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Die Informationspflicht des § 630c Absatz 2 Satz 2 BGB

Ärztliche Fehleroffenbarung und Selbstbelastungsfreiheit

von André Byrla (Autor:in)
Dissertation 354 Seiten

Zusammenfassung

Ärztliche Informationspflichten über Behandlungsfehler stehen im Spannungsverhältnis mit den Interessen der Ärztinnen und Ärzte, die mit teils schwerwiegenden persönlichen Folgen rechnen müssen. Der Autor beschäftigt sich nach einem Überblick zum Recht der medizinischen Behandlung aus zivil- und strafrechtlicher Sicht mit der Frage ärztlicher Fehleroffenbarungspflichten vor Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes im Jahr 2013. Im Schwerpunkt setzt sich der Autor mit der durch das Patientenrechtegesetz ins Bürgerliche Gesetzbuch eingefügten behandlungsfehlerbezogenen Informationspflicht und damit korrespondierenden Beweisverwertungsfragen auseinander

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Kapitel 1 Grundlagen des Heilbehandlungsrechts
  • 1.1 Das Arzt-Patient-Verhältnis
  • 1.2 Die zivilrechtlichen Grundlagen der Heilbehandlung
  • 1.2.1 Grundlagen der Haftung
  • 1.2.2 Der Behandlungsvertrag
  • 1.2.3 Behandlungsfehler
  • 1.2.3.1 Diagnosefehler
  • 1.2.3.2 Anwendungs- oder Therapiefehler/Behandlungsfehler im engeren Sinn
  • 1.2.3.3 Überwachungs- und Kontrollfehler
  • 1.2.3.4 Sicherungsaufklärungsfehler/Fehler bei der therapeutischen Aufklärung
  • 1.2.3.5 Übernahmeverschulden/ Übernahmefehler
  • 1.2.3.6 Organisationsfehler/Organisationsverschulden
  • 1.2.4 Die ärztlichen Aufklärungs- und Informationspflichten
  • 1.2.4.1 Selbstbestimmungsaufklärung
  • 1.2.4.2 Therapeutische Aufklärung/Sicherungsaufklärung
  • 1.2.4.3 Wirtschaftliche Aufklärung
  • 1.2.5 Besonderheiten des Beweisrechts im Arzthaftungsprozess
  • 1.2.5.1 Verminderte Darlegungslast
  • 1.2.5.2 Beweiserleichterung durch Anscheinsbeweis
  • 1.2.5.3 Beweiserleichterung bei Dokumentationsmangel
  • 1.2.5.4 Beweiserleichterung bei mangelnder Befunderhebung oder Befundsicherung
  • 1.2.5.5 Beweiserleichterung bei Einwirkung auf Beweismittel
  • 1.2.5.6 Beweislastumkehr bei grobem Behandlungsfehler
  • 1.2.5.7 Beweiserleichterung bei Organisationsmangel
  • 1.2.5.8 Beweiserleichterung bei voll beherrschbaren Risiken
  • 1.2.6 Vorprozessuale und außergerichtliche Klärung ärztlicher Behandlungsfehler
  • 1.2.6.1 Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen
  • 1.2.6.2 Unterstützung durch die gesetzlichen Krankenkassen
  • 1.2.6.3 Privatgutachten
  • 1.3 Die ärztliche Heilbehandlung aus strafrechtlicher Sicht
  • 1.3.1 Körperverletzungsdoktrin
  • 1.3.2 Reformbestrebungen
  • 1.3.3 Beweisfragen des Medizinstrafrechts
  • 1.3.4 Garantenstellung des Arztes
  • 1.3.5 Einwilligung und Aufklärung
  • 1.3.6 Sonderfall der hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht
  • 1.3.7 Strafrechtliche Folgen fehlerhafter oder unterlassener Aufklärung
  • 1.3.7.1 Selbstbestimmungsaufklärung
  • 1.3.7.2 Therapeutische Aufklärung
  • 1.4 Außerzivil- und -strafrechtliche Folgen fehlerhafter ärztlicher Behandlung
  • 1.4.1 Berufsrechtliche Folgen
  • 1.4.2 Widerruf der Approbation
  • 1.4.3 Ruhen der Approbation
  • 1.4.4 Vertragsarztrechtliche Folgen
  • 1.4.4.1 Vertragsärztliches Disziplinarverfahren
  • 1.4.4.2 Entziehung der Vertragsarztzulassung
  • 1.4.5 Arbeitsrechtliche Folgen
  • 1.4.5.1 Kündigung
  • 1.4.5.2 Arbeitnehmerhaftung
  • Kapitel 2 Das Patientenrechtegesetz
  • 2.1 Entstehungsgeschichte/Gesetzeshistorie
  • 2.2 Überblick zur gesamten Regelungsmaterie des Patientenrechtegesetzes
  • 2.3 Beweggründe des Gesetzgebers und Gesetzeszweck
  • 2.4 Überblick zu den Änderungen des BGB durch das Patientenrechtegesetz
  • 2.5 Zwischenfazit
  • Kapitel 3 Fehleroffenbarung vor Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes
  • 3.1 Rechtsprechung zur Informationspflicht über eigene und fremde Behandlungsfehler
  • 3.2 Zwischenfazit
  • 3.3 Streitstand im Schrifttum zur Informationspflicht über eigene oder fremde Behandlungsfehler
  • 3.4 Pflicht zur unaufgeforderten Offenbarung eigener Fehler - Fehleraufklärungspflicht
  • 3.4.1 Ableitung aus der Selbstbestimmungsaufklärung
  • 3.4.1.1 Kleuser
  • 3.4.1.2 Taupitz
  • 3.4.1.3 Gubernatis
  • 3.4.1.4 Rieger
  • 3.4.1.5 Laufs
  • 3.4.1.6 Solbach
  • 3.4.1.7 Glatz
  • 3.4.1.8 Terbille/Schmitz-Herscheidt
  • 3.4.2 Ableitung aus der Pflicht zur therapeutischen Aufklärung
  • 3.4.2.1 Kleuser
  • 3.4.2.2 Terbille/Schmitz-Herscheidt
  • 3.4.2.3 Schelling/Warntje
  • 3.4.2.4 Taupitz
  • 3.4.3 Ableitung aus der Diagnoseaufklärung
  • 3.4.4 Ableitung aus einer Vermögensbetreuungspflicht/wirtschaftlichen Aufklärungspflicht
  • 3.4.4.1 Terbille/Schmitz-Herscheidt
  • 3.4.4.2 Glatz
  • 3.4.4.3 Kleuser
  • 3.4.4.4 Taupitz
  • 3.4.4.5 Solbach
  • 3.4.5 Ableitung aus § 666 BGB direkt bzw. analog
  • 3.4.5.1 Kleuser
  • 3.4.5.2 Taupitz
  • 3.4.6 Ableitung aus Behandlungsvertrag und allgemeiner Treuepflicht
  • 3.4.6.1 Uhlenbruck
  • 3.4.6.2 Francke/Hart
  • 3.4.6.3 Terbille/Schmitz-Herscheidt
  • 3.4.6.4 Gubernatis
  • 3.4.6.5 Prütting
  • 3.4.6.6 Zwischenfazit
  • 3.4.7 Inhalt und Umfang der Fehleroffenbarungspflicht im Schrifttum
  • 3.4.7.1 Kleuser
  • 3.4.7.2 Taupitz
  • 3.4.7.3 Schwarz
  • 3.4.7.4 Eigene Stellungnahme
  • 3.5 Pflicht zur Fehleroffenbarung auf Nachfrage des Patienten
  • 3.5.1 Umfang der Offenbarungspflicht auf Nachfrage
  • 3.5.1.1 Terbille/Schmitz-Herscheidt
  • 3.5.1.2 Uhlenbruck
  • 3.5.1.3 Dann
  • 3.5.1.4 Schelling/Warntjen
  • 3.5.1.5 Eigene Stellungnahme
  • 3.6 Pflicht zur Offenbarung fremder Fehler
  • 3.6.1 Glatz
  • 3.6.2 Rieger
  • 3.6.3 Kern/Laufs
  • 3.6.4 Schreiber
  • 3.6.5 Eigene Stellungnahme
  • 3.6.6 Umfang der Pflicht zur Offenbarung fremder Fehler
  • 3.7 Fehleroffenbarungspflicht aus strafrechtlicher Sicht
  • 3.7.1 Körperverletzung durch Unterlassen?
  • 3.7.2 Strafvereitelung durch Unterlassen?
  • 3.7.3 Strafbarkeit wegen Betruges?
  • 3.8 Zwischenfazit
  • Kapitel 4 Fehleroffenbarung nach dem Patientenrechtegesetz
  • 4.1 Allgemeines
  • 4.2 Anwendungsbereich
  • 4.2.1 Adressat der Informationspflicht
  • 4.2.2 Adressat der Information nach § 630c Abs. 2 Satz 2 BGB
  • 4.3 Entstehungsvoraussetzungen der Informationspflicht des § 630c Abs. 2 Satz 2 BGB
  • 4.3.1 Behandlungsfehler
  • 4.3.2 Erkennbarkeit
  • 4.3.3 Nachfrage (Alternative 1)
  • 4.3.4 Abwendung einer Gesundheitsgefahr (Alternative 2)
  • 4.4 Inhalt und Umfang
  • 4.4.1 Streitstand
  • 4.4.2 Historische Auslegung
  • 4.4.3 Teleologische Auslegung
  • 4.4.4 Systematische Auslegung
  • 4.4.5 Verfassungsrechtliche Auslegung
  • 4.4.5.1 Verfassungsmäßigkeit einer Informationspflicht zu eigenen Fehlern
  • 4.4.5.2 Zwischenfazit
  • 4.5 Form der Informationserteilung
  • 4.6 Entbehrlichkeit der Informationspflicht
  • 4.7 Rechtsfolgen der Informationspflichtverletzung
  • 4.7.1 Zivilrechtliche Haftung
  • 4.7.2 Strafrechtliche Folgen
  • 4.7.2.1 Strafbarkeit wegen Betruges durch Unterlassen?
  • Kapitel 5 Das Beweisverbot in § 630c Abs. 2 Satz 3 BGB
  • 5.1 Allgemeines
  • 5.2 Grundlagen zu Beweisverboten
  • 5.2.1 Beweiserhebungsverbote
  • 5.2.2 Beweisverwertungsverbote
  • 5.2.3 Verwendungsverbote
  • 5.2.3.1 Begriff und Abgrenzung
  • 5.2.3.2 Reichweite und Umfang der Verwendungsverbote
  • 5.3 Einordnung des § 630c Abs. 2 Satz 3 BGB
  • 5.3.1 Streitstand im Schrifttum
  • 5.3.2 Eigene Stellungnahme
  • 5.4 Umfang und Reichweite des § 630c Abs. 2 Satz 3 BGB
  • 5.4.1 Umfang und sachliche Reichweite im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren
  • 5.4.1.1 Umfang
  • 5.4.1.2 Sachliche Reichweite im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren
  • 5.4.2 Personelle Reichweite des Beweisverbots
  • 5.4.2.1 Analoge Anwendung des Verwendungsverbotes auf tatsächliche Behandelnde
  • 5.4.3 Zustimmungserfordernis für die Verwendung
  • 5.4.3.1 Belehrungspflicht
  • 5.4.3.2 Art und Weise der Zustimmung
  • 5.4.3.3 Widerruf der Zustimmung
  • 5.4.4 Reichweite außerhalb des Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahrens
  • 5.4.4.1 Unmittelbare Anwendung des § 630c Abs. 2 Satz 3 BGB außerhalb von Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren
  • 5.4.4.2 Analoge Anwendung des § 630c Abs. 2 Satz 3 BGB außerhalb von Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren
  • Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

Am 26. Februar 2013 ist das „Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten“ oder kurz das sog. Patientenrechtegesetz vom 20. Februar 2013 in Kraft getreten.1 Mit diesem Artikelgesetz wurden Änderungen des Bürgerlichen Gesetzbuches, des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches, der Patientenbeteiligungsverordnung, des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, der Zulassungsordnung für Vertragsärzte, der Zulassungsordnung für Vertragszahnärzte und der Bundesärzteordnung vorgenommen, wobei ein wesentlicher Teil des Gesetzes die Kodifizierung des Behandlungs- und Arzthaftungsrechts umfasst. So wurden im BGB die §§ 630a bis 630h unter dem zusätzlich eingeführten Gliederungspunkt „Behandlungsvertrag“ eingefügt. Der Gesetzgeber beabsichtigte mit dem Patientenrechtegesetz die Herstellung von Rechtsklarheit und Rechtssicherheit für alle Beteiligten herbeizuführen.2 Im Rahmen dieses Gesetzes wurden von der Rechtsprechung im Arzthaftungsrecht entwickelte Rechtssätze im BGB kodifiziert.3

Das Patientenrechtegesetz führte in § 630c Absatz 2 Satz 2 BGB eine in der juristischen Literatur partiell als Fehleroffenbarungspflicht deklarierte4 Verpflichtung des Behandelnden ein, den Patienten auf Nachfrage oder zur Abwendung gesundheitlicher Gefahren über Umstände, die die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen, zu informieren. Im Hinblick auf die sogenannte Selbstbelastungsfreiheit bzw. den Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ sah sich der Gesetzgeber darüber hinaus veranlasst, in Satz 3 des § 630c Absatz 2 festzuschreiben, dass diese Information in einem gegen den Behandelnden oder einen nahen Angehörigen geführten Straf- oder Bußgeldverfahren zu Beweiszwecken nur mit Zustimmung des Behandelnden verwendet werden darf.5 Wie aus der Begründung des Patientenrechtegesetzes hervorgeht, vertritt der Gesetzgeber dabei die Auffassung, er habe nunmehr mit Einführung des ←19 | 20→§ 630c Absatz 2 Satz 2 BGB lediglich eine ohnehin bestehende Informationspflicht über fehlerhafte Heilbehandlung ins BGB übernommen.6

Während die Abgeordneten des 17. Deutschen Bundestages, Regierungsvertreter und allen voran der damalige Patientenbeauftragte der Bundesregierung Wolfgang Zöller das Patientenrechtegesetz als „einen großen Wurf“ feierten, wurde nicht nur von den Oppositionsfraktionen und von Vertretern der Patientenverbände teils heftige Kritik am Gesetz geübt.7 In der juristischen Literatur war bereits vor Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes eine Diskussion über die Fehleroffenbarungspflicht des Behandelnden sowie Kritik an der Informationspflicht des § 630c Absatz 2 Satz 2 BGB laut geworden.8

Gegenstand dieser Arbeit ist die Untersuchung der Informationspflicht des Behandelnden nach § 630c Absatz 2 Satz 2 BGB sowie die hierauf bezogene Verwendungsregelung für Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren nach § 630c Absatz 2 Satz 3 BGB. Dabei soll nach einer Einführung in die Grundlagen des alle Rechtsgebiete umfassenden Heilbehandlungsrechts und einer Darstellung der Grundzüge der historischen Entwicklung des Patientenrechtegesetzes und seines wesentlichen Inhalts zunächst mit Blick auf die Fehleroffenbarungspflicht der Diskussionsstand zur rechtlichen Lage vor Inkrafttreten des Gesetzes dargestellt werden. Im Anschluss daran werden Inhalt und Umfang der in Rede stehenden Informationspflicht sowie des Verwendungsverbotes untersucht.


1 Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten, BGBl. (2013) I S. 277.

2 Regierungsentwurf, BT-Drs. 17/10488, 10.

3 Regierungsentwurf, BT-Drs. 17/10488, 9.

4 Katzenmeier, in: BeckOK-BGB, § 630c, Rn. 10 f.; ders., in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 7. Aufl., Kap. V, Rn. 18 f.; Schumacher, Nemo Tenetur.

5 Regierungsentwurf, BT-Drs. 17/10488, 21 f.

6 Regierungsentwurf, BT-Drs. 17/10488, S. 21; Thole, MedR 2013, 145, 146.

7 Krüger-Brand/Rieser, Patientenrechtegesetz: Konsensfindung statt Revolution, in: Deutsches Ärzteblatt 2012, 109 (49).

8 Katzenmeier, MedR 2012, 576; Schelling/Warntjen, MedR 2012, 506; Spickhoff, ZRP 2012, 65; Wagner, VersR 2012, 789.

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Kapitel 1 Grundlagen des Heilbehandlungsrechts

1.1 Das Arzt-Patient-Verhältnis

Arzt und Patient sind mehr als die Partner eines bürgerlich-rechtlichen Vertragsverhältnisses.9 Sie werden als Verbündete gegen Krankheit und Tod gesehen.10 Die Beziehung zwischen beiden ist vielschichtig, oft in ein komplexes Verhältnis zu verschiedenen anderen Beteiligten eingebunden11 und geprägt durch eine Vielzahl von Regelungen, die in eine soziale, gesellschaftliche und berufliche Wirklichkeit eingebettet sind.12 Der Arzt ist dabei auf der einen Seite als „Helfer des einzelnen Kranken“ zunächst dem individuellen Interesse des Patienten verpflichtet; die ärztliche Tätigkeit dient jedoch auch dem Gemeinwohl.13

Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient setzt ein hohes Maß an Vertrauen und persönlicher Zuwendung voraus, dessen Fundament die menschliche Beziehung zwischen Arzt und Patient ist.14 Denn die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist in vielerlei Hinsicht durch Asymmetrie gekennzeichnet.15 Diese beruht zum ersten auf einem sachlichen Informations- und Kompetenzgefälle zwischen dem Arzt als medizinischem Spezialisten und dem Patienten als Laien, zum zweiten auf einem Gefälle hinsichtlich der emotionalen Beteiligung16 und ←21 | 22→zum dritten auf einer rechtlich implizierten Entscheidungsgewalt des Arztes über den Patienten, die unter anderem die Fragen von Überweisungen, Verordnungen von Heil- und Hilfsmitteln und Krankschreibungen umfasst.17 Hinzukommen können ferner sozial-kulturelle Unterschiede der Herkunft, des Lebensstils sowie der individuellen Werte, die auf die Interaktion und Kommunikation zwischen Arzt und Patienten Auswirkungen haben können.18 Dies erzeugt insgesamt eine Abhängigkeit des Patienten, in der er „auf die Verantwortung seines Helfers angewiesen und ihm gleichsam ausgeliefert ist.“19

Das Arzt-Patient-Verhältnis geht über eine juristische Vertragsbeziehung hinaus.20 Neben zivil- und strafrechtlichen Vorschriften beeinflussen unter anderem Regelungen zur Ausbildung, Weiterbildung sowie der Organisation der Versorgungsbereiche das Arzt-Patient-Verhältnis.21 Allesamt haben diese Vorschriften Einfluss auf Zeitanteile, Inhalte und Stile der Kommunikation.22 Auch die ärztliche Berufsethik wirkt in ständiger Weise auf die rechtliche Beziehung des Arztes zum Patienten ein. Die Forderungen der Berufsethik an den Arzt übernimmt das Recht weithin zugleich als rechtliche Pflicht.23 Die Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten stellt dabei ein wesentliches Element des Pflichtenkreises des Arztes dar.24

Der Aufgabe des Arztes, die Gesundheit des Patienten wiederherzustellen und zu erhalten und dessen Streben, helfend einzugreifen, sind dort Grenzen gesetzt, wo diese mit dem Recht auf Selbstbestimmung des Patienten über seinen Körper kollidiert.25 Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist grundrechtlich geschützt. Es „folgt aus den Verfassungsprinzipien, die zu Achtung und Schutz der Würde und der Freiheit des Menschen und seines Rechts auf Leben ←22 | 23→und körperliche Unversehrtheit verpflichten: aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.“26 Die Rechtsprechung hat aus diesem Verständnis und zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts das Erfordernis der Einwilligung und Aufklärung entwickelt.27 Mit Urteil vom 31. Mai 1894 hatte das Reichsgericht entschieden, dass auch der medizinisch indizierte, fehlerfreie, ärztliche Eingriff den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt und grundsätzlich nur durch Einwilligung gerechtfertigt werden kann.28 Das Reichsgericht übertrug diese Rechtsprechung nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches auch auf das Deliktsrecht in § 823 BGB.29 Es gilt heute als ständige Rechtsprechung, dass der ärztliche Heileingriff zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts des Patienten und seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit dessen Aufklärung und Einwilligung voraussetzt.30 Dem Arzt kann jedoch nicht die gesamte Last des Arzt-Patienten-Verhältnisses auferlegt werden; es bedarf der Mitwirkung des Patienten, welche über die „in passiver Haltung [erteilte bloße] Einwilligung in ärztlicherseits gebotene Behandlungsvorschläge“ hinausgeht.31 Auch von Seiten der Patienten wird daher – soweit möglich – ein mitverantwortlich geführter Dialog vorausgesetzt.32 Mittlerweile bestimmt das Leitbild eines kommunikativen und kooperativen Arzt-Patient-Verhältnisses („Patient als Koproduzent von Gesundheit“) das ärztliche Berufsrecht33 und ist auch in der ärztlichen Praxis im Begriff sich vollends durchzusetzen.34

Die Arzt-Patient-Beziehung ist durch die Novation des ärztlichen Selbstverständnisses, das Zurücktreten des Fürsorgeprinzips hinter dem ←23 | 24→Selbstbestimmungsrecht des Patienten und das Aufkeimen sozio-ökonomischer Faktoren einem Wandel unterworfen.35 Die wissenschaftliche und technische Entwicklung sowie eine zunehmende Verrechtlichung der Medizin und auch eine wachsende Erwartungshaltung auf Patientenseite tragen dazu bei.36 Die medizinische Praxis wird zudem immer stärker von sozialversicherungsrechtlichen Versorgungs- und Bedarfssteuerungsinstrumenten und anderen Regelungen bestimmt.37 Seit längerem prägen die Begriffe „Wirtschaftlichkeit“, „Effizienz“ und „Einsparung“ die gesundheitspolitischen Diskussionen.38

Mit diesem Wandel des Arzt-Patienten-Verhältnis wird ein zunehmender Vertrauensverlust zwischen Patient und Arzt verbunden.39 Symptomatisch ist die seit den 1980iger Jahre stetig wachsende Zahl von Arzthaftungsfällen.40 Als Gründe hierfür werden zum einen die zunehmende Erwartungshaltung der Patienten genannt, deren steigende Ansprüche an die ärztliche Sorgfalt mit dem medizinischen Fortschritt einhergehen.41 Zum anderen wird ein Anstieg der Prozessbereitschaft der Patienten konstatiert,42 die mit dem Schwund absoluter Autorität, dem Abbau gesellschaftlicher Standesunterschiede und der Rationalisierung der Medizin verbunden ist.43

Die zunehmende Reglementierung ärztlichen Handelns durch die Sozialgesetzgebung blieb nicht ohne Kritik;44 befindet sich der Arzt doch dadurch immer mehr in einer Konfliktsituation. Denn auf der einen Seite wird von ihm seitens ←24 | 25→der Solidargemeinschaft die Zuteilung beschränkter, kollektiver Ressourcen erwartet, auf der anderen Seite die Wahrung der individuellen Interessen des Patienten.45 Bereits im Jahr 1960 sah sich das BVerfG zu der Klarstellung veranlasst, dass die Rechtsstellung des „Kassenarztes“ (heute: Vertragsarzt), obschon er eine öffentliche Aufgabe erfüllt und durch seine Zulassung in ein öffentlich-rechtliches System einbezogen ist, kein öffentlicher Dienst ist.46 Seit dieser Zeit wurden im Rahmen einer Vielzahl von Gesundheitsreformen legislative Maßnahmen initiiert, die die Rechtsstellung des Vertragsarztes weiter veränderten.47 In diesem Zusammenhang vertrat der Gesetzgeber des Gesundheitsstrukturgesetzes48 die Auffassung, dass beim Vertragsarzt „freiberufliche Elemente durch Elemente eines staatlich gebundenen Berufs überlagert“ würden.49 Dies ist in der Literatur zum Teil auf heftige Kritik gestoßen, die die sozialrechtlichen Eingriffe als Inbegriff für eine „Ablösung des freien Berufes durch die Tätigkeit als „Kassenbeamter“50 und „Amtswalter einer staatsbürokratischen Gesundheitsversorgung“51 sehen. Dabei wirkt sich die Aushöhlung der Freiberuflichkeit des Arztes für den Patienten genauso nachteilig aus, wie für den Arzt selbst. Denn Entscheidungsfreiheit und Unabhängigkeit des Arztes sind wichtige Voraussetzungen für die Entfaltung der ärztlichen Fähigkeiten zugunsten des Patienten in der konkreten Behandlungssituation.52 Auch in der Rechtsprechung hat diese gesetzgeberische Auffassung vom Bild des Vertragsarztes keinen Rückhalt gefunden. So hat der Große Senat für Strafsachen am BGH mit seinem Beschluss vom 29. März 2012 klargestellt, dass Vertragsärzte bei der Wahrung der ihnen übertragenen Aufgaben weder Amtsträger noch Beauftragte der gesetzlichen Krankenkassen sind.53 Hervorgehoben wurde dabei, dass der Vertragsarzt auf ←25 | 26→Grund der individuellen, freien Auswahl der versicherten Person tätig wird und das Verhältnis des Versicherten zum Vertragsarzt wesentlich vom persönlichen Vertrauen sowie einer durch die Bestimmungen der Kasse entzogenen Gestaltungsfreiheit geprägt wird.54

Auch die insgesamt zunehmende Verrechtlichung der Medizin55 außerhalb des Sozialversicherungsrechts wird bisweilen kritisch betrachtet, obwohl im Grundsatz die Notwendigkeit staatlicher Regulierung der ärztlichen Tätigkeit heute nicht mehr ernsthaft bestritten wird; betrifft die ärztliche Tätigkeit doch bedeutende Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung.56 Die Verrechtlichung kann - wie in jedem anderen Lebensbereich auch - den Aufbau einer Vertrauensbeziehung erleichtern, wenn der Patient davon ausgehen kann, dass sein Arzt stets den gleichen Grundsätzen verpflichtet und sein Handeln rechtlich überprüfbar ist57 und so zu einer Legitimation der Vertrauensbeziehung58 führen. Eine weiter zunehmende Verrechtlichung lässt jedoch auch negative Wirkungen auf die Arzt-Patienten-Beziehung befürchten, wenn eine allzu weitgehende Reglementierung zu einer Differenz zwischen Recht und ärztlichem Ethos führt.59 Es droht aus der verrechtlichten Medizin eine Defensivmedizin zu werden, wenn der Arzt, der in seinem Patienten bereits den Gegner eines Haftungsprozesses fürchten muss, sich juristisch so weit wie möglich gegen den Vorwurf eines Behandlungsfehlers oder einer Verletzung seiner Aufklärungspflicht abzusichern gedenkt.60

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1.2 Die zivilrechtlichen Grundlagen der Heilbehandlung

1.2.1 Grundlagen der Haftung

Die Haftung für fehlerhafte Heilbehandlung wird in Literatur und vor allem Praxis unter dem Begriff der Arzthaftung zusammengefasst. Der Begriff ist insoweit irreführend, als dieser nicht allein die Haftung von Ärztinnen und Ärzten für ärztliches Fehlverhalten im Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung, sondern auch die vertragliche Krankenhausträgerhaftung für die Schlechtleistung ärztlichen und nichtärztlichen Personals und das sog. Organisationsverschulden erfasst.

Die Haftung für fehlerhafte Heilbehandlung ist eine zweigliedrige Verschuldenshaftung. Neben der vertraglichen steht die deliktische Haftung, der - jedenfalls bis zum Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes - in der Praxis der Arzthaftung eine größere Bedeutung als der vertraglichen Haftung zukam.61 Eine Begründung hierfür lieferten bis zur Schuldrechtsreform 2002 die unterschiedlichen Verjährungsregeln und die Möglichkeit nur über deliktische Ansprüche Schmerzensgeld für Körper- und Gesundheitsschäden nach § 847 BGB a. F. durchzusetzen.62

Der Fokus des Arzthaftungsrechts liegt auf dem ärztlichen Behandlungsfehler und wird vom Aufklärungsfehler flankiert, wobei die Selbstständigkeit der Haftung wegen fehlender oder nicht ordnungsgemäßer Aufklärung umstritten ist.63

Unabhängig von der Begründung des Anspruchs auf Schadensersatz wegen fehlerhafter Behandlung aus Vertrag oder Delikt besteht nach den allgemeinen zivilrechtlichen Regeln die Darlegungs- und Beweislast auf Seiten des klagenden Patienten. Die Rechtsprechung hat frühzeitig begonnen Beweiserleichterungen und Beweislastumverteilungsregelungen zu entwickeln, wodurch eine umfangreiche, teils schwer überblickbare Kasuistik zur Beweisverteilung entstanden ist. Mit dem Patientenrechtegesetz hat der Gesetzgeber den Versuch unternommen, diese im Bürgerlichen Gesetzbuch unter § 630h BGB zu normieren.

1.2.2 Der Behandlungsvertrag

Die Musterberufsordnung der Ärzte (MBOÄ) sowie die einzelnen ärztlichen Berufsordnungen der Länder enthalten keine Regelungen zum ←27 | 28→Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient. In ihr werden lediglich einige Einzelpflichten, wie die Aufklärungs- sowie die Schweige- und Dokumentationspflicht, jedoch nicht eine Behandlungspflicht des Arztes normiert.64 Rechtsbeziehungen zwischen Arzt und Patienten können nach den allgemeinen Regeln des Zivilrechts durch Vertrag oder gesetzlich (Geschäftsführung ohne Auftrag und unerlaubte Handlung) begründet werden.65 Durch das Patientenrechtegesetz wurde der Behandlungsvertrag nunmehr in §§ 630a bis h BGB besonders geregelt.66

Der Behandlungsvertrag wurde bereits vor den Änderungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs durch das Patientenrechtegesetz nach allgemeiner Auffassung als ein spezifischer Dienstvertrag höherer Art eingeordnet.67 Er kann abhängig von übernommenen Pflichten werkvertragliche Elemente enthalten; ausnahmsweise – wo ein Erfolg geschuldet, insbesondere wo der Erfolg ausdrücklich vereinbart ist – kann es sich um einen Werkvertrag handeln.68 Insbesondere im Bereich der ambulanten Patientenversorgung durch niedergelassene Ärzte wird der Behandlungsvertrag in der Regel zwischen dem Arzt und dem Patienten geschlossen.69 Abweichend davon wird insbesondere im Bereich der stationären Behandlung im Krankenhaus der Behandlungsvertrag als Teil des sogenannten totalen Krankenhausvertrags zwischen dem Träger der stationären Einrichtung und dem Patienten vereinbart.70 Ausnahmen hiervon gibt es im Bereich der sogenannten Chefarztbehandlung, bei denen ein (Zusatz-)Behandlungsvertrag mit dem Chefarzt im Hinblick auf dessen jeweilige ärztliche Behandlung zu ←28 | 29→Stande kommt,71 sowie im Belegarztwesen. Hier wird der Behandlungsvertrag zwischen dem als Belegarzt tätigen nicht beim Krankenhaus angestellten Arzt (§ 18 KHEntG), der die stationären Einrichtungen des Krankenhauses für seine Behandlung nutzt, und dem Patienten geschlossen.72

Der Behandlungsvertrag bildet in aller Regel die Grundlage für die Rechtsbeziehung nicht nur zwischen Arzt und Privatpatient, sondern auch zwischen vertragsärztlichem Leistungserbringer und „Kassenpatienten“.73 Dies galt lange Zeit als äußerst umstritten. Während eine vor allem im sozialrechtlichen Schrifttum vertretene Ansicht,74 zu der auch das Bundessozialgericht75 gezählt werden muss, die Rechtsbeziehung zwischen Vertragsarzt und gesetzlich Krankenversichertem als ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis sui generis ansah, vertraten Teile des Schrifttums76 sowie der BGH77 die Auffassung, auch hier handele es sich um einen zivilrechtlichen Behandlungsvertrag, dessen Inhalt durch das Sozialrecht modifiziert wird. Dieser Ansicht hatte sich auch das BVerfG angeschlossen, ohne sich zu einer näheren Begründung veranlasst zu sehen.78 Mit Einführung des Patientenrechtegesetzes stellte der Gesetzgeber allerdings in der Gesetzesbegründung klar, dass Arzt und Patient, unabhängig davon ob gesetzlich oder privat versichert, einen Behandlungsvertrag abschließen.79

1.2.3 Behandlungsfehler

Der Begriff des Behandlungsfehlers ist zentral für die Arzthaftung, nicht aber selbstständiger Haftungstatbestand.80 Zum Pflichtenkreis des Arztes gehören, neben der Behandlung und der Aufklärung des Patienten, die Dokumentation des Behandlungsgeschehens und der medizinischen Befunde. Die Verletzung ←29 | 30→der Behandlungs- und Aufklärungspflichten führt zur Schadensersatzpflicht der Behandlungsseite. Demgegenüber begründen Dokumentationsfehler keine vertragliche oder deliktische Haftung, sondern erlangen lediglich über das Beweisrecht eine Bedeutung.81 Der Begriff des Behandlungsfehlers hat den Begriff des „Kunstfehlers“ abgelöst, gegen dessen Verwendung - wegen seiner Mehrdeutigkeit und emotionalen Aufladung - nachdrücklich Einwände erhoben worden sind.82

Der Arzt haftet, wenn er die gebotene ärztliche Sorgfalt verletzt und dies ursächlich für die Schädigung des Patienten ist. Dagegen verbleiben Schadensrisiken beim Patienten, die aus seiner Erkrankung resultieren und die sich auch durch fehlerfreie ärztliche Behandlung nicht vermeiden lassen. Denn der Arzt schuldet keinen Heilerfolg, weswegen die Risiken des Patienten aus der Grunderkrankung nicht deshalb zum ärztlichen Risiko werden, weil dieser die Behandlung übernommen hat.83 Das Haftungsrecht zur Heilbehandlung muss demnach abgrenzen zwischen dem Gesundheitsschaden aus schicksalhaftem Verlauf, der auf der Unberechenbarkeit der menschlichen Natur oder auf einem Unfall beruht, und dem Gesundheitsschaden, der dem ärztlichen Fehlverhalten zuzurechnen ist.84

Im weitesten Sinn erfasst der Begriff des Behandlungsfehlers jedes nach dem Stand der Medizin unsachgemäße Verhalten des Arztes, unabhängig davon, ob es sich um ein Tun oder Unterlassen handelt. Dabei beinhaltet dieser nicht nur die „klassischen“ Fehler bei der eigentlichen Behandlung, sondern auch die Fehler im Behandlungsumfeld.85

Der mit dem Patientenrechtegesetz eingeführte § 630a Abs. 2 BGB bestimmt, dass die Behandlung durch den Behandelnden nach dem zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standard zu erfolgen hat, sofern nichts anderes vereinbart ist. Für die Behandlung durch einen Arzt kommt es demnach - wie bereits vor Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes - auf die Einhaltung des anerkannten medizinischen Standards an.86 Vom Arzt wird erwartet, dass er „unter Einsatz der von ihm geforderten medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen im konkreten Fall vertretbare ←30 | 31→Entscheidungen über die diagnostischen sowie therapeutischen Maßnahmen getroffen und diese Maßnahmen sorgfältig durchgeführt hat.“87 Kernpunkt ist, wie bei der Fahrlässigkeitshaftung im Allgemeinen, die Festlegung des konkreten Verhaltensmaßstabs. Die Frage nach dem pflichtgemäßen ärztlichen Verhalten in der konkreten Behandlungssituation ist dabei eine normative Wertung, die dem Gericht vorbehalten ist.88 Gleichwohl wird diese Rechtsfrage inhaltlich durch den medizinischen Standard, also die Erkenntnisse medizinischer Wissenschaft sowie ärztlicher Praxis bestimmt, weswegen die Gerichte regelmäßig auf medizinischen Sachverstand, insbesondere auf die Anhörung medizinischer Sachverständiger und die Einholung fachspezifischer Gutachten, angewiesen sind.89

Der medizinische Standard bedeutet dabei jedoch keinesfalls das „Zählen von Autoritäten“ im Sinne eines Abstellens auf die „schulmedizinische“ Mehrheitsmeinung.90 Denn zum einen befindet sich die medizinische Wissenschaft in einem ständigen Fluss,91 deren Dynamik für den Fortschritt der praktischen Medizin und damit für die Gesundheit der Bevölkerung von entscheidender Bedeutung ist.92 So dürfen auch Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbänden nicht ungeprüft mit dem medizinischen Standard gleichsetzt werden. Vielmehr können Leitlinien im Einzelfall zwar den medizinischen Standard zum Zeitpunkt ihres Erlasses beschreiben, sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten. Das Heranziehen von Leitlinien kann ein Sachverständigengutachten daher nicht ersetzen.93 Zum anderen kommt dem Arzt die Therapie- und Methoden-(wahl-)freiheit zu, die beim ordnungsgemäß aufgeklärten und einwilligendem Patienten grundsätzlich auch die Anwendung sog. Neuland- oder Außenseitermethoden erlaubt.94

Im Lauf der Zeit hat sich eine schwer überschaubare Kasuistik der ärztlichen (Behandlungs-) Fehlerquellen herausgebildet, welche die Rechtsprechung und ←31 | 32→das Schrifttum zu strukturieren versucht.95 Es werden danach regelmäßig folgende Behandlungsfehlertypen unterschieden:

1.2.3.1 Diagnosefehler

Fehler bei der Befunderhebung umfassen sowohl das Unterlassen gebotener Befunderhebung als auch die fehlerhafte oder überflüssige Befunderhebung.96 Der Arzt hat grundsätzlich alle erforderlichen Diagnosemaßnahmen zu ergreifen, die auf Grund der Umstände und Verdachtsmomente (Zustand des Patienten und Krankheitsbild) in Betracht kommen.97

Von einem Diagnosefehler wird gesprochen, wenn der Einsatz von nach dem medizinischen Standard gebotenen Erkenntnisquellen zumindest teilweise unterblieben oder entgegen der medizinischen Sorgfalt eine unzutreffende Beurteilung bereits erhobener Befunde erfolgt ist.98 Der Diagnosefehler, der von der Rechtsprechung nur mit äußerster Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet wird, ist vom sogenannten Diagnoseirrtum abzugrenzen. Eine solche nicht vorwerfbare Fehldiagnose besteht in der ohne Verstoß gegen ärztliche Standards vorgenommenen Fehlinterpretation sorgfaltsgemäß erhobener Befunde.99 Strenger wird dagegen von der Rechtsprechung das Nichterheben von Befunden als vorwerfbarer Diagnosefehler angesehen (sogenannter Befunderhebungsfehler).100 Die Abgrenzung dieses Befunderhebungsfehlers vom Diagnosefehler im engeren Sinne ist daher vor allem in der forensischen Praxis von erheblicher Bedeutung.101

←32 | 33→
1.2.3.2 Anwendungs- oder Therapiefehler/Behandlungsfehler im engeren Sinn

Die Begriffe des Anwendungs- bzw. Durchführungs- oder Therapiefehlers102 beschreiben die Fehlerhaftigkeit des konkreten ärztlichen Vorgehens bei einer medizinisch indizierten Behandlungsmethode eines zutreffend diagnostizierten Krankheitsbildes.103 Dies wird auch als Behandlungsfehler im engeren Sinne bezeichnet und beurteilt sich nach dem geltenden medizinischen Standard der jeweiligen Behandlungsmethode.104 Zu den Behandlungsfehlern i. e. S. können jedoch auch die sog. Indikationsfehler105 gezählt werden. Einen absoluten Indikationsfehler stellt die Wahl einer medizinisch nicht angezeigten Methode dar. Um einen relativen Indikationsfehler handelt es sich bei der Nichtberücksichtigung einer hinreichend erprobten Methode, die größeren Heilerfolg bei geringerem Risiko verspricht.106

Der Behandlungsfehler i. e. S. tritt hauptsächlich als Zwischenfall bei operativen Eingriffen, Anästhesie oder Injektion auf.107 Als klassische Behandlungsfehler gelten zurückgelassene Fremdkörper im Operationsfeld, das Übersehen innerer Blutungen, Nervenlähmungen durch Injektion sowie „Spritzenabszess“ und „Spritzenhämatom“.108 Zu den Behandlungsfehlern i. e. S. gehören aber auch die Fehler bei den sog. konservativen Therapien, allen voran der Arzneimitteltherapie. Der Arzt haftet in diesem Bereich für eigenes Fehlverhalten, das unter anderem in der Verschreibung des nicht- oder gar kontraindizierten Arzneimittels, der fehlerhaften Darreichungsform oder Dosierung liegen kann.109

1.2.3.3 Überwachungs- und Kontrollfehler

Überwachungs- und Kontrollfehler beschreiben ärztliches Fehlverhalten nach Beendigung der konkreten Behandlungsmaßnahme. Der Arzt ist verpflichtet, den Heilungsverlauf des Patienten zu überwachen und den Patienten auf die Notwendigkeit von Kontrolluntersuchungen hinzuweisen (Nachsorge).110 ←33 | 34→Entscheidend für den Umfang der ärztlichen Pflichten sind Risiken für den Patienten sowie Erprobungsgrad der Behandlungsmethode.111 Ist nach Abschluss eines operativen Eingriffs beispielsweise mit inneren Blutungen zu rechnen, müssen entsprechende Maßnahmen zur Überwachung und Vorsorge getroffen werden.112 Auch in Aufwachräumen ist nach Eingriffen unter Vollnarkose eine Überwachung durch Einsatz technischer Geräte und hinreichend qualifiziertes Personal sicherzustellen.113 Soweit hierzu Veranlassung besteht, ist der Arzt zudem gehalten den Patienten zu erforderlichen Nachbehandlungen zu beraten und die Rehabilitation zu evaluieren.114

1.2.3.4 Sicherungsaufklärungsfehler/Fehler bei der therapeutischen Aufklärung

Anders als bei der sog. Eingriffsaufklärung (auch: Selbstbestimmungsaufklärung115) stellen Fehler bei der therapeutischen Aufklärung oder Sicherungsaufklärung einen Behandlungsfehler dar.116 Im Rahmen der therapeutischen Sicherungsaufklärung sind dem Patienten die notwendigen Erkenntnisse über Art und Schwere der Therapie und deren Dringlichkeit zu vermitteln.117 Die Aufklärung erfasst ferner die Information des Patienten über seinerseits zu beachtende Verhaltensregeln sowie die Erteilung von Schutz- und Warnhinweisen.118 Ziel ist die Sicherstellung des Behandlungserfolges und die Vermeidung von Gefahren119 (Sicherstellung der medizinischen Compliance120). So verlangt die therapeutische Sicherungsaufklärung beispielsweise bei gefährlichen Arzneimitteln einen ärztlichen Hinweis auf Höchstmenge und zeitliche Höchstdauer ←34 | 35→der Einnahme sowie zu den möglichen Nebenwirkungen, Komplikationen und drohenden Schäden.121

Die therapeutische Sicherungsaufklärung ist durch das Patientenrechtegesetz nunmehr in § 630c Abs. 2 Satz 1 BGB normiert worden.

1.2.3.5 Übernahmeverschulden/Übernahmefehler

Beim sog. Übernahmeverschulden122 handelt es sich um den haftungsrelevanten Vorwurf, der den Behandelnden trifft, der die Grenzen seiner Fähigkeiten oder seiner apparativen Ausstattung verkennt und es versäumt, die Behandlung abzulehnen und den Patienten an einen Spezialisten bzw. für die Behandlung adäquat ausgestatteten Behandelnden zu verweisen.123 Mit der faktischen Übernahme der ärztlichen Behandlung trifft den Arzt gegenüber dem Patienten eine Garantenstellung,124 die den Behandelnden zur Vornahme der erforderlichen Maßnahmen nach dem behandlungsspezifischen Facharztstandard oder ggf. zur Hinzuziehung bzw. Überstellung an einen qualifizierten Arzt verpflichtet.125 Das Unterlassen einer gebotenen ärztlichen Maßnahme stellt im Grundsatz eine Pflichtverletzung dar, deren Verschulden vermutet wird.126 Ein Behandlungsfehler liegt in der Regel bereits in der Übernahme der Behandlung, wenn der Arzt seine fachliche Kompetenz oder körperlichen Fähigkeiten (wegen Müdigkeit, Krankheit, Alkoholeinfluss o. ä.) überschreitet oder die apparative Ausstattung für die Behandlung nicht ausreichend ist.127 Der Arzt haftet für das Auftreten, Steigern oder Erhalten des pathologischen Zustandes, der durch die gebotene sorgfaltsgemäße Behandlung eines anderen Behandelnden vermieden bzw. verhindert worden wäre.

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1.2.3.6 Organisationsfehler/Organisationsverschulden

Die Organisationspflicht bei einer medizinischen Behandlung beschreibt die Verpflichtung, durch geeignete organisatorische Maßnahmen die dem Patienten aus seiner Erkrankung oder auch nur seiner Eigenschaft als Patient entstehenden Gefahren so weit wie möglich zu minimieren.128

Die Anforderung an die Organisation der Abläufe der Patientenbehandlung wächst mit der Zahl des an Diagnose und Therapie beteiligten ärztlichen und nichtärztlichen Personals sowie der Komplexität und des Risikos der Behandlung.129 Dies gilt nicht nur für Krankenhausträger, sondern auch für niedergelassene Ärzte – wenn auch regelmäßig in weit geringerem Umfang.130

Die fehlerhafte Organisation kann als Behandlungsfehler zunächst die Haftung des Behandelnden auslösen. Ist der Behandelnde in eine Organisationsstruktur eingegliedert - gleich ob es sich dabei um ein Krankenhaus oder eine Praxis handelt -, besteht darüber hinaus eine Einstandspflicht des für die Behandlung Verantwortlichen (Krankenhausträger, Praxisinhaber, leitender Arzt).131

Anders als bei der haftungsrechtlichen Beurteilung des medizinischen Behandlungsgeschehens, bei der es wesentlich auf die Seitens der Medizin gestellten fachlichen Anforderungen ankommt, werden die Standards guter Organisation als multidisziplinäre und multiprofessionelle Standards durch das Recht und in einem rechtlichen Rahmen nach sachverständiger Beratung bestimmt.132

Die Anforderungen der Rechtsprechung an die Organisation werden - insbesondere für die Krankenhausbehandlung - als umfangreich und teils uferlos beschrieben.133 Sie betreffen vor allem die sachliche und personelle Ausstattung,134 die Schaffung geeigneter Kontrollmechanismen,135 ←36 | 37→die Koordinierung der ärztlichen und nichtärztlichen Mitarbeiter sowie der Arbeitsabläufe.136

So zählen beispielsweise beim Einsatz medizinisch-technischer Geräte zu den Organisationsfehlern sowohl die fehlerhafte Anwendung durch medizinisches oder technisches Personal als auch die fehlerhafte Wartung der Geräte.137 Die ordnungsgemäße Handhabung ist durch entsprechende Auswahl und Einweisung bzw. Schulung des Bedienpersonals zu gewährleisten; die Funktionsfähigkeit der Geräte durch regelmäßige Wartung fachmännischen Personals sicherzustellen.138

1.2.4 Die ärztlichen Aufklärungs- und Informationspflichten

Die ärztliche Behandlung ist durch eine Vielzahl unterschiedlicher, teils inhaltlich überschneidender Aufklärungs- und Informationspflichten durchzogen. Die Verpflichtungen des Arztes zur Aufklärung und Information des Patienten können dabei nach ihrer Schutzrichtung unterschieden werden.139 So dienen Informationen, die der Patient zur Sicherung des Behandlungserfolgs erhält bzw. erhalten muss, primär der Abwendung bzw. Verringerung von Gesundheitsgefahren und sollen den Erfolg einer Behandlung bzw. eines Eingriffs sichern, während die einer Behandlung bzw. einem Eingriff zeitlich vorgelagerte Pflicht zur Aufklärung über Behandlungsverlauf, Chancen, Risiken und ggf. bestehende Behandlungsalternativen der Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten über seinen Körper dient. Neben der Gewährleitung einer effektiven Krankenbehandlung und der Abwehr von Gesundheitsgefahren sowie der Sicherung des Selbstbestimmungsrechtes kann sich die Aufklärung bzw. Information auch auf den Schutz des Patientenvermögens beziehen. Die Schutzrichtung der jeweiligen Aufklärungs- bzw. Informationspflicht hat regelmäßig Einfluss auf die rechtlichen Folgen eines Unterlassens oder einer fehlerhaften Erteilung von gebotenen Informationen.

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1.2.4.1 Selbstbestimmungsaufklärung
Bedeutung

Die Selbstbestimmungsaufklärung (terminologisch teilweise auch Einwilligungsaufklärung140) hat die Aufgabe, die freie und informierte Entscheidung des Patienten über eine Behandlung zu ermöglichen.141 Der Patient soll in die Lage versetzt werden, das Für und Wider seiner Entscheidung selbst abzuwägen und ungewollte Eingriffe mit deren Folgen zu vermeiden.142 Die Pflicht zur Selbstbestimmungsaufklärung ist von Rechtsprechung und Lehre im Rahmen des Rechtsinstituts der Einwilligung entwickelt und fortgebildet worden143 und findet ihre Grundlage im verfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht des Patienten.145 Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist die Selbstbestimmungsaufklärung des Patienten eine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Einwilligung in einen ärztlichen Heileingriff.146 Nur so könne „das aus der Menschenwürde (Art. 1 I GG) und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I GG) abgeleitete Selbstbestimmungsrecht des Patienten sowie sein Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG) gewahrt“ werden.147 Umstritten ist, inwiefern Einwilligung und Selbstbestimmungsaufklärung im Hinblick auf Heileingriffe grundrechtlichen Schutz im Konglomerat aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 GG genießen148 oder allein Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als spezielleres Grundrecht maßgeblich ist.149 Das BVerfG vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, die Verfassung gebiete die nach derzeitiger Gesetzeslage ←38 | 39→rechtliche Ausgestaltung nicht, wonach sowohl im Strafrecht als auch im Zivilrecht die ärztlich angezeigte und lege artis durchgeführte Behandlung im Falle des Fehlens einer wirksamen Einwilligung als Körperverletzung zu behandeln ist.151

Unabhängig davon setzt die Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechtes für die vom Patienten zu treffende Entscheidung über eine Behandlung den Erhalt diesbezüglicher Informationen vor der Behandlung voraus.152 Der Patient kann seine aus freier Überzeugung getroffene Zustimmung zu einer Behandlungsmaßnahme nur geben, wenn er über deren Art, Reichweite und deren Sinn und Zweck aufgeklärt worden ist (sog. informed consent).153 Die Aufklärung hilft den Patienten mit Blick auf die von ihm zu treffende Entscheidung zu einem „verständigen Partner“ zu machen. Realisiert sich ein Risiko, trifft es den aufgeklärten Patienten nicht völlig unerwartet.154 Gleichzeitig befreit die hinreichende Selbstbestimmungsaufklärung den Arzt von der (juristischen) Verantwortung für die Folgen einer medizinisch indizierten Behandlung, die nicht auf einem fehlerhaften Verhalten beruhen.

Teilweise wird in der Literatur als Fallgruppen der Selbstbestimmungsaufklärung zwischen der Risiko-, Diagnose- und Verlaufsaufklärung unterschieden, wobei der Risikoaufklärung das Hauptfeld gehöre.155 Die Terminologie dieser Fallgruppen gründet offenkundig auf den Aufklärungsinhalt. So soll die Risikoaufklärung dem Patienten die Informationen über die mit der Behandlung verbundenen unvermeidbaren Gefahren, also mögliche permanente oder vorübergehende Nebenfolgen, die auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt und fehlerfreier Durchführung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auftreten können, vermitteln.156 Die Diagnoseaufklärung erstreckt sich auf den medizinischen Befund.157 Die Verlaufsaufklärung soll wiederum Art, Umfang und Durchführung der Behandlung beinhalten und den voraussichtlichen medizinischen Verlauf und damit die gesundheitliche Entwicklung des Patienten mit und ohne ←39 | 40→die vom Behandelnden vorgeschlagene Behandlungsmaßnahme umfassen.158 Obgleich diese Fallgruppenunterscheidung zunächst geeignet ist, den Inhalt der Selbstbestimmungsaufklärung in groben Zügen zu umreißen, eine schematische Unterteilung ist weder trennscharf möglich noch dogmatisch und didaktisch geboten. Risiko-, Diagnose- und Verlaufsaufklärung gehen vielmehr fließend ineinander über; so etwa Risiko- und Verlaufsaufklärung mit Blick auf die Informationen über Behandlungsalternativen159 mit ihren jeweiligen Erfolgschancen und Misserfolgsaussichten.160 Zudem wäre es fehlerhaft die Risiko-, Diagnose- und Verlaufsaufklärung ausschließlich mit der Selbstbestimmungsaufklärung zu verknüpfen. So kann es zwischen der Selbstbestimmungsaufklärung und der therapeutischen Aufklärung161 zu inhaltlichen Überschneidungen im Hinblick auf Risiken und Verlauf kommen, wenn die therapeutische Information auf eine notwendige, den Patienten belastende Behandlung gerichtet ist.162 Im Übrigen kann die Diagnoseaufklärung eine von der Selbstbestimmungsaufklärung gänzlich losgelöste, eigenständige Hauptpflicht des Arztvertrages sein, wenn dieser auf die Einholung einer sog. Zweitmeinung (weiteren Diagnose durch anderen Arzt) gerichtet ist.163

Umfang

Im Hinblick auf den Umfang der Selbstbestimmungsaufklärung betont die ständige Rechtsprechung, dass der Patient inhaltlich über den Verlauf der geplanten Behandlung sowie deren Chancen und Risiken im „Großen und Ganzen“ aufzuklären ist.164 Einer exakten medizinischen Beschreibung aller denkbaren Risiken und auch die Angabe von Details zu den Risiken, die für die Entscheidung des Patienten im Blickpunkt stehen, bedarf es dagegen nicht.165 Jedoch ist dem Patienten ein zutreffendes Bild über die Schwere des Eingriffs und der Art der damit für seine körperliche Integrität und seine Lebensführung verbundenen Belastung zu vermitteln.166 Das schließt auch sehr seltene Risiken ein, die im Falle ←40 | 41→ihrer Verwirklichung die Lebensführung schwer belasten und trotz ihrer Seltenheit für den Eingriff spezifisch, für den Laien aber überraschend sind.167 Der Patient ist über die mit der Behandlung verbundenen Risiken und deren Folgen in verständlicher Weise zu informieren, ohne diese zu beschönigen oder zu übersteigern.168 Der konkrete Umfang der Selbstbestimmungsaufklärung wird dabei von der jeweiligen Behandlungsmaßnahme und deren Dringlichkeit abhängig gemacht. Das heißt, je weniger ein sofortiger Eingriff medizinisch geboten ist, umso ausführlicher und eindrücklicher ist der Patient, dem der Eingriff angetragen wird oder der ihn selbst wünscht, über die Erfolgsaussichten und etwaigen schädlichen Folgen zu informieren.169

Der Schutzbereich der Selbstbestimmungsaufklärung erfasst die unvermeidbaren Risiken, nicht jedoch die vermeidbaren Gefahren einer Behandlung.170 Unvermeidbare Risiken sind solche Gefahren für den Körper und die Gesundheit des Patienten, die sich auch bei allergrößter Sorgfalt und fehlerfreier Durchführung des Eingriffs nicht sicher verhindern lassen.171 Als vermeidbar gelten demgegenüber Behandlungsfehler aber auch Gefahren, deren Abwendung bei gegenwärtigem Stand der Technik der Behandlung ohne nennenswerte Schwierigkeiten möglich ist.173 Über den Umstand, dass dem Arzt ein Behandlungsfehler unterlaufen kann und dessen Folgen muss daher nicht aufgeklärt werden.174 Wesentliche Begründung hierfür ist, dass die Einwilligung, an die die Selbstbestimmungsaufklärung knüpft, wirksam nur für die Behandlung lege artis erteilt werden kann.175

←41 | 42→

Trotz des Grundsatzes der ärztlichen Therapiefreiheit, wonach die Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes ist,176 hat der Behandler auch über Behandlungsalternativen aufzuklären, wenn im konkreten Behandlungsfall mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte Behandlungsmethoden mit unterschiedlichen Erfolgschancen und Risiken zur Verfügung stehen und so eine echte Wahlmöglichkeit für den Patienten besteht.177 Daraus ergibt sich regelmäßig, dass der Arzt die Entscheidung zwischen konservativer und invasiver Behandlung nicht für den Patienten treffen darf, sondern dieser nach entsprechender Aufklärung selbst entscheiden muss.178 An den Umfang der Aufklärung über Behandlungsalternativen werden keine höheren Anforderungen als an die Aufklärung im Allgemeinen gestellt; vielmehr genügt auch hier die Information im „Großen und Ganzen“.179

Details

Seiten
354
ISBN (PDF)
9783631892435
ISBN (ePUB)
9783631892442
ISBN (MOBI)
9783631892459
ISBN (Paperback)
9783631881545
DOI
10.3726/b20330
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (November)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 354 S.

Biographische Angaben

André Byrla (Autor:in)

André Byrla studierte Rechtswissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin. Seine Promotion erfolgte berufsbegleitend an der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam.

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Titel: Die Informationspflicht des § 630c Absatz 2 Satz 2 BGB
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