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Lesewerthaltungen im Übergang von der Schule an die Universität

Eine qualitative Längsschnittstudie

von Jennifer Witte (Autor:in)
©2022 Dissertation 482 Seiten

Zusammenfassung

Die Studie ist innerhalb der Literaturdidaktik im Schnittbereich von Lese-, Biographie- und Bildungsforschung angesiedelt und befasst sich mit der Entwicklung individueller Werthaltungen gegenüber dem Lesen.
Die Dynamik von lesebezogenen Deutungsmustern wird anhand eines echten Längsschnittes vom Beginn des Leistungskurses Deutsch bis zum Studienanfang rekonstruiert. Hierzu werden narrative Interviews mit acht Informant*innen mittels der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik analysiert und kontrastiert.
Ersichtlich wird die Veränderbarkeit von Deutungsmustern in einer prägenden biographischen Übergangsphase sowie die zunehmende Trennung von privaten und institutionellen Lesewerthaltungen. Zudem scheint die Schule keinen dauerhaft prägenden Einfluss auf lesebezogene Werthaltungen zu haben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorbemerkung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Zusammenfassung der Studie
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Forschungsziel
  • 1.2 Forschungsfragestellung
  • 1.3 Anlage und Aufbau der Arbeit
  • Teil A: Forschungsstand und theoretischer Rahmen
  • 2 Forschungsstand und grundlegende Forschungstheorien
  • 2.1 Empirische Forschung in der Literaturdidaktik
  • 2.1.1 Leser*innen- und Schüler*innenforschung – Lesebiographieforschung
  • 2.1.2 Forschung zu Deutungsmustern und angrenzenden Konzepten
  • 2.1.3 Lesesozialisationsforschung
  • 2.2 Sozialwissenschaftliche Forschung – Rekonstruktive Sozialforschung und biographische Bildungsforschung mit Jugendlichen
  • 2.3 Konsequenzen für diese Studie – Desiderate
  • 3 Theoretisch-begrifflicher Rahmen
  • 3.1 Das Deutungsmusterkonzept
  • 3.1.1 (Historische) Entwicklung des Begriffs und terminologische Abgrenzung
  • Abgrenzung zu anderen Konzepten
  • 3.1.2 Arbeitsdefinition für diese Studie: Deutungsmuster bezogen auf das Lesen
  • 3.2 Formen und Funktionen des Lesens
  • 3.2.1 Lesesozialisation und literarische Sozialisation
  • 3.2.2 Die Modi des Lesens
  • 3.3 Konsequenzen für diese Studie – Indirekte Untersuchung (lese-)sozialisatorischer Phänomene
  • 4 Entwicklungspsychologische Prämissen
  • 4.1 Die Begriffe Jugend und Adoleszenz
  • 4.2 Reifungsprozesse und (Teil-)Übergänge
  • 4.3 Konsequenzen für diese Studie – Untersuchung einer biographischen Übergangssituation
  • 5 Der institutionelle Rahmen
  • 5.1 Die Bildungsinstitution Schule
  • 5.2 Der veränderte Stellenwert des Abiturs
  • 5.3 Die Bildungsinstitution Universität
  • Exkurs: Lesen innerhalb der Universität
  • 5.4 Konsequenzen für diese Studie – Der Einfluss zweier Bildungsinstitutionen
  • Teil B: Methodologie und Methodik
  • 6 Methodologie
  • 6.1 Hermeneutik – Verstehen des Verstehens
  • 6.2 Zur Wissenssoziologie
  • 7 Methodik
  • 7.1 Grundsätzliches zur Konzeption und Anlage (Längsschnittstudie)
  • 7.2 Erhebungsmethodik
  • 7.2.1 Das narrative Interview
  • 7.2.1.1 Allgemeines zum narrativen Interview
  • 7.2.1.2 Der Aufbau und Ablauf des Interviews
  • 7.2.1.3 Das (biographische) Erzählen – Realität sui generis
  • 7.2.1.4 Die Zugzwänge des Erzählens
  • 7.2.2 Datenaufbereitung (Transkription)
  • 7.3 Das Datenkorpus
  • 7.3.1 Feldzugang und Durchführung der Erhebung
  • 7.3.2 Fallauswahl – Samplingstrategie
  • 7.4 Auswertungsmethodik: Die sozialwissenschaftliche Hermeneutik nach Soeffner
  • 7.5 Qualitative Gütekriterien
  • Teil C: Analyse und Befunde
  • 8 Die Einzelfallstudien
  • 8.1 Manuel
  • 8.1.1 Das dritte Interview
  • 8.1.1.1 Biogramm von Manuel + Interviewsituation
  • 8.1.1.2 Rekonstruktion der idealisierten egologisch-monothetischen Sprecher*innenperspektive
  • 8.1.1.3 Polythetische Perspektive
  • 8.1.1.4 Sinnschließung
  • 8.1.2 Entwicklung der Deutungsmuster von Manuel – Betrachtung des Längsschnitts
  • 8.1.2.1 Zusammenfassung des ersten Interviews
  • 8.1.2.2 Zusammenfassung des zweiten Interviews
  • 8.1.2.3 Längsschnittliche Entwicklung
  • 8.2 Manuela
  • 8.2.1 Das dritte Interview
  • 8.2.1.1 Biogramm von Manuela + Interviewsituation
  • 8.2.1.2 Rekonstruktion der idealisierten egologisch-monothetischen Sprecher*innenperspektive
  • 8.2.1.3 Polythetische Perspektive
  • 8.2.1.4 Sinnschließung
  • 8.2.2 Entwicklung der Deutungsmuster von Manuela – Betrachtung des Längsschnitts
  • 8.2.2.1 Zusammenfassung des ersten Interviews
  • 8.2.2.2 Zusammenfassung des zweiten Interviews
  • 8.2.2.3 Längsschnittliche Entwicklung
  • 8.3 Cassi
  • 8.3.1 Das dritte Interview
  • 8.3.1.1 Biogramm von Cassi + Interviewsituation
  • 8.3.1.2 Rekonstruktion der idealisierten egologisch-monothetischen Sprecher*innenperspektive
  • 8.3.1.3 Polythetische Perspektive
  • 8.3.1.4 Sinnschließung
  • 8.3.2 Entwicklung der Deutungsmuster von Cassi – Betrachtung des Längsschnitts
  • 8.3.2.1 Zusammenfassung des ersten Interviews
  • 8.3.2.2 Zusammenfassung des zweiten Interviews
  • 8.3.2.3 Längsschnittliche Entwicklung
  • 8.4 Lene
  • 8.4.1 Das dritte Interview
  • 8.4.1.1 Biogramm von Lene + Interviewsituation
  • 8.4.1.2 Rekonstruktion der idealisierten egologisch-monothetischen Sprecher*innenperspektive
  • 8.4.1.3 Polythetische Perspektive
  • Exkurs: Lesen und Lenes Germanistikstudium
  • 8.4.1.4 Sinnschließung
  • 8.4.2 Entwicklung der Deutungsmuster von Lene – Betrachtung des Längsschnitts
  • 8.4.2.1 Zusammenfassung des ersten Interviews
  • 8.4.2.2 Zusammenfassung des zweiten Interviews
  • 8.4.2.3 Längsschnittliche Entwicklung
  • 8.5 Felix
  • 8.5.1 Das dritte Interview
  • 8.5.1.1 Biogramm von Felix + Interviewsituation
  • 8.5.1.2 Rekonstruktion der idealisierten egologisch-monothetischen Sprecher*innenperspektive
  • 8.5.1.3 Polythetische Perspektive
  • 8.5.1.4 Sinnschließung
  • 8.5.2 Entwicklung der Deutungsmuster von Felix – Betrachtung des Längsschnitts
  • 8.5.2.1 Zusammenfassung des ersten Interviews
  • 8.5.2.2 Zusammenfassung des zweiten Interviews
  • 8.5.2.3 Längsschnittliche Entwicklung
  • 8.6 Leonie
  • 8.6.1 Das dritte Interview
  • 8.6.1.1 Biogramm von Leonie + Interviewsituation
  • 8.6.1.2 Rekonstruktion der idealisierten egologisch-monothetischen Sprecher*innenperspektive
  • 8.6.1.3 Polythetische Perspektive
  • 8.6.1.4 Sinnschließung
  • 8.6.2 Entwicklung der Deutungsmuster von Leonie – Betrachtung des Längsschnitts
  • 8.6.2.1 Zusammenfassung des ersten Interviews
  • 8.6.2.2 Zusammenfassung des zweiten Interviews
  • 8.6.2.3 Längsschnittliche Entwicklung
  • 8.7 Torben
  • 8.7.1 Das dritte Interview
  • 8.7.1.1 Biogramm von Torben + Interviewsituation
  • 8.7.1.2 Rekonstruktion der idealisierten egologisch-monothetischen Sprecher*innenperspektive
  • 8.7.1.3 Polythetische Perspektive
  • 8.7.1.4 Sinnschließung
  • 8.7.2 Entwicklung der Deutungsmuster von Torben – Betrachtung des Längsschnitts
  • 8.7.2.1 Zusammenfassung des ersten Interviews
  • 8.7.2.2 Zusammenfassung des zweiten Interviews
  • 8.7.2.3 Längsschnittliche Entwicklung
  • 8.8 Peter
  • 8.8.1 Das dritte Interview
  • 8.8.1.1 Biogramm von Peter + Interviewsituation
  • 8.8.1.2 Rekonstruktion der idealisierten egologisch-monothetischen Sprecher*innenperspektive
  • 8.8.1.3 Polythetische Perspektive
  • 8.8.1.4 Sinnschließung
  • 8.8.2 Entwicklung der Deutungsmuster von Peter – Betrachtung des Längsschnitts
  • 8.8.2.1 Zusammenfassung des ersten Interviews
  • 8.8.2.2 Zusammenfassung des zweiten Interviews
  • 8.8.2.3 Längsschnittliche Entwicklung
  • 9 Zusammenführung der Erkenntnisse
  • 9.1 Einzelfallebene: Kurzzusammenfassungen
  • 9.1.1 Manuel – Entwicklung zum passiven Nicht-Leser und pragmatischen Hörbuch-Hörer
  • 9.1.2 Manuela – Wunsch der Rückkehr zum kindlichen, intimen Unterhaltungslesen im Privaten
  • 9.1.3 Cassi – Fokussierung auf Lesen als sozial-kommunikativer und gemeinschaftsstiftender Initiator
  • 9.1.4 Lene – Fokussierung des institutionellen Lesens zur sozial-funktionalen Statusmarkierung und Positionierung
  • 9.1.5 Felix – Vom Proto-Ästheten zum pragmatisch-informatorischen Medienkonsumenten
  • 9.1.6 Leonie – Facettenreiche, habituelle Leserin
  • 9.1.7 Torben – Das zunehmend reflektierte Medienbewusstsein bedingt die Wahrnehmung von Textmaterialitäten
  • 9.1.8 Peter – Fantasy als Zentrum des privaten Medienumgangs
  • 9.2 Zwischenfazit – Generalisierte Trends und Tendenzen
  • 9.3 Einzelfallübergreifende Betrachtungen und Kontrastierungen
  • 9.3.1 Der Einfluss kognitiver Reifungsprozesse auf Lesebiographien
  • 9.3.2 Der Einfluss institutioneller Rahmungen auf Lesebiographien
  • 9.3.3 Literarische Bildung als kulturelles Kapital
  • Exkurs: Der (literarische) Bildungsbegriff
  • 9.3.4 Die Fragmentarisierung und Pragmatisierung des Lesens
  • 9.3.5 Die soziale Dimension des Lesens als gemeinschaftsstiftender Faktor
  • 9.3.6 Die Dichotomisierung und Zweiteilung von Deutungsmustern
  • 9.3.7 Die potenzielle Rivalität von Literatur und Neuen Medien
  • 10 Folgerungen – sieben Thesen zur Dynamik von Deutungsmustern
  • Zur allgemeinen Beobachtung – Zunahme kognitiver Reifungsprozesse
  • Zur 1. These – Entfall von Rechtfertigungs- und Selbstdarstellungszwängen
  • Zur 2. These – Literarische Bildung: kulturelles Kapital und soziale Positionierung
  • Zur 3. These – Verstärkung der Fragmentarisierung und Pragmatisierung des Lesens
  • Zur 4. These – Ausweitung pragmatisch-informatorischer, medialer Lesemodi
  • Zur 5. These – Verstärkung der sozialen Dimension des Lesens in der späten Adoleszenz
  • Zur 6. These – Zunehmende Dichotomisierung von Deutungsmustern
  • Zur 7. These – Lesen in „alten“ und neuen Medien als Co-Nutzung
  • 11 Didaktische und wissenschaftliche Perspektivierung der Ergebnisse – Abschlussreflexion
  • 11.1 Reflexion vor dem Hintergrund der qualitativen Gütekriterien dieser Studie
  • 11.2 Schlussfolgerungen für die Lese- und Literaturdidaktik als Handlungswissenschaft
  • 11.3 Schlussfolgerungen für die Literaturdidaktik als forschende Disziplin
  • 11.4 Ausblick auf Anschlussforschungen und Forderungen im Kontext literaturdidaktisch-empirischer Forschung
  • Literatur
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Reihenübersicht

←14 | 15→

Abkürzungsverzeichnis

Abb.

Abbildung

DFG

Deutsche Forschungsgemeinschaft

DM

Deutungsmuster

bspw.

beispielsweise

bzw.

beziehungsweise

ebd.

ebenda

etc.

et cetera

ggf.

gegebenenfalls

Hervorh. i. O.

Hervorhebung im Original

I

Interviewer*in (zur Kennzeichnung der Sprecher*innenbeiträge in den Interviews)

i. S.

im Sinne

i. S. v.

im Sinne von

i. w. S.

im weitesten Sinne

J.W.

Jennifer Witte (Autorinnenkürzel)

Kap.

Kapitel

o. ä.

oder ähnliches

o. J.

ohne Jahr

o. S.

ohne Seite

PISA

Programme for International Student Assessment

Tab.

Tabelle

u. a.

unter anderem

unv.

unverständlich (als Hinweis in den Interviews)

usw.

und so weiter

v. a.

vor allem

vgl.

vergleiche

z. B.

zum Beispiel

z. T.

zum Teil

←15 | 16→

←16 | 17→

Zusammenfassung der Studie

Die vorliegende Studie nähert sich mittels eines qualitativ-rekonstruktiven Designs der Frage an, wie sich Deutungsmuster bezogen auf das Lesen und die Wertzuschreibungen an Literatur und Texte am Übergang von der Schule an die Universität entwickeln. Welche Dynamiken und Modifikationen, welche Konstanten und Stabilitäten dieser Muster lassen sich in einer biographischen Übergangsphase feststellen? Das Ziel besteht in der Rekonstruktion von Deutungsmusterderivaten, um anhand von Fallvergleichen und -kontrastierungen gesellschaftlich relevante Deutungsmuster bezogen auf das Lesen herauszuarbeiten.

Zu diesem Zweck werden narrative Interviews zu drei Erhebungszeitpunkten (Beginn des Leistungskurses Deutsch, kurz vor dem Abitur, Beginn des Studiums) geführt, wodurch ein echter Längsschnitt von ca. 4 Jahren erhoben wird. Nach einer Fallauswahl (Sampling) werden die Lesebiographien von acht Informant*innen über den Beginn des Leistungskurses Deutsch bis zum Anfang des Studiums mittels der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik nach Soeffner analysiert. Der Fokus liegt dabei auf dem je dritten Interview nach dem Übergang an die Universität. Die je drei biographischen Narrationen werden intrafallspezifisch untersucht (jedes Interview wird einzeln und unabhängig sozialwissenschaftlich-hermeneutisch analysiert), indem Veränderungen und Konstanten in den Rekonstruktionen der Lesebiographien sowie die individuellen Deutungsmusterderivate über längsschnittliche, intrafallspezifische Kontrastierungen herausgearbeitet werden. Im Anschluss an die Einzelfallanalysen erfolgt eine fallübergreifende (interfallspezifische) inhaltliche Auseinandersetzung mit den rekonstruierten Deutungsmusterderivaten: Über Fallvergleiche und das Herausarbeiten von minimalen und maximalen Kontrasten (komparative Analysen) können sieben Dimensionen herausgearbeitet werden, welche die Deutungsmuster der Untersuchungsgruppe auf einer gesellschaftlich-sozialen Ebene beeinflussen.

Diese Entwicklungsdimensionen sind als Thesen formuliert und bedürfen der weiteren Überprüfung. Es wird deutlich, dass über den Längsschnitt kognitive Reifungsprozesse wirken, die zu einer höheren Reflexions- und Elaborationsfähigkeit der eigenen Lesebiographie führen. Zudem entfallen bei mehreren Informant*innen mit dem Verlassen des Leistungskurses Deutsch bestimmte Rechtfertigungs- und Selbstdarstellungszwänge hinsichtlich als sozial erwünscht wahrgenommener Lektüren. Literarische Bildung ist zunehmend ←17 | 18→als kulturelles Kapital relevant und dient der sozialen Positionierung, wobei es zur Bedeutungsentleerung und Funktionsverschiebung des Konzeptes kommt: Ziel ist es, literarisch gebildet zu wirken (und nicht, es auch zu sein). Darüber hinaus verstärkt der Übergang von der Schule an die Universität die Fragmentarisierung und Pragmatisierung des Lesens und Umgangs mit Texten und Literatur in diversen Kontexten und es kommt vermehrt zur Ausweitung pragmatischer, informatorischer und medialfokussierter Lesemodi. Daran geknüpft ist die zunehmende Dichotomisierung von Deutungsmustern in eine private und eine berufliche Sphäre. Schließlich wird deutlich, dass Lesen mit unterschiedlichen Medien verbunden wird, wobei sich über den Längsschnitt die kontext- und zielabhängige Co-Nutzung unterschiedlicher (Lese-)Medien stärker ausprägt: Lesemedien stehen nicht in direkter Konkurrenz zueinander, sondern werden von den Nutzer*innen gezielt und eigenverantwortlich in bestimmten Kontexten verwendet.

Aus diesen Trends, insbesondere aus der Dichotomisierung der Deutungsmuster, lassen sich didaktische Schlussfolgerungen für die Schule sowie die Universität ziehen. Es zeigt sich, dass es zu keiner dauerhaften Prägung durch das schulische Lesen kommt, die über den eigenen institutionellen Kontext hinausreicht. Deutungsmuster entfalten z. T. keine gesamtbiographische Relevanz, sondern zerfallen in zwei konträre und getrennte Sphären. Der Entwicklungsprozess lesebezogener Deutungsmuster wird in der biographischen Übergangsphase von der Schule an die Universität in seiner Dynamik verstärkt. Wenn Individuen es jedoch schaffen, privat erworbene Muster ebenfalls auf institutionelle Kontexte zu übertragen und umgekehrt, führt dies zu einer (subjektiv wahrgenommenen) Selbstbekräftigung und -verstärkung. Für die Entwicklung zum*r dauerhaften habituellen Leser*in scheint die gesamtbiographische Verankerung und Vernetzung lesebezogener Deutungsmuster von besonderer Relevanz zu sein.

←18 | 19→

1 Einleitung

Lesen und der Umgang mit Literatur und Texten gelten als wichtige Kulturtechniken (vgl. u. a. Rautenberg/Schneider 2015; Saxer 1995 und 2002) und nehmen innerhalb der Schule wie darüber hinaus in sozialen, gesellschaftlichen, ökonomischen oder politischen Kontexten eine zentrale Position ein. Lesen stellt eine Konstante im menschlichen Leben dar. „Unstrittig ist […], dass Lesen eine unabdingbare Voraussetzung unserer Kultur ist“ (Kuhn 2013, 233). Fast alle Deutschen können lesen und setzen sich lesend und schreibend mit sich selbst und ihrer Umwelt auseinander. Denn Lesen bedingt ebendiese Auseinandersetzung mit sich selbst, dem Text oder weiteren Personen. In Zeiten des Medienwandels – in denen wir uns gegenwärtig befinden – wird Lesen als komplexes Phänomen zunehmend in der breiten Öffentlichkeit diskutiert, und dies durchaus kontrovers. Im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung ist seit einiger Zeit eine Verlagerung der Nutzung von Printmedien wie Büchern und Zeitschriften hin zu digitalen Medien (z. B. Onlineartikel, Videos) zu beobachten, mit denen eine Veränderung des Leseverhaltens einhergeht (Stichwort Netzlektüre). Nichtsdestotrotz wird dem Lesen von Büchern weiterhin Relevanz zugemessen, obwohl es immer weniger praktiziert wird (vgl. z. B. die regelmäßigen Studien der Stiftung Lesen). Das Ende des Leitmediums Buch, das papierlose Zeitalter, die virtuelle und digitale Zukunft werden proklamiert (vgl. Kuhn 2013, 219). Der Diskurs ist häufig durch eine pessimistische Perspektive geprägt: Entweder wird die dystopische Vorstellung der kulturellen Verödung zusammen mit Katastrophenszenarien wie der Untergangsvision vom Tod der Buch- und Lesekultur vorhergesagt oder aber „es ist unzweifelhaft so, dass die Menschheit sich wieder einmal in einer medialen Schwellenzeit befindet, die auf technologischen Innovationen beruht und neuartige soziale und kulturelle Praktiken hervorbringt“ (ebd.). Der „Wert des Lesens“ (Anselm 2012, 15) ist ein öffentlich intensiv und kontrovers diskutiertes Phänomen, das die „Vielschichtigkeit des Themas“ (ebd.) verdeutlicht. Vor diesem Hintergrund nähert sich die vorliegende Studie mittels eines qualitativ-rekonstruktiven1 Längsschnitt-Designs der Frage nach der Entwicklung von ←19 | 20→Deutungsmustern bezogen auf Lesen, Literatur und Texte, also den Lesewertsetzungen des Individuums, innerhalb einer prägenden biographischen Übergangsphase – dem Wechsel von der Schule an die Universität – an und leistet einen Beitrag zu diesem Diskurs, der eine neue Facette des Lesens – nämlich dessen längsschnittliche Entwicklung – fokussiert. Denn eine Aufgabe der Literaturdidaktik als forschende Wissenschaft ist,

„die gesellschaftliche Praxis des Umgangs mit Literatur […] zu beobachten, kritisch zu begleiten und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. […] Die erste Frage wird nicht sein, ob die Schülerinnen einer bestimmten Norm Genüge leisten, sondern wie sie als Leserinnen mit Texten umgehen, was sie aus ihnen machen und noch mehr, was sie die Texte mit sich machen lassen, was sie an Textbegegnung zulassen“ (Wintersteiner 2016, 61).

Die vorliegende Studie richtet den Fokus auf ebendiese Frage nach dem spezifischen Zusammenspiel zwischen Individuum und Text auf der Werteebene,2 also nach den jeweiligen Deutungsmustern und deren Entwicklung, ohne Wertungen oder gar Normierungen vornehmen zu wollen. Dennoch ist der Position von Reichertz zuzustimmen, wenn er feststellt: „Die Wissenschaft und natürlich auch die qualitative Sozialforschung waren von Beginn an Partei und nicht uninteressierte Beobachtende im Elfenbeinturm“ (2014, 101; vgl. ähnlich Reichertz 2019, 45). Wissenschaft und Forschung sind immer auch Ausdruck bestimmter Kulturen in einer Gesellschaft mit einem Ethos und spezifischen Idealen; Wissenschaft hat eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, die jedoch nicht zu einer Bevormundung werden darf, was besonders bei sozial erwünschten und mit Prestige besetzten Themen wie dem Lesen als kultureller (Bildungs-)Praxis passieren kann. Dieser Schritt wird im Rahmen der vorliegenden Studie bewusst vermieden.

Es wird davon ausgegangen, dass individuelle Wertzuschreibungen und -haltungen sich lebenslang verändern und (weiter-)entwickeln können, wenngleich sie global betrachtet (auf die gesamte Biographie bezogen) ab einem gewissen Alter i. d. R. eine Permanenz – verstanden als situationsübergreifende Stabilität – aufweisen. „Die Dynamik des Prozesses, in dem Individuen Haltungen modifizieren oder Fähigkeiten ausbauen, dauert potenziell über die gesamte Lebensspanne eines Menschen hinweg an“ (Pieper 2010, 87). Entsprechend ist die Phase der späten Jugend und Adoleszenz, die an der Schwelle zum Erwachsenenalter liegt und sowohl entwicklungspsychologisch und kognitiv wie auch strukturell, institutionell und ggf. räumlich von besonderen ←20 | 21→Übergängen und Entwicklungsschritten geprägt ist, hinsichtlich der Entwicklung von Deutungsmustern hervorzuheben, da es sich um eine vermeintlich dynamische Phase handelt. Offen ist, wie diese Dynamiken individuell wirksam werden und sich ausprägen. Dies gilt es im Rahmen der vorliegenden Studie für den Spezialfall der Lesewerthaltungen zu untersuchen.

Diese Studie stellt einen gesellschaftlich relevanten Bildungsinhalt – das Lesen und die unbewussten Zuschreibungen an Literatur und Texte – insbesondere in Zeiten des Medienwandels und der scheinbaren Ablösung des Buches und eventuell sogar des Lesens als (Freizeit-)Tätigkeit in den Fokus. Denn Lesen hat „grundlegende Bedeutung für die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit“ (Anselm 2012, 16), und entsprechend können die Deutungsmuster gegenüber dem Lesen persönlichkeitsprägend wirken (vgl. Bredel/Pieper 2015, 169). Die gesellschaftliche, überindividuelle Dimension dieses Gegenstandes wird über die Annäherung an das Individuum und dessen subjektive Wertsetzungen und Muster wissenschaftlich zugänglich gemacht. Der empirische Zugriff auf die narrative Konstruktion individueller Lesebiographien3 ist unumgänglich. Sozialwissenschaftlich-hermeneutische, rekonstruktive Methoden dienen der Erfassung individueller Bedeutungskonstruktionen, um Bildungsbiographien in ihrer individuellen Bedeutsamkeit und gesellschaftlichen Geprägtheit im Kontext des Lesens umfassend und multiperspektivisch zu untersuchen. Der Einzelfall kommt zur Geltung und ist Ausgangspunkt für überindividuelle Schlüsse, wofür ein qualitativer Zugriff notwendig ist: „[I]‌n den quantitativen Größen der PISA-Studien [gehen] die individuelle Bildungsbiographie und Schulerfahrung von Schüler*innen [unter]“ (Helsper 2021, 152), wohingegen genau diesen Aspekten in der vorliegenden qualitativen Studie Raum gewährt wird. Die Studie richtet den Fokus bewusst auf die (potenziellen) jungen Leser*innen mit ihren Bedürfnissen, Vorstellungen und Deutungsmuster und nähert sich diesen aus einer bildungsbiographischen wie wissenssoziologischen Perspektive an.←21 | 22→

1.1 Forschungsziel

„Jede empirische Arbeit […] beginnt mit der Beantwortung einiger wesentlicher Fragen“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, 1). Diese wesentlichen Fragen betreffen die Formulierung des Erkenntnisinteresses sowie der Forschungsfrage(n), die methodologische Positionierung der Arbeit, die Bestimmung des zu untersuchenden Forschungsfeldes sowie die Wahl der Erhebungs- und Auswertungsverfahren. Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit widmet sich u. a. den ersten beiden Fragen – dem Erkenntnisinteresse sowie der Forschungsfrage –, wohingegen die weiteren Aspekte im nachfolgenden Teil B der Untersuchung dargestellt und diskutiert werden.

Ziel der Studie ist die Rekonstruktion der Entwicklung der Deutungsmuster bezogen auf das Lesen in einer zentralen und mutmaßlich prägenden biographischen Übergangssituation: dem Übergang von der Schule an die Universität. Dies wiederum ermöglicht das Aufzeigen von Konstanten und Dynamiken in den individuellen Werthaltungen4 gegenüber Literatur und dem Lesen, denn „Lesen hat […] eine besondere Affinität zur Wertebildung“ (Anselm 2012, 22). Die Intention besteht somit nicht in der Erfassung, Beschreibung oder gar Bewertung von tatsächlichen Lektürepraxen oder dem individuellen Leseverhalten junger Menschen. Fokussiert werden stattdessen Deutungsmuster als unbewusste, implizite und überindividuelle mentale Strukturen von Jugendlichen und Adoleszenten, die als Muster auf gesellschaftlicher Ebene verankert sind und zugleich in Form von Derivaten, also individuellen Adaptionen, Wirksamkeit auf der Ebene des Subjektes entfalten; „die Einführung in die reflexive Handhabung der Dialektik von Besonderem und Allgemeinem“ (Helsper 2021, 152) ist diesbezüglich zentral. Thematisches Zentrum der Arbeit ist das Lesen als biographisch prägende Dimension. Um dieses Forschungsziel als solches anzuerkennen sind sozialisatorische Prozesse vorauszusetzen, die von folgender Prämisse ausgehen:

„Das Subjekt bildet sich und ist bei aller Anerkenntnis sozialer Einflüsse nicht einfach deren Produkt. Würde es umstandslos gesellschaftliche Wertvorstellungen inkorporieren, wäre sozialer Wandel nicht erklärbar, und die theoretische Rekonstruktion von Entwicklung müsste in Determinismus münden“ (Pieper 2010, 88).

Daraus ergibt sich erstens, dass diese Studie von einer individuellen, nicht ausschließlich determinierten Perspektive auf Lesen und die Zuschreibungen an ←22 | 23→Literatur sowie Texte ausgeht und versucht, diese in einem hermeneutischen Sinne eines Verstehens des Verstehens (siehe Kap. 6.1) zu rekonstruieren. Zweitens wird dennoch vorausgesetzt, dass sich individuelle Adaptionen gesellschaftlicher Wertvorstellungen in Form von Deutungsmusterderivaten in den subjektiven Lesebiographien aufzeigen lassen, um über diese auf soziale, also überindividuelle Deutungsmuster schließen zu können. Schließlich spricht Pieper sozialen Wandel an, der auch in der vorliegenden Studie von besonderer Relevanz ist. Ebendieser (potenzielle) Wandel5 von Deutungsmuster(-derivaten) wird auf der Ebene des Individuums über den Längsschnitt6 in einer biographischen Übergangsphase erfasst. Pieper folgert und fordert weiterhin, dass „[i]‌m Sinne dieser Dynamik […] Sozialisation als potenziell unabgeschlossen zu denken“ ist (ebd.). Entsprechend sollten Forschungsfragen nicht nur die Phasen von Kindheit und frühen Jugend anvisieren, sondern ebenso die Lebensspanne danach berücksichtigen. In diesem Sinne forciert die zentrale Forschungsfrage der vorliegenden Studie das Ende der Jugend, die Adoleszenz und speziell den Übergang von der Schule an die Universität, der bei den Informant*innen zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr stattfand.7 Insgesamt stehen somit eine spezifische (Lebens-)Phase und die in ihr ablaufenden (Entwicklungs-)Prozesse im Mittelpunkt.

Literaturdidaktische Studien

„versuchen, häufig unbewusst bleibende, gleichwohl wirksame Bedingungen für Prozesse der Leseförderung und für identitätsorientierte literaturdidaktische Konzeptionen zu ergründen, ohne dass aus ihnen sofort unmittelbare und leicht handhabbare methodische Anregungen für die einzelnen Unterrichtsstunden erwachsen“ (Steitz-Kallenbach 2002, 156).

Gleiches gilt für die vorliegende Studie, die sich mit Deutungsmustern (auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene) als unbewusste, aber handlungsleitende ←23 | 24→kognitive Strukturen im Kontext von Lesen und Literatur befasst, wobei hieraus nicht direkt und unmittelbar Konsequenzen oder gar Modelle und Vorgaben für die Unterrichtspraxis hervorgehen. Vielmehr bietet die Studie Einsicht in die Entwicklung des Handelns, Wertens und Denkens bestimmende Wertsetzungsmuster – im Fokus steht somit die prozessuale Dimension –, um so den gesellschaftlichen Status und die Funktion des Lesens in Zeiten der Mediendiversität und Digitalisierung zu eruieren. Überdies ist der Forschungsgegenstand, gemeint sind die Deutungsmuster,

„als ein prozessual hergestellter [zu verstehen; J.W.]: Die soziale Wirklichkeit, die wir untersuchen, wird von sozialen Akteuren fortwährend hervorgebracht, erhalten und modifiziert. Soziale Realität ist in fortwährendem Wandel begriffen“ (Strübing 2018, 24).

Entsprechend sind die Entwicklung und alltägliche Deutungspraxis gegenüber dem Lesen als Prozess zu verstehen. Dieses Verständnis von Wertsetzungsmustern wiederum ermöglicht Didaktiker*innen, Lehrer*innen, Pädagog*innen und sonstigen Theoretiker*innen wie Praktiker*innen eine andere, sozial- wie bildungswissenschaftlich geprägte Perspektive auf ein facettenreiches Phänomen und kann in der Konzeption und Umsetzung von Literaturunterricht im Speziellen und literarischer Sozialisation im Allgemeinen Berücksichtigung finden.

1.2 Forschungsfragestellung

Für die meisten qualitativen Studien gilt, dass „nicht die Wirklichkeit in substanzieller Hinsicht (das ‚WAS‘) […] im Vordergrund des forscherischen Erkenntnisinteresses [steht], sondern ihre praktische bzw. soziale Genese und Funktion (das ‚WIE‘ und das ‚WOZU‘)“ (Kruse 2014, 26; Hervorh. i. O.; vgl. auch Schieferdecker 2016, 267). Entsprechend sind das Erkenntnisinteresse und v. a. die sich daraus ergebende(n) Forschungsfrage(n) der vorliegenden Studie im Bereich des Wie angesiedelt. Die zentrale Forschungsfrage dieser Arbeit lautet:

Wie entwickeln sich Deutungsmuster bezogen auf das Lesen über den biographischen Längsschnitt bei Jugendlichen bzw. Adoleszenten?

Es wird mehreres deutlich: Das zentrale inhaltliche Konstrukt, das untersucht wird, sind Deutungsmuster gegenüber dem Lesen, Literatur und Texten. Diese Muster werden explizit bei jungen Menschen – Jugendlichen bzw. Adoleszenten8 – erhoben und analysiert. Es handelt sich um eine besondere Spanne im Lebenslauf zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, die durch ←24 | 25→unterschiedliche biographische Übergänge und Entwicklungsaufgaben geprägt ist. Überdies wird nach Entwicklungen über einen bestimmten Zeitraum hinweg, der als Längsschnitt erhoben wird, gefragt, da ein einzelner Zeitpunkt nicht reichen würde, will man potenzielle Veränderungen (oder aber Konstanten) aufzeigen. Dieser Forschungsfrage wiederum sind weitere Sub- und Teilfragen untergeordnet, die eine spezifischere Fokussierung des Erkenntnisgegenstandes ermöglichen. Dies sind folgende Fragen:

  • Wie entwickeln sich Deutungsmuster bezogen auf das Lesen nach dem Verlassen der Schule? Wie entwickeln sie sich am Übergang von der Schule an die Universität?
  • Wie konstant sind Deutungsmuster bezogen auf das Lesen in biographischen Übergangssituationen?
  • Sind bestimmte Deutungsmuster (und Deutungsmusterderivate) dominanter als andere?
  • Welche Deutungsmuster sind über den Untersuchungszeitraum hinweg konstant? Welche werden aufgegeben oder modifiziert?
  • Wie verändert sich das (Anteils-)Verhältnis der verschiedenen Deutungsmusterderivate der Informant*innen?
  • Wirkt sich die Beendigung des Leistungskurses Deutsch auf die zuvor relevanten Deutungsmuster(-derivate) der Informant*innen aus?
  • Welchen Dynamiken unterliegen Deutungsmuster bezogen auf das Lesen aufgrund des Medienwandels?

Die Fragen fokussieren unterschiedliche Aspekte der Entwicklung der Deutungsmuster. Zu erwähnen ist zudem, dass sich die meisten Fragen in einer ersten Analyseperspektive auf die individuellen Deutungsmusterderivate der acht Einzelfälle beziehen und in einem zweiten Schritt die verallgemeinernde Perspektive auf die zugrundeliegenden, durch kontrastierende Fallvergleiche gewonnenen, überindividuellen Deutungsmuster berücksichtigen. Neben der generellen Bestandsaufnahme der Deutungsmusterderivate des Individuums zu den drei Erhebungszeitpunkten wird ebenso das jeweilige Verhältnis, in dem die unterschiedlichen Derivate zueinanderstehen, sowie die Entwicklung dieser Verhältnisse betrachtet, sodass Modifikationen und dadurch bedingte Dynamiken, aber auch Konstanten und Verfestigungen rekonstruktiv nachvollzogen werden können (Prozessualität). Entsprechend liegt der methodische Fokus auf der Analyse von Inkonsistenzen und Brüchen in den biographischen Narrationen (Alltagskonstruktionen) der Informant*innen, da es sich bei Lesebiographien um Konstrukte handelt, die durch Phänomene sozialer Erwünschtheit und Erwartungshaltungen überprägt sein können; ebendiese Überformung ←25 | 26→gilt es in besonderem Maße zu berücksichtigen. Schließlich verdeutlichen die Fragen, dass insbesondere der Übergang von der Schule an die Universität im Fokus der Studie steht, weshalb der Schwerpunkt der Ergebnisdarstellung in dieser Arbeit auf der dritten Erhebungswelle am Anfang des Studiums liegt.9 Die genaue Struktur des Forschungsberichtes wird nachfolgend vorgestellt.

1.3 Anlage und Aufbau der Arbeit

Die vorliegende literaturdidaktische Studie ist transdisziplinär ausgerichtete und weist Berührungspunkte zur Lese- und literarischen Sozialisationsforschung,10 der qualitativen empirischen Bildungs- wie Biographieforschung und der Kultur- und Wissenssoziologie auf. Im Rahmen der Studie werden qualitative Erhebungs- und Auswertungsmethoden genutzt, um sich über die längsschnittliche Rekonstruktion der Deutungsmusterderivate zentralen Mustern und Haltungen gegenüber dem Lesen innerhalb der (digitalen) Mediengesellschaft anzunähern.11 Die Studie ist nicht im eigentlichen Sinne interdisziplinär,12 jedoch unverkennbar transdisziplinär ausgerichtet:

←26 | 27→„Transdisziplinär sind die Fachdidaktiken, insofern sie als Disziplinen ihre Forschungen unter Einbeziehung von Methoden und Erkenntnissen der eigenen Fachwissenschaft, der Bildungswissenschaften, anderer Fachwissenschaften und anderer Fachdidaktiken betreiben. Sie überschreiten mithin permanent den engeren Horizont des eigenen disziplinären Kerns als Fachdidaktik, um in der Oszillation mit Erkenntnissen und Methoden anderer Disziplinen ihr spezifisches Forschungsfeld zu konturieren und ihren Forschungsfragen nachzugehen“ (Frederking/Henschel 2016, 71).

Die methodischen, konzeptionellen und begrifflichen Grenzen der Literaturdidaktik als Teildisziplin der Deutschdidaktik werden bewusst überschritten. Bezüge bestehen aufgrund der genutzten Methoden zur Kultur- wie zur Wissenssoziologie (hermeneutische Wissenssoziologie, sozialwissenschaftliche Hermeneutik, kultursoziologische Rezeptions- und Leseforschung) und zur qualitativen empirischen Sozialforschung (narrative Interviews, qualitative Auswertungsmethode, Sampling). Ferner zeigen sich dezidiert Bezüge zur Biographieforschung im Allgemeinen und der Jugendbiographieforschung im Speziellen, denn ein Teil der Biographie, die Lesebiographie, wird erhoben und hinsichtlich der Entwicklung der Deutungsmuster bezogen auf das Lesen über eine Lebensspanne hinweg untersucht. Die Verbindung zur Jugendforschung entsteht durch die Informant*innen dieser Studie: Jugendliche bzw. Adoleszente, die über die Spanne des Eintritts in den Leistungskurs Deutsch, dessen Absolvierung, das Ablegen des Abiturs bis schließlich zu den Anfängen der Studienzeit (ca. eineinhalb bis zwei Jahre nach dem Abitur) begleitet werden. Überdies existieren Verbindungen zur Bildungsforschung,13 die zentral über das zu untersuchende Konstrukt der (unbewussten) Wertsetzungen im Kontext von Lesen, Literatur und Texten erzeugt werden: Inwiefern ist Lesen als Teil individueller, kultureller und literarischer Bildung von Relevanz für das Individuum? Der eigene disziplinäre Kern wird bewusst überschritten, wie Frederking und Henschel es fordern. Die Intention besteht darin, die Erkenntnisse ←27 | 28→und die Expertise aller berührten Forschungsfelder gewinnbringend aufeinander zu beziehen, um so neue, transdisziplinäre Perspektiven und entsprechende Einsichten zu gewinnen.

Der vorliegende Forschungsbericht ist in drei Teile (Teil A, B und C) untergliedert (siehe Tab. 1). In einem ersten Schritt wird der aktuelle Forschungsstand sowie der begrifflich-theoretische Rahmen der Studie erarbeitet (Teil A), um anschließend sowohl die zugrundeliegende Methodik als auch grundsätzliche methodologische Aspekte zu erläutern (Teil B). Schließlich erfolgen die Einzelfallanalysen sowie die Zusammenführung und Reflexion der Erkenntnisse, sodass insgesamt die Befunde dargestellt werden (Teil C).

Tabelle 1: Aufbau der Forschungsarbeit (eigene Darstellung)

Einleitung

Kapitel 1:

Kontextualisierung, Forschungsziel, Forschungsfragestellung

Teil A: Forschungsstand und theoretischer Rahmen

Details

Seiten
482
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631887301
ISBN (ePUB)
9783631887318
ISBN (Hardcover)
9783631887295
DOI
10.3726/b20269
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Januar)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 482 S., 3 farb. Abb., 10 S/W-Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Jennifer Witte (Autor:in)

Jennifer Witte ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Literaturdidaktik an der Universität Osnabrück, wo sie auch promoviert hat. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Lesesozialisations-, Bildungs- und Schüler*innenforschung.

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Titel: Lesewerthaltungen im Übergang von der Schule an die Universität
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