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Parainteraktion in den Medien

Linguistische Studien zu Formen medialer Pseudo-Interaktion

von Dorothee Meer (Band-Herausgeber:in) Martin Luginbühl (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 230 Seiten

Zusammenfassung

Parainteraktion beschreibt den Versuch von Medienfiguren, Einwegkommunikation durch verschiedene semiotische Verfahren scheinbar zu überwinden. Dies reicht von der direkten Ansprache über kameravermittelten Blickkontakt und Gesteneinsatz bis hin zu einer spezifischen Nutzung des Raums und von Geräuschen, Musik sowie Bild- bzw. Filmgestaltung. Der Sammelband zeigt, wie Parainteraktion in der multimodalen Prozessierung textueller Praktiken genutzt wird und vereinigt Analysen verschiedener Medien und Textsorten: gedruckte Anzeigen und Werbung auf Instagram, Geselligkeit in Fernseh-Kochshows, eine Werbekampagne in Zusammenarbeit mit einer Castingshow, vermitteltes Körpergefühl in einem YouTube-Yoga-Tutorial, Sprechausdruck in YouTube-‚Educationals‘ (Lernvideos) und mobile Livevideostreams.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Parainteraktion in den Medien – Zur Einführung (Martin Luginbühl / Dorothee Meer)
  • Parasoziale Interaktion in der Werbung: Beobachtungen und Befunde zu einem medienlinguistischen Phantom (Hartmut Stöckl)
  • Zur Inszenierung einer geteilten Interaktionssituation im Fernsehen: Soziale Parainteraktion und die Herstellung von Geselligkeit in Kochshows (Beate Weidner)
  • I’m your venus, I’m your fire, it’s your desire – Soziale Parainteraktion am Beispiel der Werbekooperation zwischen Gillette Venus und dem TV-Format „Germany’s Next Topmodel“ (Dorothee Meer)
  • Verkörperte Medienerfahrung als Grundlage eines multimodal vermittelten Körpergefühls am Beispiel eines Yoga-Tutorials (Dorothea Horst / Silva H. Ladewig)
  • Sprechausdruck und Ansprechhaltung als Elemente der Parainteraktion (Alexandra Ebel)
  • Beyond parainteraction: Situatives Involvement und Footing Shifts in mobilen Livevideostreams auf Periscope (Mark Dang-Anh)
  • Reihenübersicht

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Martin Luginbühl/Dorothee Meer

Parainteraktion in den Medien – Zur Einführung

1. Parasoziale Interaktion – Soziale Parainteraktion

Die Entstehung von Pseudobeziehungen mit Medienagent:innen wurde zum ersten Mal von Merton (1946) im Zusammenhang mit US-amerikanischem Radiopublikum untersucht. Merton beobachtete in Tiefeninterviews, dass ein großer Teil des Publikums im Kontext eines ‚War Bond Drive‘ auf die Moderatorin Kate Smith so reagierte, als hätte sie eine ihnen persönlich bekannte Person um den Kauf von Kriegsanleihen gebeten. In den 1950er-Jahren wurde dieses Phänomen von Horton/Wohl (1956) und Horton/Strauss (1957) als „para-social relationship“ und „para-social interaction“ (Horten/Wohl 1956: 215) beschrieben, also als eine Art pseudo-sozialer Interaktion. Dabei verstehen die Autoren die Personen, die im Fernsehen auftreten, als Medienfiguren und sie untersuchen die Art und Weise, wie sich diese dem Publikum gegenüber verhalten und dieses Publikum wiederum die Figuren erlebt.

Zentral ist dabei die Beobachtung, dass die Medienfiguren (wie Moderator:innen, Quizmaster, Interviewer:innen etc.) die medial gegebene Einwegkommunikation insofern überbrücken, als sie sich verbal und auch nonverbal so verhalten, als könnte das Publikum mit einem zweiten Zug auf Formen der direkten Ansprache reagieren. Daraus resultiere ein „simulacrum of conversational give and take“ (ebd.: 215), das auf eine „intimacy at a distance“ (ebd.) abziele. So begrüssen die Medienfiguren etwa das Publikum, stellen ihm Fragen, machen Scherze etc. Nimmt nun das Publikum die angebotene Rolle (die „para-social role“, ebd.: 220) an, liegt ‚parasoziale Interaktion‘ vor; es entsteht die Illusion einer Face-to-Face-Interaktion – obwohl sich Medienfigur und Publikum nicht gegenseitig wahrnehmen können. Damit erweist sich dieses Phänomen als Effekt der paradoxen Situation von ‚performern‘ in der Massenkommunikation (Goffman 1981) und als zentrales Element von deren doppelten Artikulation (Scannell 1996). Holly, Bergmann und Püschel haben diese Überlegungen für die Position der Rezipient:innen genutzt, ←7 | 8→indem sie zeigen konnten, dass auch diese mit Medienfiguren (pseudo-) interagieren (vgl. Holly/Bergmann/Püschel 2001).

Ayaß (1993), Hepp (1998) und Moores (2005) haben auf terminologische Schwächen des Begriffs der parasozialen Interaktion hingewiesen und schlagen die Bezeichnung der sozialen Parainteraktion vor, die sich in der Medienlinguistik der letzten Jahre als Erweiterung des Interaktionsbegriffs unter bestimmten medialen Bedingungen durchgesetzt hat. Ayaß (1993: 36) etwa weist zurecht darauf hin, dass das Konzept von Horten, Wohl und Strauss nicht auf Schein-Reziprozität massenmedialer Kommunikation reduziert werden kann. Vielmehr ist bei der Produktion wie auch Rezeption von Medientexten mit der Möglichkeit sozialen Handelns zu rechnen, „also ein seinem Sinn nach auf das Handeln oder Verhalten anderer ausgerichtetes Handeln“ (ebd.). ‚Scheinbar‘ an diesem Handeln ist dementsprechend nicht sein sozialer Aspekt, sondern sein interaktiver, sodass die scheinbare Reziprozität als „para-interaktiv“ (ebd., Hervorhebung im Original) zu bezeichnen ist. Moores (2005: 75) hält ebenfalls fest: „social ‘para-interaction’ is actually a more precise term for the kind of relating which Horton and Wohl have in mind here, because all human relationships, including those technologically mediated by broadcasting, are best thought of as fully ‘social’“.

Obgleich der Begriff der Parainteraktion in der medienlinguistischen Analyse hypermedialer Zusammenhänge in den letzten Jahren immer wieder virulent war (Baldauf 2001; Klemm/Michel 2014; Schmidt/Marx/Neise 2020), wurde hierbei in der Regel wenig darauf eingegangen, dass eine Beschränkung auf rein verbale Aspekte des parainteraktiven Kontakts der parainteraktiven Adressierung nicht gerecht werden kann. Dies gilt übrigens nicht erst für hypermediale Formate, sondern bereits unter den Bedingungen des traditionellen Fernsehens wird Parainteraktion multimodal hergestellt (dazu etwa Böckmann et al. 2019; Luginbühl 2014; Meer 2018). Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht deshalb die genauere Betrachtung von Formen der multimodalen Prozessierung parainteraktiver Praktiken in Fernsehen, Rundfunk und Hypermedien. Damit verbunden sind Fragen nach der strategischen Indienststellung aller semiotischen Ressourcen (Sprachverwendung, Para- und Nonverbales, Aspekte des Raums, Einsatz von Geräuschen und Musik, Bild- und Filmausgestaltung etc.) wie auch Fragen nach dem Effekt der Inszenierung von Interaktion mit dem Publikum wie etwa „sekundäre Intimität“ (Habermas 2009 [1962]) oder Geselligkeit (Scannell 1996). Gleichzeitig wird in allen Beiträgen die Frage relevant, wie im Kontext verschiedener Medialitäten (Fernsehen, YouTube, Instagram, Printanzeigen, ←8 | 9→Livevideostreaming) und unter Verwendung entsprechender semiotischer Ressourcen parasoziale Interaktion je spezifisch prozessiert wird.

2. Die Beiträge in diesem Band

Entscheidend für den Zusammenhalt der einzelnen Beiträge dieses Bandes untereinander ist vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen somit nicht nur die Fokussierung auf parainteraktive Verfahren, sondern vor allem auch die Tatsache, dass das Konzept kontinuierlich anhand der multimodalen Prozessierung textueller Praktiken genutzt wird. Zwar wird es auf verschiedene Medien und Textsorten angewandt, analytisch anhand jeweils spezifischen lebensweltlichen Ausschnitten betrachtet, aber immer ist gesetzt, dass semiotische Prozesse auf unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen als Form der Parainteraktion begriffen werden.

So stellt Hartmut Stöckl in seinem Beitrag „Parasoziale Interaktion in der Werbung: Beobachtungen und Befunde zu einem medienlinguistischen Phantom“ aus empirischer Perspektive zwei Teilkorpora gegenüber, von denen das eine aus 51 Anzeigen von Influencer:innen auf Instagram, einer dominant bildzentrierten Plattform, besteht, während das andere Teilkorpus aus 58 Long-copy- bzw. Copy-only-Printanzeigen zusammengesetzt ist. Damit ermöglicht Stöckl bezogen auf seine Datenbasis Beobachtungen, die sich dezidiert auf die Unterschiede in der Nutzung parainteraktiver Verfahren im Zusammenhang mit der Bildlastigkeit eines Mediums beziehen.

Mit seinem differenzierten Blick auf die anglo-amerikanische Forschung zu ‚para-social interaction‘ bietet der Verfasser im Ansatz einen eher problemorientierten Blick auf das Konzept von Horton und Wohl an. Insgesamt geht es ihm darum herauszustellen, dass es Linguist:innen zwar gelingen kann ‚message cues‘ zu ermitteln, die potenziell in der Lage sind, interaktionsrelevante Formen der Anschlusskommunikation bei Rezipient:innen auszulösen, gleichzeitig macht er jedoch deutlich, dass sich die Linguistik aufgrund der Spezifik ihres Gegenstands schwer tut, die Effekte von Formen der (para-) interaktiven Ansprache auch zu messen. Dies sei eher Aufgabe einer experimentellen Psychologie.

Darüber hinaus weist er bereits auf der Ebene des Literaturberichts darauf hin, dass sich hinter der Vagheit des Konzepts der parasozialen Interaktion ←9 | 10→bei Horton und Wohl möglicherweise zwei unterschiedlich empirisch zu beschreibende Aspekte verbergen, die auch von Weidner und Meer (beide i. d. Bd.) hervorgehoben werden: So unterscheidet er zwischen sozialen bzw. interpersonalen Formen der Parainteraktion und kognitiv und affektiv orientierter Parainteraktion.

Bezogen auf seine eigene empirische Korpusanalyse geht es ihm konsequenterweise darum, anhand eines reflektierten Kategoriengerüsts seine beiden Teilkorpora ausschließlich anhand von empirisch fassbaren ‚message cues‘ auszuwerten. Dabei ergibt die Analyse der Influencer-Posts eher schwache Hinweise auf Verfahren der parainteraktiven Ansprache, während die „long copy“/„copy only“-Werbung sich stark über Formen der sozialen Parainteraktion inszeniert. Diese Beobachtungen legen nach Einschätzung des Verfassers u. a. die Hypothese nahe, dass das Fehlen der Möglichkeit einer direkten Interaktion ein Ausweichen auf andere Formen der Ansprache notwendig macht. Diese scheinen auf Instagram dadurch gegeben zu sein, dass die Influencer:innen selbst als Integrationsfiguren werbend wirksam werden, indem sie – wie auch Meer in ihrem Beitrag betont – die zu bewerbenden Produkte bereits lebensweltlich integriert präsentieren. Zu Recht stellt Stöckl an dieser Stelle heraus, dass diese Strategie nur dann wirkt, wenn die Rezipient:innen die von den Influencer:innen dargestellten Werte und Praktiken teilen.

Im Gegensatz zu dem insgesamt eher kritischen Zugang von Stöckl setzen die beiden folgenden Beiträge von Beate Weidner und Dorothee Meer die Differenzierung zwischen sozialer Parainteraktion als Form der Evozierung rezipient:innenseitiger zweiter Züge und Formen der kognitiv bzw. affektiv ausgerichteten Ansprache von Rezipient:innen bereits voraus, wenn sie den Aspekt der Herstellung von Intimität bei faktischer medialer Distanz zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen.

Hierbei bezieht sich Beate Weidner in ihrem Beitrag „Zur Inszenierung einer geteilten Interaktionssituation im Fernsehen: Soziale Parainteraktion und die Herstellung von Geselligkeit in Kochshows“ empirisch betrachtet auf Formen der TV-Kommunikation. Sie vergleicht am Beispiel von „Schuhbecks“ und „Lanz kocht!“ zwei unterschiedliche Typen von Kochshows miteinander. Im Rahmen ihrer qualitativen Detailanalysen macht sie deutlich, dass die Herstellung einer geteilten Interaktionssituation zwischen Medienakteur:innen, die sie im Anschluss an Horton und Wohl (1956) als Personae begreift, sowohl über explizite, teils multimodal prozessierte Parainteraktion ←10 | 11→wie auch über die Herstellung von Geselligkeit als Form der Parainteraktion erfolgt.

Hierbei stellt Weidner am Beispiel der analysierten Kochshows heraus, dass sich das konkrete Setting der jeweiligen Show entscheidend auf die Art der Nutzung von Parainteraktion auswirkt: Während Schuhbeck in seiner Show alleine kocht und das abwesende Publikum seinen Interaktionspartner bildet, ist die Situation in „Lanz kocht!“ durch die Interaktion zwischen sechs vor der Kamera Handelnden geprägt, so dass die Ansprache des Publikums aus einer anderen Perspektive aktualisiert werden muss.

In der Folge beobachtet Weidner bei Schuhbecks eine Vielzahl expliziter Interaktionsangebote, die zweite Züge konditionell relevant setzen. Hierbei werden nicht nur verbale Aspekte und Blicke eingesetzt, sondern es finden sich zusätzlich kameratechnisch unterstützte Formen der Objektmanipulation, die zu einer simultanen Fokussierung auf eine Handlung oder ein Objekt zwischen Koch und Publikum führen.

Im Gegensatz dazu sind interaktive Formen der Parainteraktion in „Lanz kocht!“ nur in der Start- und der Schlussphase zu beobachten. Stattdessen eröffnet die Kommunikation unter den Protagonist:innen nach Weidners Einschätzung die Möglichkeit, die Zuschauer:innen in die unterschiedlichen Formen der Inszenierungen von Geselligkeit einzubinden.

Details

Seiten
230
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783034345491
ISBN (ePUB)
9783034345507
ISBN (Paperback)
9783034344944
DOI
10.3726/b19832
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Oktober)
Schlagworte
Mediale Praktiken Multimodalität Multimedialität TV-Kommunikation Werbepraktiken Näheangebote Situatives Involvement Medienlinguistik
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 230 S., 64 farb. Abb., 2 s/w Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Dorothee Meer (Band-Herausgeber:in) Martin Luginbühl (Band-Herausgeber:in)

Martin Luginbühl ist Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Basel. Zu seinen Schwerpunkten gehören Medienlinguistik, Gesprächsanalyse, Textlinguistik und kulturanalytische Linguistik. Dorothee Meer ist Professorin für Germanistische Linguistik und Didaktik an der Ruhr-Universität Bochum. Zu ihren Schwerpunkten gehören neben der Medien- und Werbelinguistik die politische Diskursanalyse und Fragen der Kommunikation von Nachhaltigkeit, die Gesprächsforschung und der Bereich der Sprachreflexion im schulischen Deutschunterricht.

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