Lade Inhalt...

Melitta Urbancic: Lyrik am Rand der Welt

Exil und Integration in Island

von Agneta Hauber (Autor:in)
©2022 Dissertation 248 Seiten

Zusammenfassung

Die Wiener Lyrikerin Dr. Melitta Urbancic (1902-1984) musste aufgrund ihrer jüdischen Herkunft 1938 ins Exil gehen. Das Schicksal führte sie und ihre Familie nach Island, wo sie bis zu ihrem Tod wohnhaft blieb. Das Dichten war ihre geistige Überlebensstrategie, die Existenzphilosophie Karl Jaspers’ ihr philosophischer Lebensfaden. Als Konvertitin war sie fest im katholischen Glauben verankert. So sah sie sich gerüstet, um mit den Erfahrungen des Exils ihr neues Land bewusst anzunehmen. In Island fand sie – ohne ihre Heimat zu verges-sen – eine persönliche Form der Integration, eine nicht ausgrenzende, sondern einschließende Lebensform der Bikulturalität. Melitta Urbancic war literarisch von Rainer Maria Rilke, Stefan George und Friedrich Gundolf beeinflusst. Stets blieb sie einer Poetik der traditionellen Vers- und Reimform treu.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Dankesworte
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Biografischer Überblick
  • 2.1 Lebenslauf
  • 2.2 Literarischer und intellektueller Einfluss der Jugend- und Studienzeit
  • 2.3 Poetologie
  • 2.4 Das literarische Werk Melitta Urbancics
  • 2.5 Die Lyrik Melitta Urbancics im zeitgenössischen literarischen Kontext
  • 3 Island, das Land des Exils
  • 4 Exilliteratur
  • 4.1 Begriff Exilliteratur
  • 4.2 Fehlendes Gefahrenbewusstsein
  • 4.3 Orte des Exils
  • 4.4 Allgemeine Schaffensprobleme
  • 4.5 Innere Emigration
  • 4.6 Formen und Themen der Exilliteratur
  • 4.6.1 Verlage und Zeitschriften
  • 4.7 Rezeption
  • 4.8 Exilliteraturforschung
  • 4.8.1 Feministische Ansätze in der Exilliteraturforschung
  • 4.9 Exillyrik
  • 5 Relevante Analysebegriffe der Lyrik
  • 5.1 Überlegungen zum Begriff Lyrik
  • 5.2 Das lyrische Ich
  • 5.3 Metrum und Rhythmus
  • 5.4 Klang- und Bildfiguren
  • 5.4.1 Klangfiguren
  • 5.4.2 Bildfiguren
  • 5.5 Relevante Methoden der Analyse
  • 6 Zentrale Themen des zu analysierenden Korpus
  • 6.1 Heimat
  • 6.1.1 Zum Begriff der Heimat
  • 6.1.2 Semantische Verknüpfungen mit dem Begriff Heimat
  • 6.1.3 Der Wert der Heimat
  • 6.1.4 Remigration
  • 6.1.5 Der Verlust der Heimat
  • 6.1.6 Unheimliche Heimat
  • 6.1.7 Heimat in der Sprache
  • 6.1.8 Heimat als eine identitätsstiftende Zugehörigkeit
  • 6.2 Erinnerung
  • 6.2.1 Gedächtnis – Erinnerung
  • 6.2.2 Das individuelle Erinnern
  • 6.2.3 Die Zuverlässigkeit der Erinnerung
  • 6.2.4 Vergessen
  • 6.2.5 Trauma und Erinnerung
  • 6.2.6 Kollektives Erinnern
  • 6.3 ‚Fremdheit‘ und Integration
  • 6.3.1 Der Fremde
  • 6.3.2 Zwei Kulturen
  • 6.3.3 Der Begriff „Integration“
  • 6.3.4 Die Integration Melitta Urbancics
  • 6.3.5 Bikulturalität
  • 6.3.6 Überschreiten der Grenze
  • 6.3.7 Vorwärts- und Rückwärtsblicken
  • 7 Analyse ausgewählter Gedichte
  • 7.1 Einführung
  • 7.2 Vorahnung
  • 7.3 Flucht
  • 7.4 Island, das fremde Land
  • 7.5 Eine Nicht-Existenz
  • 7.6 Freundschaft
  • 7.7 Im Ewigen Sein verbunden
  • 7.8 Ich will leben
  • 7.9 Annahme der neuen Heimat
  • 7.10 Trost
  • 7.11 Suche nach einem neuen Selbst
  • 7.12 Nichtzugehörigkeit
  • 7.13 Die Wahlheimat
  • 7.14 Melitta Urbancic blieb eine „gefühlte“ Ausländerin
  • 7.15 Rückblicke
  • 8 Zusammenfassung und Beantwortung der gestellten Fragen
  • 8.1 Zusammenfassung
  • 8.2 Beantwortung der gestellten Forschungsfragen
  • 8.2.1 Welche sind die zentralen Themen des Prozesses Flucht–Exil–Integration?
  • 8.2.2 Wie ist das Subjekt entworfen und mit welcher Authentizität ausgestattet?
  • 8.2.3 Mit welchen dichterischen Mitteln hat die Autorin diesen Prozess gefasst?
  • 8.2.4 Welche Relevanz hat ihr eigenes Dichten in dem Prozess der Integration?
  • 8.2.5 In welchen zeitgenössischen Kontext ist ihre Lyrik einzuordnen?
  • 8.3 Schlussworte
  • 8.4 Fazit
  • 9 Primärliteratur
  • 10 Sekundärliteratur
  • 11 Anhang
  • 11.1 Abstract
  • 11.2 Abstract (English)
  • 11.3 Biografie Melitta Urbancic
  • 11.4 Gespräch
  • 11.5 Interview I (Auszüge)
  • 11.6 Interview II
  • Reihenübersicht

←10 | 11→

1 Einleitung

Islandsegen

Mein grimmer Anhauch

grüsse dich

[…]

Mit Sehnsucht dauernd

segne ich!1

Die umrahmenden Verse des Gedichtes Islandsegen können als Umrahmung des Exillebens Melitta Urbancics2 in Island gesehen werden. Nach der Ankunft in dem Land als unwillkommene Emigrantin entwickelte sich Island für Melitta Urbancic zu ihrer Wahlheimat, in der sie bis zu ihrem Tod lebte.

Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft mussten Melitta Urbancic und ihre Familie nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 ihre Heimat verlassen. Ihr Mann, der Musiker Victor Urbancic, erhielt in Island eine Arbeitsgenehmigung, worauf auch die Familie für dieses Land eine Aufenthaltsgenehmigung bekam und dort eine Unterkunft fand. Für Melitta Urbancic, eine akademisch gebildete, an der Kultur und Natur Mitteleuropas aktiv teilnehmende Mitteleuropäerin, war Island „Terra incognita“. Das unbekannte Land, dessen karge und ungastliche Natur, dessen unbekannte Sprache, dessen andersartige Kultur und befremdende soziale Umgangsformen, hatte auf Melitta Urbancic anfänglich eine abweisende Wirkung. Es sollte sich zeigen, dass sich später daraus eine tief empfundene Dankbarkeit, eine Wertschätzung und sogar eine besondere Art von Liebe vonseiten der Autorin dem Land gegenüber entwickelten. Das Zusammentreffen der Lyrikerin Melitta Urbancic mit dem unbekannten Land Island verspricht eine Lyrik mit neuen und unbekannten Perspektiven auf ein Leben im Exil und den Prozess einer Integration3. Die poetische Artikulation der Entwicklung dieses Prozesses in der Lyrik Melitta Urbancics ist das Thema dieser Arbeit.

←11 | 12→

Der Literatur des Exils, entstanden aufgrund der politischen und rassistischen Verfolgung durch das Regime der Nationalsozialisten, wurde zwanzig Jahre lang in Westdeutschland sowie in Österreich4 kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Erst in den 1960er Jahren in Folge der Öffnung der Gesellschaft für Fragen bezüglich der Vätergeneration dieser Zeit und das daraus folgende Einsetzen einer Aufarbeitung der Vergangenheit, die lange verdrängt worden ist, entstand in Westdeutschland ein Interesse für die Exilliteratur und damit auch für die Exillyrik. Die „Stunde Null“ als Signal eines Neuanfangs in der deutschen Nachkriegsgesellschaft zeigte sich für ehemalige Exilanten5 und Emigranten inhaltslos. Als Remigranten stießen sie in der Heimat, ob Westdeutschland oder Österreich, auf Ablehnung. Die verbreitete Meinung über die Situation der Exilierten während des Krieges beschrieb Frank Thiess 1945 in seiner Kontroverse mit Thomas Mann: Sie (die Exilanten) sahen „aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie“6 zu. Die Exilautoren wurden nicht nur gesellschaftlich abgelehnt, sondern auch ihre Werke wurden nicht gewürdigt. Bernhard Spies schreibt in Exilliteratur – ein abgeschlossenes Kapitel? über die selten ausgesprochene, aber weit verbreitete Annahme von der notwendigen ästhetischen Inferiorität von Exilliteratur, die nicht richtiger wird, wenn sie von ←12 | 13→Verständnis begleitet ist, etwa in dem Sinn, dass von Exilanten eine literarisch hochstehende Produktion nicht erwartet werden könne.7

Diese Vorstellung über Exilliteratur wurde zwar revidiert, doch herrschten innerhalb der Exilforschung derartige ideologischen Unstimmigkeiten8, dass nachdem das anfängliche Materialsammeln als wichtigste Aufgabe der Forschung bezüglich der Exilliteratur als abgeschlossen betrachtet wurde und der Mythos, die Exilautoren als Repräsentanten für „das andere Deutschland“ zu sehen, entkräftet wurde, das Interesse an der Exilliteraturforschung am Ende des letzten Jahrhunderts schwand.

Durch die Zusammenarbeit mit kulturwissenschaftlichen Forschungsgebieten nach der Jahrtausendwende erwachte das Interesse wieder. Die heutige Exilliteraturforschung hat in solchen Forschungsgemeinschaften erweiternde Perspektive dazugewonnen und neue Zugangsweisen zur Literatur des Exils gefunden. Da der Begriff „Exilliteratur“ nicht scharf abgegrenzt ist, läuft der Begriff vor dem Hintergrund des gegenwärtigen alltäglichen Erfahrungshorizonts der Migration- und Asylproblematik Gefahr, beliebig zu werden, indem er sich weiter von der „,klassischen‘ Exilepoche“, wie Dörte Bischoff den Zeitraum 1933–1945 nennt9, entfernt.

Für die Exilliteraturforschung ist die Autorin Melitta Urbancic, die zu Lebzeiten keine Lyriksammlung publiziert hat, kaum bekannt. Dies, obwohl sie in einigen Anthologien der Exillyrik wie Rudolf Felmayers Dein Herz ist deine Heimat (1955), Manfred Schlössers An den Wind geschrieben (1960) und neueren Datums Miguel Herz-Kestraneks/Konstantin Kaisers/Daniela Strigls In welcher Sprache träumen Sie? (2007) vertreten ist. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2011, mit Island als Schwerpunkt, wurde in einer kleinen Ausstellung im Literaturhaus Wien an Melitta Urbancic als österreichische Lyrikerin in Island aber auch an ihre Tätigkeiten als Übersetzerin, Korrespondentin, Schauspielerin, Bildhauerin und Bienenzüchterin erinnert. Als Folge dieser Ausstellung wurde die zweisprachige Lyriksammlung Vom Rand der Welt 2014, mit Unterstützung der Kulturstiftung der vorigen Präsidentin Islands Vigdís Finnbogadóttir, veröffentlicht. Die Gedichte der Sammlung, die von Melitta Urbancic selbst geordnet wurde, entstanden in den ersten Jahren des Exils in Island. Der erste Teil dieser ←13 | 14→Sammlung thematisiert den schmerzhaften Verlust der Heimat und Sprache, Fremdheit und Isolierung, während der zweite Teil der pragmatischen Anpassung an das karge Exilland gewidmet ist. Der Band, mit einem sehr informativen Nachwort des Herausgebers Gauti Kristmannsson, wurde in Tageszeitungen, z. B. Svenska Dagbladet, in Schweden besprochen, wodurch die Autorin mir bekannt wurde.10 Im Jahr 2012 publizierte das Deutsche Literaturarchiv Marbach eine Erinnerungsschrift Begegnungen mit Gundolf, in der Melitta Urbancic sich an die Heidelberger Zeit und an ihre prägende Begegnungen mit Friedrich Gundolf, Karl Jaspers und den George-Kreis erinnert. Das Manuskript beschäftigte Melitta Urbancic bis zu ihrem Lebensende. Frühere Typoskriptfassungen des Manuskripts liegen in den Nachlässen von Carl Zuckmayer und Richard Alewyn, einen Studienfreund aus den Heidelberg Jahren.11 Kurz vor der Veröffentlichung und nach einem Austausch mit Karl Jaspers12 zog Melitta Urbancic das Manuskript zurück13. Die mit ihrem Mann Victor Urbancic zusammen geplante und weit gediehene Sammlung isländischer Volkslieder, die Melitta Urbancic ins Englische und Deutsche übersetzte und ihr Ehemann für gemischten Chor arrangierte, ist aufgrund des frühen Todes Victor Urbancics nicht zum Druck gelangt. Im Jahr 1998 wurden zwölf der Lieder vom isländischen Music Information Centre herausgegeben.

Da Melitta Urbancics Werk unbekannt geblieben ist, kann auf keine Forschung oder Rezeptionsdiskussion bezüglich ihres Werkes zurückgegriffen werden. Allerdings hat das Literaturarchiv Marbach durch Dr. Gunilla Eschenbach Interesse an dem Nachlass Melitta Urbancics signalisiert.

Auch wenn Melitta Urbancic ihre literarische Arbeit nicht veröffentlichen wollte oder konnte, hat sie ihre Werke gesammelt, immer wieder bearbeitet und ihre Lyrik teilweise in Sammlungen geordnet. Das Nachlasskonvolut der Autorin, das in Wien liegt und von ihrer Tochter Sibyl, die mir einen sehr großzügigen Zugang dazu ermöglichte, verwaltet wird, besteht zum größten Teil aus Typoskripten ihrer Lyrik. Viele Gedichte des Textkorpus sind in mehreren Bearbeitungen vorhanden und in verschiedene Sammlungen eingeordnet, einige mit handgeschriebenen Vermerken, Korrekturen und Datum- und Ortsangaben. Ein groß angelegtes, aber nie fertiggestelltes Opus Magnum, Ferne Nähe, ist fragmentarisch im Nachlasskonvolut vorhanden, wie auch die Briefgedichte, die ←14 | 15→sie mit Friedrich Gundolf gewechselt hat. Nichtlyrisches Material im Nachlass sind handschriftliche Erinnerungsschriften, Typoskripte von Erzählungen, religiöse und philosophische Betrachtungen, Zeitungsartikel religiösen Inhalts und Reportagen über Island. Eine professionelle Transkription von einigen Seiten des sehr schwer lesbaren Tagebuches von 1925 gehört zum Konvolut sowie Briefe an die Kinder von Ostern 1962 in Erinnerung an den Tod des Vaters 1958. Eine eingehende Beschreibung der Ahnen der Familie Victor Urbancics, aus Sicht Melitta Urbancics, wie auch fachliche Aufsätze und Vorträge Victor Urbancics sind im Nachlass aufbewahrt. Durch die von der Autorin gewünschte und von der Familie nach ihrem Tod ausgeführte Vernichtung ihrer umfangreichen Korrespondenz und durch die juristisch noch ungeklärte Freigabe der Tagebücher, die, außer den wenigen transkribierten Seiten aus der Heidelberger Zeit, nicht zugänglich sind, ist das persönliche themarelevante Quellenmaterial schmal.

Die Gedichte, die in der vorliegenden Arbeit behandelt werden, stammen aus dem Nachlasskonvolut sowie aus der oben besprochenen Sammlung Vom Rand der Welt. Die Auswahl richtet sich nach der Relevanz für die Fragestellungen der Untersuchung. Es konnten Werke von über drei Jahrzehnten zusammengestellt werden14. Es sind Werke, welche die Autorin auf ihrem Weg von der ersten Vorahnung einer bevorstehenden Flucht über die Flucht, das Exil und eine persönliche Integration begleiten, und Werke, die zu einem späteren Zeitpunkt rückblickend die Erfahrungen des Prozesses der Integration aus der Erinnerung verbalisieren. Um ein möglichst komplettes Bild von der Autorin, ihrer Poetologie und ihrem Werk in Hinsicht auf das Thema der vorliegenden Arbeit zu bekommen, wird außer auf die im Nachlass befindlichen Primärquellen auf das oben besprochene Erinnerungsbuch Begegnung mit Gundolf zurückgegriffen. Ebenso wird auf Melitta Urbancics Dissertation Der fünffüssige Jambus bei Grabbe, 1927, in der Melitta Urbancic sich nicht nur der Metrik Christian Diet- rich Grabbes widmet, sondern auch ihre eigenen poetologischen Grundsätze äußert, hingewiesen. Primärquellen bezüglich Melitta Urbancics Verhältnis zu Island und den Isländern sind neben den Gedichten ein im Nachlass befindlicher Artikel Melitta Urbancics über Island für die Arbeiter-Zeitung vom 19. Februar 1950, ein undatiertes Brief aus Island (vermutlich zwischen 1945 und 1947 geschrieben) und eine Schrift Auf Wanderschaft vom 19. Februar 1967 mit dem Vermerk „Blaue Blätter (Selbstgespräche Überlegungen)“. Die Quellen ←15 | 16→vermitteln Melitta Urbancics Sicht auf und Erfahrung mit Island und den Isländern aus verschiedenen Perspektiven über einen Zeitraum von dreißig Jahren.

Island, ein in der Eigenschaft eines Exillandes weitgehend unbekanntes Land, existiert als solches weder in einem lyrischen Kontext noch ist es bisher ein Thema in der Exilforschung gewesen. Ein sprechender Beweis für dieses „Nichtthema“ ist das Nicht-Vorhandensein weder in der sehr detaillierten Ausführung über verschiedene Fluchtorte der verfolgten Autoren von Alexander Stephan, Die deutsche Exilliteratur 1933-1945, noch in Manfred Durzaks Die deutsche Exilliteratur 1933-1945 oder in Walter Berendsohns Die humanistische Front.

Der isländische Historiker Dr. Snorri Bergsson meint in seiner Arbeit The Aryan Cradle: Iceland and the ‚jewish Question‘, 1998, dass die Frage des jüdischen Exils in Island noch nicht aufgearbeitet worden ist. Seitdem ist in Jewish Political Studies Review 2004 ein Artikel Iceland, the Jews, and Anti-Semitism 1625-2004 publiziert worden, in dem der isländische Historiker Vilhjálmur Örn Vilhjálmsson das Verhältnis zwischen Island und der jüdischen Immigration aus einer geschichtlichen, politischen und auch gesellschaftlichen Perspektive betrachtet. Außerdem hat sich Snorri Bergsson in Encyclopedia of the Jewish Diaspora 2009 mit einem geschichtlichen Überblick Jews in Iceland beteiligt15.

Trotz der geographischen Lage Islands „am Rande der Welt“ und den politischen Restriktionen sind doch einige Exilanten nach Island gelangt und haben sich dort niedergelassen. Eine Untersuchung literarischer Bearbeitungen dieses Prozesses hat bis jetzt gefehlt und in diese Forschungslücke ordnet sich die vorliegende Arbeit ein. Infolgedessen ist der Fokus der Untersuchung auf den thematischen Schwerpunkt des Prozesses Exil – Integration gerichtet, mit der Lyrik Melitta Urbancics als Objekt der Analyse.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, in einer Analyse der Texte der Lyrikerin folgenden Fragen nachzugehen und sie zu beantworten:

Welche sind die zentralen Themen des Prozesses Flucht – Exil – Integration?

Mit welchen dichterischen Mitteln hat Melitta Urbancic diesen Prozess gefasst?

Wie ist das Subjekt der Gedichte entworfen und mit welcher Authentizität ausgestattet?

Welche Relevanz hat ihr eigenes Dichten in dem Prozess gehabt?

In welchen poetologischen zeitgenössischen Kontext ist die Lyrik Melitta Urbancics einzuordnen?

←16 | 17→

Der größte Teil der analysierten Gedichte sind Gedichte in Ich-Form, in welchen eine scharfe Grenze zwischen dem empirischen und dem lyrischen Ich schwerlich gezogen werden kann. Die unsichere Rolle, welche die biografischen Elemente beim Gestalten des Ichs spielen, wirft die Frage nach der Authentizität der Äußerungen auf. Es wird auch der Funktion des lyrischen Ich nachgegangen16. Im Anschluss an diese Fragen wird die These von einer Diskrepanz der Emotionen gegenüber dem fremden Land zwischen dem empirischen und dem lyrischen Ich aufgestellt. Diese Diskrepanz erklärt den Unterschied zwischen der von dem lyrischen Ich in den Gedichten ausgesprochenen Bereitschaft, das Land anzunehmen, und der von dem biografischen Ich tatsächlich gelebten Art von Integration.

Eine Beantwortung der gestellten Fragen erfordert eine Auswahl aus dem oben besprochenen Textkorpus hinsichtlich des gestellten Themas der Untersuchung. Dabei werden die verschiedenen zum Diskurs gehörenden Fäden identifiziert, nachverfolgt und im Geschehen eingeordnet. So wie diese Fäden im Text in einem netzähnlichen Gebilde ineinandergreifen, sind auch die Fragestellungen nicht aufeinander hierarchisch aufgebaut, sondern stehen in einem wechselseitigen Bezug zueinander.

In der Analyse der Lyrik Melitta Urbancics werden, um ein tieferes Verständnis zu erlangen, verschieden fokussierende Methoden der Interpretation verwendet, die durch ihre unterschiedlichen Fragestellungen unterschiedlichen Aspekte der Texte erschließen. Die Analyse wird nach dem Verfahren des sogenannten hermeneutischen Bogens von Paul Ricœur vorgenommen17.

Die vorliegende Arbeit ist in einen orientierenden und einen analysierenden Themenkomplex aufgeteilt. Nach einer Vorstellung der Autorin mit Lebenslauf, intellektuellem und literarischem Einfluss und ihrer literarischen Tätigkeit wird das Land des Exils, Island, besprochen. Darauf folgt eine Erläuterung des Themas Exilliteratur, in dem auch die Lyrik des Exils enthalten ist. Folgend werden relevante theoretische Analysebegriffe vorgestellt. Nach einer Behandlung der zentralen Themen des vorliegenden Lyrikkorpus, Heimatverlust, Erinnerung und ‚Fremdheit‘ wird als Hauptteil der Untersuchung eine eingehende Analyse und Interpretation der Gedichte Melitta Urbancics vorgenommen. Abschließend werden in einer Zusammenfassung die gestellten Fragen beantwortet und das Ergebnis der Untersuchung vorgestellt.

←17 | 18→

Die Lyrikerin Melitta Urbancic, 1902–1984, war eine zum Katholizismus konvertierte österreichische Jüdin, geprägt durch ein bildungsaffines und den schönen Künsten wie auch der Natur zugewandtes Wiener Elternhaus. Während ihrer Studienzeit in Heidelberg, die mit einer Promotion zu Dr. phil. abgeschlossen wurde, erfuhr sie durch die Studien bei Karl Jaspers und Friedrich Gundolf ihre intellektuelle und literarische Prägung, während sie gleichzeitig eine schauspielerische Ausbildung bei Max Reinhard durchlief. Über diese intellektuell entscheidenden Jahre wird die Autorin mittels Tagebuchzitaten selbst ausgiebig zu Wort kommen. Wegen Melitta Urbancics jüdischer Herkunft musste ihr Ehemann, der Musiker Victor Urbancic, nach dem Anschluss Österreichs ein Auskommen im Ausland suchen. Dieses fand er in dem ihnen unbekannten Land, Island, wohin Melitta Urbancic mit den drei Kindern ihm auf abenteuerliche Weise folgte. Das Einleben in das karge Land verlangte viel von Melitta Urbancic, welches sie mithilfe ihres Dichtens bewältigte.

Im Themenkomplex Exilliteratur wird auf die Situation der Exilautoren, Formen und Themen der Exilliteratur, Schaffensprobleme der Autoren sowie den Forschungsstand der Exilliteratur eingegangen. Die Themen werden kurz und in Bezug auf den Lebensweg der Autorin behandelt. Schließlich wird das Thema Exillyrik, das in einigen Bereichen als ein Teil der Exilliteratur betrachtet werden kann, aber doch eine Sonderstellung einnimmt, besprochen. Aufgrund des geringeren Volumens sollten die Verbreitungsmöglichkeiten und die Publikation von Lyrik in Gegensatz zur Literatur der Gattungen Epik und Dramatik prinzipiell einfacher sein. Allerdings war die Leserschaft, die Lyrik auf Deutsch lesen konnte, knapp. Die dazukommenden fehlenden Übersetzungsmöglichkeiten eines verschlüsselten lyrischen Textes wie auch die schlechten Fremdsprachenkenntnisse der Dichter verschärften die ohnehin monologische Situation der Lyriker im Exil und die Flaschenpostmetapher wurde Realität. Der Verlust der Heimat mit der Sprache und Kultur traf den Lyriker härter als andere Autoren.

Der folgende theoretische Teil der Arbeit diskutiert relevante Analysebegriffe der Lyrik. Eine Begründung für die Schwierigkeit der Wissenschaftler, sich bezüglich einer Definition der Gattung Lyrik zu einigen, sucht Eva Müller-Zettelmann in dem traditionellen Bezug der Lyrik zur subjektiven Emotion, die nach keiner Objektivierung verlangt. Auch die Vorstellung, die Inspiration, sei eine metaphysische Eingebung, oder das Bild des Dichters als „Dichtergenie“ fördert ihrer Meinung nach nicht den Bedarf nach theoretischer Ordnung18. ←18 | 19→Einigkeit dagegen herrscht darüber, dass Lyrik eine vielschichtige und vielseitige Kunstform ist.

Details

Seiten
248
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631875520
ISBN (ePUB)
9783631875537
ISBN (Hardcover)
9783631867235
DOI
10.3726/b19572
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juni)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 248 S.

Biographische Angaben

Agneta Hauber (Autor:in)

Agneta Hauber studierte Development Studies an der Universität Uppsala sowie Germanistik an den Universitäten Umeå und Uppsala in Schweden. Sie hat an der Universität Wien in Deutscher Philologie promoviert.

Zurück

Titel: Melitta Urbancic: Lyrik am Rand der Welt
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
250 Seiten