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Sinnkonstruktion im Fremdsprachenunterricht

Einführung in die rekonstruktive Fremdsprachenforschung mit der Dokumentarischen Methode. 3., nochmals neubearbeitete und erweiterte Auflage

von Bernd Tesch (Autor:in)
©2022 Monographie 352 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch führt in die rekonstruktive Fremdsprachenforschung auf Grundlage der Dokumentarischen Methode ein. Dabei steht die Unterrichtsforschung mit Audio- und Videografie, Dokumentenanalyse sowie Gruppengesprächen und narrativen Interviews im Fokus: Wie wird Fremdsprachenunterricht im Alltag hergestellt? Der Blick ist somit auf die Praktiken der Vermittlung und Aneignung von Fremdsprachen gerichtet, die in ihrem Spannungsverhältnis zu institutionellen, gesellschaftlichen, fachlichen und fachdidaktischen Normen empirisch bestimmbar sind. Im Ergebnis stellt sich der Fremdsprachenunterricht als ein Prozess der Wissenskonstruktion auf verschiedenen Ebenen dar.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort zur ersten Auflage
  • Vorwort zur zweiten Auflage
  • Vorwort zur dritten Auflage
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung: Der rekonstruktive Zugang zum Fremdsprachenunterricht
  • 2 Theorie des fremdsprachlichen Klassenzimmers
  • 2.1 Konstituenten des fremdsprachlichen Klassenzimmers
  • 2.2 Modelle des fremdsprachlichen Klassenzimmers
  • 2.2.1 Fachdidaktische Modelle
  • 2.2.2 Ein interaktionstheoretisches Modell
  • 2.2.3 Ein systemtheoretisches Modell
  • 2.2.4 Ein praxeologisch-wissenssoziologisches Modell
  • 2.3 Das Klassenzimmer als konjunktiver Erfahrungsraum
  • 3 Sinnkonstruktion im Fremdsprachenunterricht
  • 3.1 Methodologische Grundlagen
  • 3.1.2 Methodisch kontrolliertes Fremdverstehen
  • 3.1.2 Diskursorganisation im Fremdsprachenunterricht
  • 3.1.3 Die Indexikalität der Verständigung
  • 3.1.4 Rahmenorientierungen
  • 3.1.5 Typenbildung
  • 3.1.6 Sprachbewusstheit, Lernersprachen, Sprachenlernen
  • 3.1.7 Körpersprache und Sprachbewusstheit
  • 3.2 Verständigung durch Texte
  • 3.2.1 Verständigung durch literarische Texte
  • 3.2.2 Verständigung durch Bildtexte
  • 3.3 Verständigung über Texte
  • 3.3.1 Bild-Text-Aufgabe
  • 3.3.2 Aufgabe Personenbeschreibung
  • 3.4 Die Verständigung in inszenierten Situationen
  • 3.5 Zwischenreflexion
  • 3.6 Verständigung über Fremdsprachenunterricht, über das Lehren und über das Lernen von Sprachen
  • 4 Arbeitsschritte der Dokumentarischen Methode
  • 4.1 Unterrichtsgespräche und Gruppendiskussion
  • 4.1.1 Teilnehmende Beobachtung, Audioaufzeichnung, Transkription
  • 4.1.2 Fallbestimmung
  • 4.1.3 Formulierende Interpretation
  • 4.1.4 Reflektierende Interpretation
  • 4.1.5 Fallauswahl (Sampling)
  • 4.1.6 Fallbeschreibung
  • 4.1.7 Typenbildung und Habitusrekonstruktion
  • 4.2 Narratives Interview
  • 4.2.1 Formale Interviewanalyse
  • 4.2.2 Inhaltliche Interviewanalyse
  • 4.2.3 Fallbeschreibung und Fallvergleich
  • 4.3 Unterrichtsvideografie
  • 4.3.1 Methodologische Grundlagen
  • 4.3.2 Videoaufzeichnung, Simultaneität, Sequentialität und Transkription
  • 4.3.3 Fotogramme und Fotogrammauswahl
  • 4.3.4 Vorikonographische und ikonographische Interpretation
  • 4.3.5 Ikonisch-ikonologische Interpretation
  • 4.4 Dokumentenanalyse
  • 5 Fallwerkstatt
  • 5.1 Die Verständigung über Texte
  • 5.1.1 Forschungsfragen und Forschungsrahmen
  • 5.1.2 Jordi Lafebre, Ne me quitte pas: Dokumentenanalyse I (Analyse des Textsinns)
  • 5.1.3 Ne me quitte pas: Dokumentenanalyse II (Analyse des Aufgabensinns)
  • 5.1.4 Vom Was zum Wie: Wechsel der Analyseeinstellung
  • 5.1.5 Fallvergleich und Typenbildung
  • 5.2 Die nonverbale und verbale Verständigung in Sprachübungen
  • 5.2.1 Forschungsziel und Forschungsrahmen
  • 5.2.2 Anfangsunterricht Französisch: Szenenauswahl und Interaktionsverlauf
  • 5.2.3 Standbildchoreografie der Szene Que’est-ce que tu fais l’après-midi
  • 5.2.4 Ablaufanalyse der Szene Que’est-ce que tu fais l’après-midi
  • 5.2.5 Anfangsunterricht Spanisch: Szenenauswahl und Interaktionsverlauf
  • 5.2.6 Standbildchoreografie der Szene Es la profesión
  • 5.2.7 Ablaufanalyse der Szene Es la profesión
  • 5.2.8 Fallvergleich und Annäherung an den Habitus
  • 5.3 Die Verständigung über das Lehren von Sprachen
  • 5.3.1 Interview mit Bianca
  • 5.3.2 Interview mit Anne
  • 5.3.3 Fallvergleich narrativer Interviews
  • 5.4 Umgang mit Leistungsheterogenität
  • 5.4.1 Dokument: Aufgabenstellung
  • 5.4.2 Dokument: Die Herstellung eines Schreibprodukts durch Lernende
  • 5.4.3 Dokument: Die Bewertung des Schreibprodukts durch Professionelle
  • 6 Ausblick
  • Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
  • Glossar Dokumentarische Unterrichtsforschung
  • Bibliographie
  • Schlagwortverzeichnis
  • Reihenübersicht

←16 | 17→

1 Einleitung: Der rekonstruktive Zugang zum Fremdsprachenunterricht

Ein methodologischer Referenzrahmen

Unter Mark Twains recht bekannten und in der Regel wenig schmeichelhaften Zitaten über das Erlernen der deutschen Sprache fällt eines ins Auge, in dem der Autor das Erlernen des Deutschen mit dem Erlernen des Englischen und dem Erlernen des Französischen vergleicht:

My philological studies have satisfied me that a gifted person ought to learn English (barring spelling and pronouncing) in thirty hours, French in thirty days, and German in thirty years. It seems manifest, then, that the latter tongue ought to be trimmed down and repaired. If it is to remain as it is, it ought to be gently and reverently set aside among the dead languages, for only the dead have time to learn it.

(Appendix D von A Tramp Abroad, „That Awful German Language“)

Meine philologischen Studien haben mich darin bestätigt, dass eine begabte Person Englisch (mit Ausnahme von Orthografie und Aussprache) in dreißig Stunden, Französisch in dreißig Tagen und Deutsch in dreißig Jahren lernen sollte. Es scheint somit auf der Hand zu liegen, dass die letztere Sprache heruntergestutzt und repariert werden sollte. Sollte sie allerdings so bleiben, wie sie ist, so sollte sie sanft und ehrfürchtig zu den toten Sprachen beiseitegelegt werden, da nur die Toten die Zeit haben, sie zu lernen. (Übers. BT)

Ganz offensichtlich waren Mark Twains Lernerlebnisse mit dem Deutschen negativ besetzt. Man könnte nun – Twain folgend – die Ursachen dafür vorwiegend in der deutschen Sprache suchen: zu schwer (mühsam, kompliziert, …) zum Lernen. Man könnte Twain mit einem Augenzwinkern freilich auch als einen Probanden für rekonstruktive Fremdsprachenforschung heranziehen, spiegeln seine Betrachtungen doch, bei aller beabsichtigten Ironie, sozial geteiltes Wissen bzw. sozial geteilte Muster, vor allem das Muster der schweren deutschen Sprache im Vergleich zu anderen Sprachen. Twain verarbeitete seine Frustration beim Fremdsprachenlernen (das „Was“ seiner Aussage) mit dem Mittel der Ironie (das „Wie“). Diese könnte den tieferen Ursprung seiner Frustration verbergen, nämlich das Bedürfnis nach Lernerfolg und Effizienz. Beides blieb ihm beim Versuch, die deutsche Sprache zu lernen, möglicherweise versagt.

Natürlich könnte man die Geschichte einer Begegnung mit der deutschen Sprache auch ganz anders erzählen. Worauf ich mit diesem Beispiel abziele: Das ←17 | 18→Fremdsprachenlernen entspricht genauso wie jedes andere Lernen einer Sinnkonstruktion. Diese ist individuell und kollektiv zugleich. Kollektiv ist sie insofern, als jeder Mensch bestimmte Lebensumstände und somit Erfahrungen, Hoffnungen und Erwartungen mit anderen Menschen teilt. Individuell ist sie, insofern der Einzelne seine Erfahrungen, Hoffnungen und Erwartungen in individuelle Lernentscheidungen und Lernhandlungen gießt. Gelingendes Fremdsprachenlernen folgt also einer gelingenden Sinnkonstruktion, z.B. in Form einer Identifikation mit Texten und kulturellen Erwartungen, mit Lehrpersonen und Lernarrangements, mit persönlichen Kompetenz- oder Effizienzerwartungen. Diese sinnstiftenden Identifikationen können freilich auch ausbleiben und dadurch das Erlernen einer Sprache hemmen. Lernen als Sinnkonstruktion kann dieser Schrift als anthropologische Grundannahme vorangestellt werden.

Zur Verwendung der Begriffe Sinnkonstruktion und Sinnkonstitution ist anzumerken, dass beide eine große semantische und konzeptuelle Nähe aufweisen. Der Begriff der Sinnkonstruktion spielt sowohl in der Wissenssoziologie Karl Mannheims (1980) als auch in der Phänomenologie von Alfred Schütz (Schütz 1974, vgl. Eberle 1984) eine zentrale Rolle, während der Begriff der Sinnkonstitution eher in der Philosophie und der Linguistik beheimatet ist. Die hier bevorzugte Verwendung des Begriffs der Sinnkonstruktion lehnt sich daher an die Wissenssoziologie an, insofern nämlich die sozialen Prozesse des Hervorbringens (Konstruktion) von Sinn im Zentrum der Betrachtung stehen und weniger die Beschaffenheit (Konstitution) der Phänomene, die aus diesen Prozessen resultieren.

Doch was ist ‚Sinn‘?2 Und worin liegt der Unterschied zu ‚Bedeutung‘? Philosophisch betrachtet schließt der Begriff Sinn u.a. und in meinem Verständnis an die Phänomenologie Heideggers an: „Sinn ist ein Existential des Daseins, nicht eine Eigenschaft, die am Seienden haftet, ‚hinter‘ ihm liegt oder als ‚Zwischenreich’ irgendwo schwebt“ (Heidegger 2006: 151). Philosophisch betrachtet ist ‚Sinn‘ (wie auch das Stellen der Sinnfrage) also an das Dasein selbst gebunden und insbesondere an die Zeitlichkeit sowie an das Bewusstsein von Zeitlichkeit. Damit besteht Sinn auch jenseits von Bedeutung, also eines bestimmten Sinns, der in den Objekten liegt.

In kulturwissenschaftlicher Hinsicht rückt die „Transformation der Kulturtheorien“ (Reckwitz 2000) den Sinnbegriff sogar ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die derzeitige Vorherrschaft der bedeutungs-, symbol- und ←18 | 19→wissensorientierten Kulturbegriffe weist den „Sinnbezügen“, „Sinnsystemen“ und „Sinnmustern“ eine herausgehobene Position in den epistemologischen Paradigmen der Kulturforschung zu. Sinn ist hier der Fluchtpunkt der Rekonstruktion kollektiver symbolischer Ordnungen, wird jedoch vom Seinsbezug gelöst. Sinnsysteme lassen sich jetzt nur noch in Relation zueinander verorten. „Das Wissen erscheint nicht mehr aus der sozialen Lage ableitbar, sondern umgekehrt die Handlungsformen abhängig von einem bestimmten Hintergrundwissen“ (ibd: 162).

Im wissenssoziologischen Kontext im Anschluss an Mannheim hingegen resultiert ,Sinn‘ aus der Rekonstruktion subjektiver Relevanzen oder Relevanzsysteme, in denen ggfs. Objektbedeutungen verortet werden können. Die Objektbedeutung ‚Französisch‘ etwa kann einen Sinn u.a. durch ihre Stellung in einem individuellen wie gleichermaßen sozial geteilten Relevanzsystem ‚Französischunterricht‘ bekommen. Die Relevanzsysteme eines Individuums stellen in toto ein individuelles und zugleich soziales symbolisches Ordnungssystem her oder, kurz gesagt, eine soziale Wissensordnung. Die Frage nach Sinn ist somit aus wissenssoziologischer Perspektive auch immer eine Frage nach sozialer Ordnung, und Sinn entsteht aus dem meist vor- oder unbewussten Wissen um soziale Ordnung. Damit wiederum kann man Sinn auch auf die Herstellung von sozialer Ordnung in der Praxis bezogen sehen sowie auf das bewusste oder unbewusste Wissen um die Zeitlichkeit dieser sozialen Ordnung, d.h. sowohl auf bereits gemachte Erfahrungen von Ordnung als auch auf den Entwurf künftiger Ordnungen. Mit anderen Worten, wenn wir verstehend zum Sinn der Verständigung vordringen, dringen wir zu Ordnungsmustern in der Verständigung3 und zu Ordnungen im Dasein selbst des Individuums vor.

Soziale Ordnungen sind in diesem Zusammenhang somit keine gegebenen Gebilde, sondern sie werden durch kommunikatives Handeln, genauer: durch die Relationierung von propositionalem und performativem Wissen in ←19 | 20→sozialen Praktiken – etwa eine so oder so geartete Praxis der Gestaltung von Fremdsprachenunterricht – erst hergestellt. Sie können durch Praktiken aber auch überschritten und umgeschrieben werden. Damit schließt sich der Kreis zur Sinnbestimmung nach Mayer-Drawes (1990: 14): „Im Handeln selbst, dem jedes Erkennen nachgängig ist, wird Sinn hervorgerufen als Antwort auf bestimmte erfahrene Kontexte“. Sinn ist mithin aus praxeologischer Sicht nicht etwas Statisches, das abgerufen werden kann, weil es bereits festgeschrieben ist, sondern Sinn ist daseinsverbunden und wird in Praktiken unaufhörlich neu generiert oder aktualisiert. Man kann daher auch von einem Sinnfluss sprechen.

Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass bestimmte Sinnbezüge nicht wie ein beliebiges Produkt konstruierbar, sondern meist immer schon qua Routinen und Alltagswissen da sind, in der menschlichen Kommunikation somit automatisch und auf natürliche Weise, allerdings meist unreflektiert verstanden werden und von Forschenden im Nachhinein rekonstruiert werden können. Unter Konstruktion von Sinn kann in der Forschungskommunikation mithin auch nicht die völlige Neuerschaffung von Sinn gemeint sein, sondern die Hervorbringung und Reorganisation eines vorgefundenen und mit dem individuellen und kollektiven Dasein verbundenen Sinns im Akt der Verständigung. Wenn wir uns verständigen, rekonstruieren wir also auch immer die realen und potentiellen Konstruktionen der anderen und stellen auf diese Weise einen gemeinsamen, sozial geteilten Sinnvorrat her, und zwar auf der Grundlage kulturell und habituell vorgegebener Schemata, Skripte und Diskurse.

So wird auch deutlich, dass es aus wissenssoziologisch-praxeologischer Sicht immer zwei Sinnebenen bzw. Logiken geben muss, eine explizite Sinnebene, die den Akteuren unmittelbar zugänglich ist (auch als common sense bzw. „kommunikativer“ oder „propositionaler“ Sinn bezeichnet, vgl. Bohnsack 2014), und eine dahinter liegende Sinnebene, die Äußerungen, Gesten und Gebärden als Dokumente für implizite Orientierungen bzw. Orientierungsrahmen betrachtet und als „dokumentarischer Sinn“ bzw. „konjunktives Wissen“ (ibd.) oder auch „performative Logik“ bezeichnet wird. Im Verständnis der Praxeologischen Wissenssoziologie stehen diese beiden Wissensbereiche oder Logiken in „einer Diskrepanz, die es immer aufs Neue zu bewältigen und zu überbrücken und ggf. auch zu legitimieren gilt“ (Bohnsack 2017: 38 f.). Sinnkonstruktion impliziert also sowohl die Reproduktion von Routinen als auch deren beständige Adaption, ja sogar mitunter völlige Aufgabe in Folge von Irritationen.

Der Begriff ,Sinn‘ ist nunmehr, wie oben ausgeführt, klar unterscheidbar vom Begriff der ,Bedeutung‘. Allgemeinsprachlich verstehen wir unter Bedeutung meist einen bestimmten Sinn, das heißt diskrete, abgrenzbare Sinnzuweisungen ←20 | 21→zu Gegenständen oder Handlungen4. Als linguistische Teilwissenschaften der Bedeutung oder auch Bedeutungslehre beschäftigen sich die Semantik und die Semiotik mit der Beziehung von Zeichen und deren Bedeutungen.

Die Verständigung als Verstehen, Deutung und Auslegung von Sinn unter den Bedingungen der Verwendung fremder Sprachen ist es nun, die uns in dieser Schrift interessiert. Wir grenzen das Beobachtungsfeld allerdings noch weiter ein, indem wir die Verständigung im und über den Fremdsprachenunterricht in den Mittelpunkt unseres Interesses rücken.

Nach wie vor fällt es schwer, die außerordentliche Komplexität des Fremdsprachenlehrens und -lernens und insbesondere des fremdsprachlichen Unterrichtsalltags empirisch zu erforschen. Neben einigen forschungspraktischen Herausforderungen – erforderlich sind die Bereitschaft von Lehrkräften und Lernenden5, u. U. auch die Genehmigung der Eltern, der Schulleitung, der Schulkonferenz sowie der Schulbehörden – stellt sich elementar die Frage nach einem geeigneten methodologischen Referenzrahmen. Bei standardisierten bzw. quantifizierenden Verfahren besteht das Problem, dass es bei messtechnisch hohen Standards (z.B. quasi-experimentelle Studien mit Kontrollgruppen) oft nicht möglich ist, die natürliche Lernumgebung und die Komplexität der Faktoren sowie die Dynamik der Unterrichtsprozesse adäquat zu erfassen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wie könnte mit einem standardisierten Verfahren die ganze Komplexität des literarischen Textverstehens bei einer Gruppenarbeit adäquat erfasst werden, wo es offensichtlich zu einer Vielzahl individueller und unvorhersehbarer Aushandlungsprozesse kommt6? ←21 | 22→Diesem Untersuchungsgegenstand ist augenscheinlich ein nichtstandardisiertes, rekonstruktives Untersuchungsverfahren angemessener.

Diese und ähnliche Überlegungen veranlassten mich bereits in den Jahren 2006 bis 2009 bei der Arbeit an einer Studie zum Unterricht mit bildungsstandardbasierten Lernaufgaben, mich für offenere methodische Zugänge zu interessieren. Mir wurde bald klar, dass rekonstruktive struktur- und handlungstheoretische Verfahren den von mir gesuchten Referenzrahmen für die Verständigungsprozesse im Kontext des Fremdsprachenlehrens und -lernens darstellen könnten. Und die bekannten spezifischen Verfahren der Konversationsanalyse, Narrationsanalyse, objektiven Hermeneutik, Ethnografie, Ethnomethodologie, Grounded Theory sowie Dokumentarischen Methode wiesen offensichtlich große Übereinstimmungen in den methodologischen Grundlagen des interpretativen Verstehens von Verständigung auf. Mir wurde überdies deutlich, dass mein Interesse ein fundamental praxeologisches war: Worin bestehen Praktiken des Fremdsprachenlehrens und -lernens? Welche Sinnkonstruktionen finden in der Praxis des Fremdsprachenunterrichts statt? Welche Sinnebenen konstituieren eine Lernsituation in der Praxis (z.B. Bewältigung einer gestellten Aufgabe, individuelle Sprachpartizipation, soziale Erwartungen des Elternhauses, Position in der Hierarchie der Peers)? Mein Forscherinteresse lag bald nicht mehr bei der Suche nach gelingender oder nicht gelingender Aufgabenbearbeitung, nach guten oder weniger guten7 Lernaufgaben, sondern bei ganz anderen Fragestellungen, die sich nämlich auf die Verstehens- und Verständigungspraktiken in einer Fremdsprache und im Fremdsprachenunterricht sowie auf Praktiken der Verständigung über das Lehren und Lernen von Fremdsprachen richteten.

←22 | 23→

Praxeologische Fremdsprachenforschung

Rekonstruktive Fremdsprachenforschung (z.B. Bauer, 2015; Bonnet 2004, 2009; Bracker 2015; Grein 2021, Tesch 2009, 2018, 2020; Vernal Schmid 2021; fächerübergreifend auch Ballis et al. 2014, Martens et al. 2022) ist praxeologische Forschung. Sie untersucht nicht, was alles beim Fremdsprachenlehren und -lernen stattfinden sollte oder könnte, also die Welt des Konzeptionellen, Normativen oder Potentiellen, und auch nicht die messbaren Resultate des Fremdsprachenlehrens und -lernens, sondern sie richtet den Blick auf die Logik der Praxis, konkret: auf das Spannungsverhältnis zwischen den vielfältigen Normen, die den Fremdsprachenunterricht konstituieren (kollektiv-organisationale, gesellschaftliche, fachlich-fachdidaktische ebenso wie individuelle, s. Tesch 2022, Grein & Tesch 2022) und den beobachtbaren Performanzen (verbale wie nonverbale). Sie nimmt damit eine an sozialen Verständigungsprozessen orientierte Perspektive bzw. Analyseeinstellung zum Unterricht ein und hat ein eigenes, auf Normen und Praktiken gerichtetes Erkenntnisinteresse. Kurz gesagt bezieht sich das Erkenntnisinteresse darauf, nach welcher strukturierenden Logik Vermittlung und Aneignung im Fremdsprachenunterricht hergestellt werden. Somit wiederum stellt sie auch eine ganz natürliche und zugleich notwendige Ergänzung zur fachdidaktischen Aufgabenforschung dar (für die Fremdsprachen z.B. Ellis 2003; Finkbeiner 2009; Müller-Hartmann & Schocker-v.-Dithfurth 2011; Tesch et al. 2017), die z.T. sehr detailliert Aufgabenkonstituenten und Faktoren der Aufgabenbearbeitung beschreibt und analysiert. Rekonstruktive Fremdsprachenforschung ist also – soweit sie das Unterrichtsgeschehen untersucht – in Teilen auch Aufgabenbearbeitungsforschung. Und nicht zuletzt ist sie auch einzubetten in eine umfassende Theorie des fremdsprachlichen Klassenzimmers, die in Konturen bereits sichtbar wurde (vgl. Breen 1985; Esteve 2010; Legutke 2006, Leupold 2002, Seedhouse 2004) und die in Kap. 2 nun näher ausgeführt wird.

Darüber hinaus lassen sich aber auch die formale Gestaltung fremdsprachiger Texte (im weiteren Sinne Schrifttexte, Bilder, Filme etc.) und deren Wirkung auf den Rezipienten, genau genommen: die strukturierende Wirkung ihrer ästhetischen Logik, erforschen. In ihrer Sicht auf Sprach- und Handlungspraktiken untersucht die rekonstruktive Fremdsprachenforschung somit die Verständigung durch (fremdsprachige) Texte (s. Kap. 3.2, 4.1, 5.1), die Verständigung durch Aufgaben über Texte (s. Kap. 3.3, 4.1, 5.1, 5.2, 5.4), die Verständigung über und in Situationen in Sprachübung und Rollenspiel (Kap. 3.4) und schließlich auch die Verständigung über den Fremdsprachenunterricht sowie das Lehren und Lernen von Sprachen (s. Kap. 3.4, 4.2, 5.3). Für die ←23 | 24→Untersuchung der Verständigung über das Lehren und Lernen von Sprachen lässt sich die zunächst an der Erhebung von Gruppendiskussionen entwickelte (Bohnsack 1991) Dokumentarische Methode überdies mit der Technik des narrativen Interviews verbinden (s. Kap. 4.2, 5.3).

Die Praktiken des Fremdsprachenunterrichts werden von mir wie erwähnt als soziale und individuelle Sinnkonstruktionen verstanden, meist eingebunden in kommunikatives Lernhandeln in Gruppen oder im Klassenplenum, aber auch in Einzel- bzw. Stillarbeit. Rekonstruktive Fremdsprachenforschung setzt als didaktische Unterrichtsforschung an einer „Prototheorie“ (Baltruschat 2018: 4) der Vermittlung und Aneignung an, die auf der teleologischen Ausrichtung der unterrichtlichen Aktivitätsstruktur an Lerngegenständen beruht (s. ibd.: 83). D.h., die Sinnkonstruktion im fremdsprachlichen Klassenzimmer wird nicht allein als reine Interaktionsstruktur im soziologischen Sinne untersucht, sondern als eine Struktur, die ohne ihre Bezugnahme auf einen unterrichtlichen Gegenstand nicht zu verstehen wäre.

Rekonstruktive Fremdsprachenforschung, die diese Sinnkonstruktionen und ihre Logik untersucht, kann nach Bohnsack (2014: 25) in Anlehnung an Schütz (Schütz 1971: 68) als „Konstruktion zweiten Grades“ bezeichnet werden oder als die Re-Konstruktion einer (sozial) konstruierten Praxis. Aber auch die Forschungspraxis selbst wird wieder Gegenstand von Rekonstruktion. So leitet Bohnsack (2014: 19–21) aus der Tatsache, dass sie denselben Produktionsgesetzmäßigkeiten unterliegt wie die Praxis, die sie erforscht, Validitätsansprüche der rekonstruktiven Sozialforschung ab8 (s. Kap. 2.1). Unter der Formel „Rekonstruktion der Rekonstruktion“ (ibd. 27) versteht er die Untersuchung der rekonstruktiven Forschungspraxis selbst bzw. der Standortgebundenheit des Forschenden.

Mit welchen Daten arbeitet rekonstruktive Fremdsprachenforschung? Es handelt sich meist um gesprochene oder geschriebene fremdsprachliche (die Fremdsprachen betreffende) oder fremdsprachige (in der fremden Sprache verfasste) Texte aller Art, ferner Bildtexte oder mehrmodale Texte. Es handelt sich häufig um aufgezeichnete Gespräche über Fremdsprache(n) und über das Lernen von Fremdsprachen, Gespräche über das Lehren von Fremdsprachen und ←24 | 25→sogar Gespräche über das Lernen vom Lehren von Fremdsprachen. Kurzum, alle erdenklichen Texte, die im direkten oder indirekten Zusammenhang mit dem Lernen und Lehren von Fremdsprachen generiert worden sind, können Gegenstand rekonstruktiver Fremdsprachenforschung sein. Die Gesprächstexte sind real: Sie werden im, Feld’ produziert, und müssen daher zur forschenden Verarbeitung gesichert und aufbereitet (meist audio- bzw. videografiert) und dann ausgewertet werden. In allen Fällen mündlicher Textdaten beginnt die Auswertung mit der Transkription. Es handelt sich zudem um Daten, die im Feld des Fremdsprachenunterrichts und insbesondere in einer alltäglichen Lernumgebung erhoben wurden und nicht um Daten, die aus Experimenten oder experimentellen Anordnungen hervorgingen.

Konstruktionsprozesse

Was macht das Besondere der Dokumentarischen Methode aus, was unterscheidet sie von anderen nicht standardisierten Untersuchungsmethoden, die ebenfalls Unterrichtsdaten erheben? Eine der grundlegenden Erkenntnisse der Wissenssoziologie Karl Mannheims (1922–1925, 1980), auf die sich die dokumentarisch Forschenden stets beziehen, liegt darin, dass Verständigung – vor dem Hintergrund sozial geteilter bzw. „konjunktiver Erfahrungsräume“ (Mannheim 1980: 272) – kollektiv erzeugt wird. Individuen erzeugen, in der Terminologie der Dokumentarischen Methode, sozial geteilte „Orientierungsmuster“9 (Bohnsack 2014: 39), die als unbewusste Wissensbestände (tacit knowledge, Polanyi 1985), vortheoretisches oder in der Terminologie Karl Mannheims als „atheoretisches Wissen“ (Mannheim 1980: 73 ff.) bezeichnet werden können. So äußert eine Gruppe im Rahmen eines Gesprächs oder ein Einzelner im Rahmen eines Interviews unreflektiert Sinngehalte, die notiert ←25 | 26→und anschließend rekonstruiert bzw. gedeutet werden können. „Atheoretisches“ Wissen der Beforschten wird auf diese Weise zu theoretischem Wissen der Forschenden.

Die Verständigung innerhalb einer Gruppe oder einer Schulklasse impliziert jedoch nicht, dass die rekonstruierten Orientierungen auch im selben Rahmen liegen müssen, was heißt: Sie können kongruent ebenso wie inkongruent sein. Przyborski (2004) unterscheidet im Bereich kongruenter Rahmungen drei „inkludierende Modi“ und auf der Seite der inkongruenten Rahmungen zwei „exkludierende Modi“ (s. Kap. 4.1.4). In letzterem Falle redet man sozusagen „aneinander vorbei“ (zur Ausdifferenzierung eines weiteren „komplementären Modus“ bei Asbrand & Martens 2018 s. Kap. 2.3 und 4.1.4).

Rekonstruktive Sozialforschung mit der Dokumentarischen Methode untersucht mithin soziale Sinnkonstruktionen, indem sie die Modi ihrer Erzeugung rekonstruiert. Auf diese Weise entsteht ein Bild der habitualisierten Vorstellungen und Orientierungen in einer Gruppe oder einem Milieu. Diese entsprechen nicht einer objektiven Realität, sondern sie sind vielmehr der subjektiven Realität der sie erzeugenden Personen verhaftet. Diese subjektive Realität ist allerdings handlungsleitend, sie bestimmt das Denken und Handeln der Mitglieder der untersuchten Gruppe in Bezug auf bestimmte Themen.

Auch eine schulische Lerngruppe und Klasse oder auch ein Universitätsseminar kann als ein Kollektiv betrachtet werden, das „konjunktive Erfahrungsräume“ (Mannheim 1980: 272) und somit sozial geteilte Erfahrungen und Orientierungen besitzt. Im Unterrichtsgespräch oder in einer Gruppenarbeit kommen diese Erfahrungen und Orientierungen zum Vorschein. Der Begriff des „Konjunktiven“, der im Übrigen synonym zu „sozial geteilt“ gebraucht werden kann, steht metaphorisch für den Vollzug kollektiver Praktiken.

Details

Seiten
352
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631885291
ISBN (ePUB)
9783631885307
ISBN (Hardcover)
9783631885284
DOI
10.3726/b20003
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Dezember)
Schlagworte
Audiografie Videografie Fremdsprachliches Klassenzimmer Narratives Interview Fallwerkstatt Gegenstandstheorie Habitus Systemtheorie Praktiken Norm
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 354 S., 10 farb. Abb., 44 s/w Abb., 13 Tab.

Biographische Angaben

Bernd Tesch (Autor:in)

Bernd Tesch ist Professor für die Romanistische Fachdidaktik an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er unterrichtete an Schulen im In- und Ausland und war am Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen tätig. Nach seiner Tätigkeit an der Universität Kassel lehrt er derzeit in Tübingen.

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Titel: Sinnkonstruktion im Fremdsprachenunterricht
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