentriert sich entsprechend auf diesen Zusammenhang und erläutert die für diese Arbeit notwendige Differenzierung. Eine historische Betrachtung gibt Aufschluss über die grundsätzliche Genese von Berufen sowie die veränderte Bedeutung im Rahmen der Erwerbstätigkeit.

Identifikation beruflicher Arbeitsaufgaben

Die in der Arbeit entwickelten Verfahrenselemente lassen sich zu einem großen Teil dem „Analyseproblem“ im Rahmen der arbeitsorientierten Curriculumentwicklung zuordnen (vgl. Fischer 2014, S. 18). Es geht zunächst um die Analyse von Arbeit und Beruf im Beschäftigungssystem. Für den Problembereich werden gängige Forschungsansätze und Forschungsinstrumente dargestellt. Ferner werden die Grenzen und Probleme erläutert, die im Zusammenhang mit den Ansätzen in der Praxis wahrgenommen werden. Die Rolle von Arbeitsmarkt- und Berufsinformationen im Rahmen der Curriculumentwicklung erfährt hierbei eine besondere Beachtung, indem bisherige nationale Ansätze zur Einbindung der Daten aufgezeigt werden.←22 | 23→

Im Hinblick auf die Forderung einer Kompetenzorientierung in beruflichen Curricula richtet sich der Blick auf Theorien und Umsetzungskonzepte im angelsächsischen Raum. Insbesondere zeigt die Analyse britischer Konzepte der 1980er und 1990er-Jahre, wie sich die berufliche Bildung von einer Input- hin zu einer Outcome-Orientierung wandelte. Die Konzepte haben maßgeblich dazu beigetragen, die Reformaktivitäten und Empfehlungen der Europäischen Union zu gestalten. Hierbei interessiert nicht die modularisierte Zertifizierungspraxis (NVQs), die dem deutschen Berufskonzept entgegensteht. Vielmehr geht es darum, die theoretischen Hintergründe – insbesondere das „Job Competence Model“ – zu verstehen und in Bezug zu einer ganzheitlichen Sichtweise auf Berufe nach dem deutschen Berufskonzept zu setzen. Ferner wird die Funktion sogenannter „Occupational Standards“ im europäischen Vergleich dargestellt. Für die Arbeit sind einerseits das Konzept sowie andererseits die Beschreibungselemente der britischen Konzepte für „berufliche Outcomes“ von Bedeutung.

Details

Seiten
436
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631876831
ISBN (ePUB)
9783631876848
ISBN (MOBI)
9783631876855
ISBN (Hardcover)
9783631876800
DOI
10.3726/b19636
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juni)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 436 S., 1 farb. Abb., 72 s/w Abb., 27 Tab.

Biographische Angaben

Maik Jepsen (Autor:in)

Maik Jepsen studierte Elektrotechnik und Lehramt für berufliche Schulen in Flensburg. Vor seinem Eintritt in den Lehrerberuf arbeitete er als Ingenieur in internationalen Telekommunikationsunternehmen. Maik Jepsen ist als Lehrkraft in der beruflichen Aus- und Weiterbildung sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Berufsbildungsinstitut Arbeit und Technik an der Europa-Universität Flensburg tätig.

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