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Kombinierter Zweit- und Schriftspracherwerb

Wie nicht-alphabetisierte Deutschlernende mit Erstsprache Syrisch-Arabisch einem kontrastiv und graphematisch basierten Übungskonzept begegnen

von Hanna Mareike Schmidt (Autor:in)
Dissertation 354 Seiten

Zusammenfassung

Wie lernen aus Syrien zugewanderte Grundschüler*innen synchron die deutsche Laut- und Schriftsprache? Wie meistern sie diese doppelte Lernherausforderung? Basierend auf bestehenden Ansätzen zum Schrift- und Zweitspracherwerb wird ein Förderkonzept entwickelt, das graphematisch orientierte Schemata nutzt. Damit sollen die Lernenden neue phonologische Kategorien erwerben und eine Regelmäßigkeit im Aufbau der deutschen Wortstruktur erkennen. Ihr individueller Umgang mit dem Lernmaterial wurde über einen Zeitraum von zwei Monaten videographiert und qualitativ mittels Inhalts- und Detailanalyse fallspezifisch ausgewertet. Die Schüler*innen zeigen individuell unterschiedliche Lernerfolge, die von einem Phonem- bzw. Silbenverständnis bis zur Sprachbewusstheit in der Zweitsprache Deutsch reichen.
Dieses Werk enthält zusätzliche Informationen als Anhang. Sie können von unserer Website heruntergeladen werden: https://www.peterlang.com/app/uploads/2024/05/Anhang_Schmidt.pdf

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Ausgangslage und Forschungskontext
  • 1.2 Gegenstand, Zielsetzung und Fragestellung
  • 1.3 Methodisches Vorgehen
  • 1.4 Aufbau der Arbeit
  • THEORETISCHER TEIL
  • 2. Theoretische Grundlagen
  • 2.1 Definitionen verwendeter Termini
  • 2.2 Zu den Merkmalen von Laut- und Schriftsprache und ihrem Erwerb
  • 2.2.1 Form und Beständigkeit von Laut- und Schriftsprache
  • 2.2.2 Bestandteile und Beziehungen von Laut- und Schriftsprache
  • 2.2.3 Segmentale Merkmale von Laut- und Schriftsprache: Vokalphoneme und Vokalgrapheme
  • 2.2.4 Suprasegmentale Merkmale von Laut- und Schriftsprache: Sprech- und Schreibsilbe
  • 2.2.5 Zusammenfassung
  • 2.3 Zum Erwerb einer Zweitsprache
  • 2.3.1 Art und Kontext des Zweitspracherwerbs
  • 2.3.2 Einflussfaktoren auf den Zweitspracherwerb
  • 2.3.3 Der Schriftspracherwerb in einer Zweitsprache
  • 2.3.4 Zusammenfassung
  • 2.4 Zum Erwerb lautsprachlicher Fähigkeiten in einer Zweitsprache
  • 2.4.1 Phonologische Interferenz
  • 2.4.2 Modelle zur phonologischen Wahrnehmung
  • 2.4.3 Phonologischer Erwerbsverlauf in einer Zweitsprache
  • 2.4.4 Zusammenfassung
  • 2.5 Zum Erwerb schriftsprachlicher Fähigkeiten in einer Zweitsprache
  • 2.5.1 Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb in einer Zweitsprache
  • 2.5.2 Modelle zu Leseprozessen
  • 2.5.3 Graphematische Interferenz
  • 2.5.4 Zusammenfassung
  • 2.6 Vermittlung des Laut- und Schriftspracherwerbs in einer Zweitsprache
  • 2.6.1 Curriculare Vorgaben
  • 2.6.2 Konzepte zur Förderung laut- und schriftsprachlicher Fähigkeiten
  • 2.7 Herleitung des Forschungsdesiderats
  • KONZEPTIONELLER TEIL
  • 3. Übungskonzept
  • 3.1 Vorstudie und daraus resultierende Konsequenzen für die Hauptstudie
  • 3.1.1 Rahmenbedingungen und Design der Vorstudie
  • 3.1.2 Stichprobe der Vorstudie
  • 3.1.3 Quantitative Ergebnisse der Vorstudie
  • 3.1.4 Qualitative Ergebnisse der Vorstudie
  • 3.1.5 Konsequenzen aus den gewonnenen Erkenntnissen
  • 3.2 Übungsmaterial: Laut- und schriftsprachliche Strukturen
  • 3.2.1 Schemakarten
  • 3.2.2 Bildkarten
  • 3.3 Übungsinhalte: Zusammenführung von laut- und schriftsprachlichen Strukturen
  • 3.3.1 Erklärungssequenzen
  • 3.3.2 Übungssequenzen
  • 3.4 Zusammenfassung
  • 3.5 Fragestellungen
  • EMPIRISCHER TEIL
  • 4. Methodik der Untersuchung
  • 4.1 Qualitative Fallstudie
  • 4.2 Stichprobe und Rahmenbedingungen
  • 4.2.1 Merkmale der Stichprobe
  • 4.2.2 Ablauf und Setting der Untersuchung
  • 4.2.3 Sprach- und Schreibkenntnisse in L1 und L2
  • 4.3 Datenerhebungsmethoden
  • 4.3.1 Perzeptionstest
  • 4.3.2 Teilnehmende und videogestützte Beobachtung
  • 4.4 Limitationen
  • 4.4.1 Die Beobachtung des Zweit- und Schriftspracherwerbs erfolgt im konzipierten Übungssetting
  • 4.4.2 Lernprozesse entziehen sich der direkten Beobachtung
  • 4.5 Auswertungsmethoden
  • 4.5.1 Inhaltsanalyse anhand der Beobachtungsprotokolle
  • 4.5.2 Selektion lernwirksamer Momente
  • 4.5.3 Detailanalyse
  • 4.5.4 Veränderung der phonetischen und phonologischen Wahrnehmung
  • 4.6 Zusammenfassung
  • ERGEBNISTEIL
  • 5. Individuelle Begegnungen mit den graphischen Schemata
  • 5.1 Elmar
  • 5.1.1 Lernprozess von Elmar
  • 5.1.2 Lernwirksame Momente für Elmar
  • 5.1.3 Veränderungen in der phonetischen und phonologischen Wahrnehmung von Elmar
  • 5.1.4 Zusammenfassung und Interpretation der Darstellungen zu Elmar
  • 5.2 Jamal
  • 5.2.1 Lernprozess von Jamal
  • 5.2.2 Lernwirksames Moment für Jamal
  • 5.2.3 Veränderungen in der phonetischen und phonologischen Wahrnehmung von Jamal
  • 5.2.4 Zusammenfassung und Interpretation der Darstellungen zu Jamal
  • 5.3 Arabell
  • 5.3.1 Lernprozess von Arabell
  • 5.3.2 Lernwirksames Moment für Arabell
  • 5.3.3 Veränderungen in der phonetischen und phonologischen Wahrnehmung von Arabell
  • 5.3.4 Zusammenfassung und Interpretation der Darstellungen zu Arabell
  • 5.4 Salina
  • 5.4.1 Lernprozess von Salina
  • 5.4.2 Lernwirksame Momente für Salina
  • 5.4.3 Veränderungen in der phonetischen und phonologischen Wahrnehmung von Salina
  • 5.4.4 Zusammenfassung und Interpretation der Darstellungen zu Salina
  • 5.5 Ibrahim
  • 5.5.1 Lernprozess von Ibrahim
  • 5.5.2 Lernwirksames Moment für Ibrahim
  • 5.5.3 Veränderungen in der phonetischen und phonologischen Wahrnehmung von Ibrahim
  • 5.5.4 Zusammenfassung und Interpretation der Darstellungen zu Ibrahim
  • ABSCHLIEßENDER TEIL
  • 6. Zusammenführung der Einzelfallergebnisse
  • 6.1 Interpretation der lernwirksamen Momente
  • 6.1.1 Verwendung des Übungsmaterials zur Überwindung eines Wahrnehmungskonflikts
  • 6.1.2 Verwendung des Übungsmaterials zur Verdeutlichung des Gelernten
  • 6.2 Progression im Lernprozess
  • 6.3 Veränderungen in der phonetischen und phonologischen Wahrnehmung
  • 7. Didaktische Konsequenzen für den Unterricht mit nicht-alphabetisierten Deutschlernenden
  • 7.1 Hilfen des Übungskonzepts
  • 7.2 Hürden des Übungskonzepts
  • 8. Schluss
  • Tabellenverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Literatur
  • Reihenübersicht

←12 | 13→

1. Einleitung

„Es gibt ein Leben nach der Flucht. Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang“ (Trojanow 2017, 9).

So wie eine Flucht das Leben eines Menschen für immer prägt, so prägen auch Kenntnisse in der Laut- und Schriftsprache die Lebenswege jedes Einzelnen. Insbesondere der Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen bildet die Grundlage für die schulische Bildung und ermöglicht die Partizipation an unserer schriftlich geprägten Gesellschaft (vgl. Bredel, Fuhrhop & Noack 2017, 1 f.). So heißt es im oben zitierten autobiografischen Band von Trojanow an anderer Stelle:

„Als er ein Wort so ausspricht, dass es lustig klingt, ziehen die anderen Schüler [und Schülerinnen, Anm. HMS] Grimassen. Die Wörter sind in ihrem Mund Murmeln, denkt er. Nachträglich kommt es ihm vor, als habe er an diesem Tag beschlossen, die fremde Sprache so zu lernen, dass er sich nie wieder schämen muss. Er ahnt noch nicht, was seine Eltern von Anfang an wissen: Sprache ist Ermächtigung. Wer das Alphabet beherrscht, kann sich selbst verteidigen“ (Trojanow 2017, 13).

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem parallelen Zweit- und Schriftspracherwerb von Kindern im Grundschulalter, die aus Syrien nach Deutschland geflohen sind.1 Diese „neuartige“ Lerngruppe wurde bisher wenig erforscht. Dabei bestehen für sie besondere Herausforderungen, die bei Lehrenden wie Forschenden zu Einstellungs- und Wissensveränderungen führen sollen.

Eine besondere Rolle – sowohl beim Erwerb der neuen, fremden Sprache als auch beim Erwerb der Schriftsprache – spielt die phonologische Wahrnehmung. So bedeutsam die Lautwahrnehmung für die Schrift ist, so bedeutsam ist die Schrift für die Lautwahrnehmung. Die Erkennung distinktiver phonologischer Merkmale stellt die Basis für die Aneignung einer Alphabetschrift dar. Gleichzeitig macht die Alphabetschrift Merkmale der gesprochenen Sprache zugänglich. Die Schrift macht Wahrzunehmendes sichtbar.

Die Berücksichtigung des Potentials der Schrift bei der Vermittlung sprachlicher Kenntnisse findet in didaktischen Ansätzen Beachtung – ist bisher aber ←13 | 14→nicht auf die besonderen Bedarfe und Fähigkeiten von nicht-alphabetisierten Deutschlernenden angepasst, geschweige denn empirisch überprüft worden. Diesem Desiderat widmet sich die vorliegende Arbeit in Form einer explorativen Untersuchung.

1.1 Ausgangslage und Forschungskontext

Insbesondere im Jahr 2015 wurde das gesellschaftliche Leben in Deutschland durch vermehrte Zuwanderung vielfältiger. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) registriert, dass

„das Jahr 2015 […] besonders durch eine hohe Zuwanderung von Schutzsuchenden geprägt [war]. 2015 wurden 476.649 Asylanträge (Erst- und Folgeanträge) registriert (gegenüber 202.834 im Jahr 2014). Dies entspricht einem Anstieg um 135,0 Prozent im Vergleich zum Vorjahr“ (Migrationsbericht 2015).

Unter den Schutzsuchenden sind zahlreiche Menschen, die aus dem Bürgerkriegsland Syrien nach Europa geflohen sind, unter ihnen auch Kinder. Im Jahr 2019 waren 586.850 sechs- bis zehnjährige syrische Kinder noch immer schutzsuchend in Deutschland (vgl. Statistisches Bundesamt 2021). In den vergangenen Jahren fand somit ein enormer Anstieg der Anzahl an Kindern in deutschen Grundschulen mit Erstsprache Syrisch-Arabisch statt.2

Durch den Artikel 7 Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes besteht die Pflicht für Kinder die Schule zu besuchen und beschult zu werden (vgl. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 2020, Artikel 7). Die Kinder haben ein Recht auf schulische Bildung und Erziehung (vgl. Benholz, Frank & Niederhaus 2016, 12). Für die Beschulung „neu zugewanderter Schüler*innen“ (Massumi & von Dewitz 2015, 13) ergeben sich besondere Anforderungen.3 Diesen ←14 | 15→konnten Lehrpersonen zu Beginn der rasch steigenden Zuwanderungszahlen nicht immer gerecht werden, so dass mit „eilig und ohne besondere Sachkenntnis zubereiteten Provisorien“ reagiert werden musste (vgl. Benholz, Frank & Niederhaus 2016, 11). Auch digitale Lehrmaterialien wurden konzipiert, die die spezifischen Lernbedingungen und die Lebenswelt Geflüchteter einbeziehen sollten. Jedoch wurden sie meist von Fachfremden entwickelt und unterschieden sich kaum von gängigen Lehrwerken aus der Fremdsprachendidaktik (vgl. Michalak & Döll 2021, 7). Insbesondere neu zugewanderte Schüler*innen erfordern von Lehrenden allerdings „weit mehr linguistisches und spracherwerbstheoretisches Wissen, als diese aus ihrer Ausbildung mitbringen“ (Hägi 2016, 303).

Neu zugewanderte Kinder zeichnen sich insbesondere durch ihre sehr geringen Deutschkenntnisse aus, wenn sie in die Schule kommen. Aufgrund des bereits seit mehreren Jahren andauernden Kriegs in Syrien sind viele der Geflüchteten im Grundschulalter noch in keiner Schule gewesen. Sie sind folglich keiner Schrift begegnet und noch nicht alphabetisiert. Sie stellen eine neuartige Lerngruppe dar, nämlich nicht-alphabetisierte Deutschlernende.

Bei Eintritt in die deutschen Schulen sind diese Kinder ganz besonderen Problemen ausgesetzt, die die fehlende Basis der gesprochenen Zielsprache betreffen:

  • Sie können auf keinen Wortschatz zurückgreifen,
  • sie haben keine implizite Grammatik entwickelt,
  • sie haben keine phonologische Bewusstheit und keine Kenntnisse über Aussprache und Betonung.

Die größte Herausforderung ist, dass sie sich beide Sprachrepräsentationen – die gesprochene und die geschriebene Sprache – gleichzeitig aneignen müssen. Die neu zugewanderten Kinder müssen den Schriftspracherwerb in einer ihnen noch gänzlich fremden Sprache meistern. Sie können nicht auf Fähigkeiten in der gesprochenen Sprache, auf die der Anfangsunterricht in der Regel setzt, zurückgreifen, was für diese Lerngruppe ein genuines Merkmal darstellt.

Eine für den Schriftspracherwerb notwendige Voraussetzung ist die phonologische Wahrnehmung (vgl. Maas 2006; Kohler 2015; Kern & Walkenhorst 2014). Betonungsmuster, Silben- und Lautelemente müssen auditiv erkannt werden, um in Schriftzeichen übersetzt werden zu können. Die Phonologie stellt daher den Ausgangspunkt für den Schriftspracherwerb dar (vgl. Bredel 2012, 125 f.).

←15 | 16→Die phonologische Wahrnehmung ist immer sprachspezifisch. Zu Beginn des Erwerbs einer fremden Sprache fallen Laute durch eine Art phonologischen Filter hindurch (vgl. Polivanov 1974). Es besteht phonologische Interferenz, d. h. nur die funktionalen Laute der Erstsprache, die die Bedeutung eines Wortes bestimmen, werden in der Zweitsprache wiedererkannt.4 Lernende tragen unbewusst phonetische Merkmale in die fremde Sprache. Es entstehen „Verhörer“ (engl.: slips of the ear), da sie bestimmte Laute aufgrund ihrer Hörgewohnheit aus der Erstsprache zu Beginn des Zweitspracherwerbs nicht registrieren können. Die lautsprachlichen Schwierigkeiten betreffen allerdings nicht nur Vokal- und Konsonantenphoneme, sondern auch neuartige Betonungsmuster, Silbentypen und Silbenstrukturen.

Die durch die Erstsprache beeinflusste phonologische Wahrnehmung beim parallelen Zweit- und Schriftspracherwerb ist für die neu zugewanderten Schüler*innen eine weitere – und zentrale – Herausforderung.

Die von der Erstsprache beeinflusste Wahrnehmung resultiert in produktiven Schwierigkeiten, sowohl in der gesprochenen als auch in der geschriebenen Sprache. Durch einen fremdsprachlichen Akzent kann es zu Missverständnissen kommen (vgl. Dahmen 2016).5 Eine falsche Aussprache kann zudem zu Fehlern in der Schreibung führen. Perzeptive Schwierigkeiten haben darüber hinaus negative Auswirkungen auf den Ausbau neuer Lexeme in der Zweitsprache und das grammatikalische Wissen der Lernenden. Schließlich können größere Probleme beim Erwerb formalsprachlicher Fähigkeiten bestehen (vgl. Belke 2016, 89). In der Literatur sind folgende Problembereiche herausgestellt worden:

  • -Phonetische Interferenz, d. h. Aussprachefehler, führt dazu, dass distinktive Merkmale in der L2 nicht eingesetzt werden. DaZ-Lerner*innen mit L1 Arabisch sprechen z. B. das Wort leben – /le:bən/ – als lieben – /li:bən/ – aus, nutzen also statt eines halb-offenen Vokals einen geschlossenen Vokal, da es in dem phonologischen System ihrer Erstsprache kein distinktives Merkmal ←16 | 17→Zungenhebung/Mundöffnung gibt, das Merkmal Zungenrichtung hingegen schon (vgl. Kerschhofer-Puhalo 2009).
  • -Phonologische Interferenz erschwert den Aufbau eines Wortschatzes in der L2, denn distinktive Merkmale, die zur Bedeutungsunterscheidung dienen, werden nicht wahrgenommen. DaF-Lerner*innen mit L1 Polnisch nehmen etwa unterschiedliche Vokalqualitäten nicht wahr, so dass sie zwischen dem Minimalpaar rate vs. Ratte nicht differenzieren können und diese als polyseme Homophone erwerben (vgl. Nimz 2016).
  • -Phonologische Interferenz bewirkt fehlerhafte Verwendungen grammatischer Markierungen, wenn z. B. nicht zwischen unbetonten Silben differenziert wird, so dass die Feminin-Endung -in – /ɪn/ – in Freundin mit dem Pluralsuffix -en – /ən/ – in Freunden substituiert wird (vgl. Belke 2016).
  • -Phonologische Interferenz konstituiert (Recht-)Schreibfehler. DaZ-Lerner*innen mit L1 Arabisch, Türkisch oder Chinesisch bereiten z. B. komplexe Silbenränder perzeptive Schwierigkeiten, so dass sie einen sogenannten „Sprossvokal“ beim Aussprechen einsetzen, den sie auch beim Schreiben realisieren, wie z. B. in *<Fereunde> anstelle von <Freunde> (vgl. Dahmen 2015).6

Anhand der Beschreibung dieser Erwerbsschwierigkeiten wird die Bedeutung perzeptiver Fähigkeiten im Zweitspracherwerb erkennbar. „Jeder sprach- und schriftsprachlichen Produktion geht eine – möglicherweise falsche – Perzeption voraus“ (Schmidt & Fay 2018, 8). Phonologische Fähigkeiten sind nicht nur zentral für den Erwerb einer korrekten Artikulation und das Verstanden-Werden in der Interaktion, sondern auch für den Erwerb orthographischer Fähigkeiten, die wiederum ein wichtiger Faktor für die Teilhabe an der literal geprägten Gesellschaft sind.

Geflüchtete Kinder haben nicht die gleichen Voraussetzungen wie Kinder, die eingeschult werden und als sogenannte „Deutsch-als-Zweitsprach-Lernende“ gelten (vgl. Ahrenholz 2017). Diese Kinder, die bereits mehrere Jahre in Deutschland leben und Deutschkenntnisse erworben haben, in ihrer Familie aber eine andere Sprache sprechen, haben in der Regel bereits eine Reihe grundlegender sprachlicher „Basisqualifikationen“ (Ehlich, Bredel & Reich 2010) erworben.7

←17 | 18→Im Vergleich zu sogenannten „Seiteneinsteiger*innen“ (vgl. u. a. Schulte-Bunert 2000; Ahrenholz & Maak 2013; Maak 2014; Bentler 2016; Berkemeier & Krupp 2016), die Schüler*innen im schulpflichtigen Alter beschreiben, die „von der Seite“ in das deutsche Bildungssystem eintreten und aufgrund ihrer fehlenden Sprachkenntnisse im Deutschen ein Beteiligungsproblem gegenüber ihren Mitschüler*innen haben, weisen geflohene Kinder aus Syrien noch keine Schulerfahrung auf. Aufgrund der „Präsenz von Schrift“ (Wygotski 1986, 228) ist das Schreibenlernen mit einer Bewusstmachung von Strukturen verbunden. Bereits alphabetisierte Schüler*innen können zwischen den Repräsentationen von Sprache wechseln, haben eine Sprachbewusstheit und ein konzeptionelles Verständnis von Schrift erlangt im Gegensatz zu Nicht-Literalisierten (vgl. Leupolz-Oebel 2020, 100).

Nicht-alphabetisierte Schüler*innen ohne Deutschkenntnisse grenzen sich darüber hinaus von nicht-alphabetisierten, erwachsenen Deutsch-als- Fremdsprachlernenden ab, die aufgrund ihres Alters andere kognitive Voraussetzungen für den Spracherwerb mitbringen als Kinder. Die Alphabetisierung von Erwachsenen erfolgt meist im Rahmen von Integrationskursen, die bürokratisch ausgerichtet sind (vgl. Feldmeier 2015).

Studien aus der Fachdidaktik Deutsch und dem Bereich Zweitspracherwerb untersuchten bislang den Erstschriftspracherwerb bei DaZ-Lernenden, so dass der Einfluss der Erstsprache auf den deutschen Schriftspracherwerb erforscht wurde (vgl. u. a. Grießhaber 2004; Jeuk 2007; Becker 2011; Dahmen 2015). Darüber hinaus fanden Untersuchungen zu Schüler*innen statt, die bereits in ihrer Erstsprache literalisiert sind, so dass der Einfluss der zuerst gelernten Schriftsprache auf den Zweitschrifterwerb erhoben wurde (vgl. u. a. Berkemeier 1997; Belke 2008). Einige Studien haben zudem den zweisprachigen Schriftspracherwerb untersucht (vgl. u. a. Nehr 1988). Dieser falle Lernenden leichter als der Schriftspracherwerb in der Zweitsprache (vgl. Jeuk & Schäfer 2013). Der Schriftspracherwerb in der Erst- und Zweitsprache kann entweder koordiniert (vgl. Scharfenberg 2010) oder kontrastiv erfolgen (vgl. Heyn 2013).

Es wird immer wieder betont, dass der Erwerb der Schriftsprache in einer Zweitsprache eng mit dem Ausbau mündlicher Kompetenzen, speziell der rezeptiven Anbahnung, erfolgen sollte (vgl. u. a. Feick & Schramm 2016). Die Verwendung schriftsprachlichen Materials für Schriftunerfahrene zu nutzen, wird daher als Überforderung der Lernenden angesehen. So wird in vielen ←18 | 19→Handbüchern zum Unterricht mit Kindern mit L2 Deutsch empfohlen, die Kinder zunächst durch Hören der L2 in die Sprache „eintauchen“ zu lassen (vgl. Piepho 2003, 54) und einen Grundwortschatz auszubauen (vgl. Rösch 2003c, 53).

Dieser kritischen Haltung einem schriftbasierten Ansatz gegenüber tritt die vorliegende Arbeit entgegen. Die Ausgangslange der neu zugewanderten Kinder wird dabei nicht nur als Herausforderung angesehen. Die Vermittlung der Schriftsprache zusammen mit dem Deutschen als Zweitsprache bringt ebenso zwei positive Aspekte hervor: Die Lernenden bauen ein Wortkonzept auf und der Ausbau der formalen Sprachbetrachtung sowie der Sprachbewusstheit wird angeregt (vgl. Andresen 2005). Dies stellt für die Erstschrift- und Zeitsprachlernenden gegenüber den zuvor abgegrenzten Lerngruppen einen Vorteil dar. Im schulischen Kontext sind Zweitsprachlernende im Vergleich zu ihren einsprachigen Mitschüler*innen einem enormen Zeitdruck ausgesetzt. Der Erwerb der Schriftsprache sollte nicht erst nach dem Aufbau einer mündlichen Basiskompetenz erfolgen, denn „[…] schriftsprachliche Kenntnisse sind auch die Grundlage für den Ausbau der gesprochenen Sprache“ (Maas 2015, 138).

Schriftliche Strukturen können für den Ausbau der phonologischen Wahrnehmung bei Zweitsprachlernenden symbolisierend zur Hilfe genommen werden (vgl. Pracht 2010; Bredel 2012; Röber 2012).8 Die schriftliche Sprache ermöglicht in ihrer Gegenständlichkeit die Isolierung sprachlicher Einheiten und ihre Analyse (vgl. Günther 1983, 39).

Im Gegensatz zu einem „rein“ lautlichen Training der Wahrnehmungsfähigkeit werden phonologische Merkmale erfahrbar gemacht, die erst durch die Schrift zum Gegenstand der Betrachtung werden. Schwer Wahrzunehmendes wird im Medium der Schrift materialisiert und sichtbar.

Die Einführung schriftlicher Strukturen beginnt meist auf segmentaler Ebene. Mittels Anlauttabellen – einsprachigen wie zweisprachigen – werden Phoneme den Graphemen zugeordnet und Wörter in ihre Lautsegmente zerlegt (vgl. Schründer-Lenzen 2013, 23).

Zudem wird Kindern zunächst eine bildliche Lautdarstellung präsentiert, bevor sie diese in ihre symbolische Form umwandeln. Für das ←19 | 20→In-Beziehung-Setzen auditiver und visueller Segmente werden von den Lernenden Abstraktions- und Segmentierungsfähigkeiten gefordert. Treten Probleme in der Lautwahrnehmung auf, wird durch Diskriminationsübungen die phonologische Wahrnehmung trainiert.9 Es wird davon ausgegangen, dass erst, wenn ein Unterschied zwischen zwei Phonemen wahrgenommen wird, ein Graphem zugeordnet werden kann (vgl. Dahmen 2015). Ein solches Vorgehen suggeriert den Lernenden, dass eine Phonem-Graphem-Korrespondenz besteht. Weitere phonologische Merkmale, wie etwa die Silbe, die das deutsche Schriftsystem strukturiert, werden dabei außer Acht gelassen (vgl. Bredel et al. 2017).

Die Wahrnehmung phonologischer Strukturen, d. h. Laute, Silben und Betonungsmuster, ist Grundlage für den Schriftspracherwerb. Da bestimmte Strukturen für Erstschriftlernende ohne Deutschkenntnisse zu Beginn des Zweitspracherwerbs aufgrund phonologischer Interferenz nicht zugänglich sind, besteht eine Problematik, die eine besondere Maßnahme erfordert. Für den Ausbau der phonologischen Wahrnehmung kann die Schrift selbst als Hilfsmittel verwendet werden. Wie dieser Gedanke für die genannte Zielgruppe didaktisch umsetzbar ist, soll das vorliegende Dissertationsprojekt spezifizieren.

Details

Seiten
354
ISBN (PDF)
9783631889060
ISBN (ePUB)
9783631889077
ISBN (Hardcover)
9783631888087
DOI
10.3726/b20187
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Dezember)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 354 S., 7 farb. Abb., 31 s/w Abb., 18 Tab.

Biographische Angaben

Hanna Mareike Schmidt (Autor:in)

Hanna Mareike Schmidt war von 2016 bis 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Germanistik der Europa-Universität Flensburg. Sie lehrte in den Bereichen Sprachwissenschaft, Schriftspracherwerb und Schriftvermittlung.

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