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Die Frau ohne Schatten: Hugo von Hofmannsthals und Richard Strauss' "Schmerzenskind"

von Thomas Betzwieser (Band-Herausgeber:in) Bernd Zegowitz (Band-Herausgeber:in)
©2023 Konferenzband 376 Seiten

Zusammenfassung

Die Komplexität der Frau ohne Schatten mit ihrer Fülle an Kontrastbildungen, ihren multiperspektivischen Verknüpfungen sowie der märchenhaften und vielschichtigen Symbolwelt stellt sowohl für die wissenschaftliche Analyse als auch für die künstlerische Interpretation eine besondere Herausforderung dar. Der vorliegende Sammelband nähert sich Hofmannsthals und Strauss’ Oper aus unterschiedlichen Blickwinkeln, wobei entstehungs- und stoffgeschichtliche Aspekte ebenso zur Sprache kommen wie aufführungs- und rezeptionsgeschichtliche Themenkomplexe. Mit seinem Fragehorizont zielt der Band darauf ab, die existenten Ansätze in ein erweitertes interdisziplinäres Koordinatensystem zu überführen, vor allem auch in Richtung einer theaterwissenschaftlichen Perspektive.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • »Nicht das Leuchtende durch Furcht verdunkeln, nicht dem wunderbaren Vogel die Flügel binden!«: Zur Positionsbestimmung der Frau ohne Schatten im Musiktheater des frühen 20. Jahrhunderts(Ulrike Kienzle)
  • »Die letzte romantische Oper«?: Überlegungen zur Metaphorik von Strauss und Hofmannsthal (Laurenz Lütteken)
  • Die Frau ohne Schatten: Märchen, Oper, Märchenoper (Albert Gier)
  • Theater der Diaphanie: Zur Ästhetik der Unsichtbarkeit in Die Frau ohne Schatten (Martin Schneider)
  • Das Orientalische als Prinzip von Übergang und Verwandlung in Hofmannsthals Erzählung Die Frau ohne Schatten (Ulrike Stamm)
  • »in sich geschlossene Gebilde, ja geschlossene magische Welten«: Hofmannsthals Frau ohne Schatten als Libretto und Erzählung (Bernd Zegowitz)
  • Eine verminderte Neigung zur Kinderzeugung: Gravitation und Gravidität in Hofmannsthals Die Frau ohne Schatten (Juliane Vogel)
  • »Segen der Widerruflichkeit«: Zur musikalischen Psychologie der Ehe in der Frau ohne Schatten (Katharina Hottmann)
  • Die Frau ohne Schatten im Briefwechsel von Strauss, Hofmannsthal und Roller (Christiane Mühlegger-Henhapel)
  • »Die Bühne muß ihr Geheimnis wahren und das Publikum es achten!«: First Productions of Die Frau ohne Schatten in Vienna, Munich, and Berlin (with Unpublished Photographs and Documents) (Evan Baker)
  • »Übermächte sind im Spiel«: Theatrale Deutungshorizonte der »letzten romantischen Oper« (Jürgen Schläder)
  • »…menschlich ist dieser Klang«: Stimm-Dramaturgie in Strauss’ Die Frau ohne Schatten (Uwe Schweikert)
  • »Das Zweckmäßige eines ruhigen, rationellen Arbeitens«: Aspekte des Kompositionsprozesses bei Richard Strauss am Beispiel des Gesangs der Wächter aus dem I. Aufzug der Frau ohne Schatten (Olaf Enderlein)
  • Zwischen Plot und Sackgasse: Die leitmotivische Faktur der Frau ohne Schatten in der Doppelperspektive von Produktion und Rezeption (Christian Schaper)
  • Richard Strauss’ Orchesterfantasie von 1946 oder: »Das Mährchen. Prolog zur Frau ohne Schatten« (Adrian Kech)
  • Endpunkt und Neuansatz: Die Frau ohne Schatten versus Intermezzo (Ulrich Konrad)
  • Siglenverzeichnis
  • Abbildungsnachweis
  • Personen- und Werkregister
  • Reihenübersicht

Vorwort

»Das Schmerzenskind – in Kummer u. Sorgen während des Krieges vollendet«, schreibt Richard Strauss über die Frau ohne Schatten in den 1940er Jahren in eines seiner blauen Hefte1. Während er mit der Uraufführung am 10. Oktober 1919 an der Wiener Staatsoper noch hochzufrieden war und von der »sehr glanzvollen Aufführung in großartiger Besetzung« schwärmte, habe das Werk danach »einen längeren Leidensweg über die deutschen Bühnen« angetreten. Es sei wohl ein »schwerer Fehler« gewesen, »dieses schwer zu besetzende u. scenisch so anspruchsvolle Werk unmittelbar nach dem Krieg mittleren u. kleinen Theatern« anvertraut zu haben. Doch schließlich habe es sich »durchgesetzt […] und tiefen Eindruck gemacht«2. Durchgesetzt hat sich die Frau ohne Schatten vor allem auf mittleren und größeren Bühnen3, einen tiefen Eindruck hinterlässt sie noch immer, davon zeugt die mittlerweile 100 Jahre währende Aufführungs- und Wirkungsgeschichte dieses außergewöhnlichen musikdramatischen Werkes4.

Das auf Seiten der Autoren schlicht unter »Oper« firmierende opus magnum bildet den Höhepunkt der annähernd drei Jahrzehnte währenden Zusammenarbeit zwischen Hugo von Hofmannsthal und Strauss. Einen Ausnahmerang darf das Stück in jeder Hinsicht beanspruchen: Die komplexe Stoffgeschichte, die luxurierende Symbolwelt, der riesige Orchesterapparat, die fünf äußerst anspruchsvollen Hauptpartien sowie eine aufwändige Bühnentechnik stellen bis heute eine Herausforderung für jedes Opernhaus dar. Dabei wurzelt der Dreiakter tief im 19. Jahrhundert – die Vorbilder von Mozarts Zauberflöte, Goethes Faust und Wagners Ring des Nibelungen sind nicht zu übersehen – und versteht sich gleichzeitig auch als Entwurf eines Welttheaters für das 20. Jahrhundert5. In der Fülle der Kontrastbildungen, den multiperspektivischen Verknüpfungen, der märchenhaften Symbolwelt und deren Mehrdeutigkeiten liegen die Schwierigkeiten sowohl für die wissenschaftliche Analyse als auch für die künstlerische Interpretation des Stückes.

Der vorliegende interdisziplinäre Sammelband nähert sich dem Hauptwerk von Hofmannsthal und Strauss auf unterschiedlichen Wegen, wobei entstehungs- und stoffgeschichtliche Aspekte ebenso zur Sprache kommen wie aufführungs- und rezeptionsgeschichtliche Themenkomplexe. Die Zusammenarbeit von Dichter und Komponist steht dabei naturgemäß im Zentrum, berücksichtigt werden aber auch andere Kategorien wie Aufführung, Interpretation oder Rezeption, die bis dato weniger im Fokus der Auseinandersetzung standen.

Mit seinem Fragehorizont zielt der Band darauf ab, die existierenden Arbeiten und Ansätze in ein erweitertes interdisziplinäres Koordinatensystem, vor allem auch in Richtung einer theaterwissenschaftlichen Perspektive zu überführen. Damit wird der Bogen zur historischen Rezeption wie zur aktuellen Bühnenpraxis und deren Interpretationsansätzen geschlagen. Mehr aber noch soll die Schlüsselstellung der »letzte[n]‌ romantische[n] Oper« für das Musiktheater des frühen 20. Jahrhunderts eruiert werden6. Während Stücke wie Ariadne auf Naxos unter neueren Paradigmen wie denen der Postmoderne und des Metatheaters oder auch unter Berücksichtigung der historiographischen Dimension des späten Strauss eingehend beleuchtet wurden7, gilt es auch die ›Stellung‹ der Frau ohne Schatten vor dieser veränderten Forschungsfolie im Sinne eines ›Rethinking‹ zu reflektieren.

In den letzten zehn Jahren sind mehrere Monographien zur Frau ohne Schatten erschienen, vornehmlich von musikwissenschaftlicher Seite, die – vor allem im Hinblick auf die Werkgenese – zu neuen Einschätzungen gelangt sind8. Diese Aspekte galt es hier weiterzuverfolgen und mit literatur- und theaterwissenschaftlichen Ansätzen zu verbinden.

Im Hinblick auf den musikalischen Kompositionsprozess war ein zentrales Ergebnis der Monographie von Olaf Enderlein, dass Strauss gleichsam prädramatische musikalische Skizzen anfertigte, d.h. der Kompositionsprozess sich im Anfangsstadium teilweise ohne Textgrundlage vollzog. Vor dem Hintergrund dieses Phänomens war die Chronologie des Zusammenspiels von Dichter und Komponist noch einmal grundsätzlich zu befragen. Im Hinblick auf die musikalische Komposition bildet die strikte Trennung von Kompositionsskizze und ausgeführter Instrumentation eine nicht unbeträchtliche Erschwerung für die Rekonstruktion der Genese des Orchestersatzes. Eine gleichermaßen komplexe Herausforderung erwächst der musikalischen Analyse aus der souveränen Beherrschung der Orchestertotalen seitens des Komponisten, die nicht nur bei Theodor W. Adorno den Eindruck einer ästhetischen ›Gefährdung‹ des Produktes aufgrund von dessen müheloser Hervorbringung erweckte9. Zu fragen war hier nach den kompositionstechnischen Strategien, die Strauss im Umgang mit einem außerordentlich reich besetzten Orchester entwickelte, nicht zuletzt in der Intention, den Orchesterklang in jedem Moment an den dramaturgischen Fluss der Handlung anzupassen. Dies betrifft gleichermaßen die ins Extrem getriebene Dichte des motivischen Geflechts. Anhand der umfangreichen Skizzenüberlieferung lässt sich dessen semantischer Gehalt im (Gegen)Licht der Bedingungen der Werkentstehung insofern betrachten, als Strauss’ Kompositionsprozess unverkennbar auf die Stringenz zentraler motivisch-thematischer Prozesse abzielt.

Auf der stoffgeschichtlichen Ebene waren insbesondere die Themenfelder ›Märchen‹ und ›Ehediskurs‹ zu befragen. Vor dem Hintergrund der Entwicklung der Märchenoper nach Wagner ist vor allem die Ambivalenz der narrativen und der dramatischen Gestaltung des Stoffes durch Hofmannsthal von Bedeutung. Sowohl Hofmannsthals Libretto zur Frau ohne Schatten als auch seine 1919 publizierte gleichnamige Erzählung verknüpfen Bezüge zur Welt der Märchen aus Tausendundeiner Nacht mit zentralen Fragen des beginnenden 20. Jahrhunderts zu Sexualität, Ehe und Fortpflanzung10. Dem Ehediskurs wurde dabei ein besonderes Augenmerk geschenkt, nicht nur weil er für die Frau ohne Schatten konstitutiv ist, sondern weil kaum ein anderer Diskurs der Moderne eine vergleichbare Tragweite hatte. Der bürgerlichen Gesellschaft der 1920er Jahre galt die Ehe als Modell aller sozialen Ordnung, das allerdings durch lebensreformerische und emanzipatorische Tendenzen zur Diskussion gestellt wurde. Sie war sowohl für Richard Strauss als auch für Hugo von Hofmannsthal mit eigener biographischer Erfahrung verknüpft, fungiert aber auch als weitergehendes, ästhetisch wirksames Symbol sozialen Zusammenhalts. In der Frau ohne Schatten werden zwei Ehepaare einander gegenübergestellt, deren Beziehungen Strauss mit greifbarer kompositorischer Psychologie modelliert.

Im Gegensatz zum Vorbild der Zauberflöte ist die Ehe allerdings nicht das Ziel aller Wünsche, sondern erst einmal eine unerfüllte, unproduktive und erlösungsbedürftige Paarungsform. Das intrikate Prüfungs- und Erlösungsgeschehen der Frau ohne Schatten dient, so gesehen, der Rettung einer bürgerlichen, in Legitimationsnöte geratenen Institution. Der Ehediskurs kann somit sowohl vor dem Hintergrund eines sexualethischen Konservatismus gelesen als auch auf seine latente Pathologie hin befragt werden. Als Wirklichkeit bzw. alltägliche Erfahrung verarbeitete Strauss die Ehe in seiner auf die Frau ohne Schatten folgenden Oper, der »bürgerlichen Komödie« Intermezzo, zu der er das Textbuch, dessen Realismus Hofmannsthal befremdete, selbst schrieb.

Während die intensive Zusammenarbeit von Komponist und Librettist hinlänglich dokumentiert und untersucht wurde, blieb die produktionsästhetische Seite bis dato relativ unbeleuchtet. Diese betrifft insbesondere die Bedeutung des Ausstattungskünstlers Alfred Roller. Die überlieferten, zum Teil wenig bekannten Briefe ebenso wie die über dreißig existenten Bühnenbildentwürfe offenbaren jedoch Rollers starke Beteiligung am Entstehungsprozess der Frau ohne Schatten, in den er schon früh einbezogen wurde. In diesen Bühnenbildern Rollers ist die Oper dann innerhalb von vier Wochen an drei verschiedenen Orten gespielt worden (in Wien, Dresden und München), in München mit exakt den gleichen Dekorationen wie in Wien und Dresden, aber von den Münchner Werkstätten gebaut. Die Auswertung der Korrespondenz und die Rekonstruktion der Bühnenbilder anhand der Entwürfe (im Wiener Theatermuseum und in den Archiven der Hofoperntheater) ermöglichen nunmehr eine ›komplette‹ Lesart der Entstehungsgeschichte der Frau ohne Schatten, in der Roller eben eine weitaus bedeutendere Funktion einnimmt als bisher angenommen11.

In der Umsetzung vielfältigster Kontrastbildungen liegen die größten bühnentechnischen Herausforderungen jeder Inszenierung der Frau ohne Schatten. Dazu kommen Hofmannsthals »überambitionierte, quasi cinematische Regieanweisungen« und offene Verwandlungen12, die laut Strauss nicht mehr als 90 Sekunden dauern durften. Am Beispiel der Münchner Aufführungsgeschichte – in keiner anderen Stadt wurde Strauss’ Oper häufiger neuinszeniert – werden die szenischen Lesarten dieser Oper exemplarisch diskutiert.

In das produktionsästhetische Spannungsfeld fällt schließlich auch die musikalische Interpretation, insbesondere das Phänomen der Stimme, deren Konfigurationen aufs Engste an die Dramaturgie gebunden sind. Trotz Hofmannsthals Metaphysik des Symbolischen bleibt Strauss’ Verwendung der Stimme stets auf den menschlichen Kern der Handlung – und damit auch auf dessen Darstellung durch singende Menschen – fokussiert.

Dank

Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind das Ergebnis einer Tagung der Goethe-Universität Frankfurt in Kooperation mit dem Freien Deutschen Hochstift, die unter dem Titel »Die Frau ohne Schatten« – Hugo von Hofmannsthals und Richard Strauss’ »Schmerzenskind« vom 30. Oktober bis 1. November 2019 im Freien Deutschen Hochstift / Frankfurter Goethe-Museum stattfand13. Äußerer Anlass war der Umstand, dass sich am 10. Oktober 2019 die Uraufführung der Frau ohne Schatten zum 100. Mal jährte. Dass das Erscheinen unseres Tagungsbandes zeitlich nunmehr mit dem Abschluss der Arbeit an der kritischen Hofmannsthal-Ausgabe zusammenfällt, ist eine reizvolle Koinzidenz.

Der Direktorin des Hochstifts, Prof. Dr. Anne Bohnenkamp-Renken, sei auf diesem Wege noch einmal für die Gastfreundschaft in ihrem Hause gedankt. Dank zu sagen ist auch der Fritz Thyssen Stiftung, welche sowohl die Tagung als auch die vorliegende Publikation in großzügiger Weise unterstützt hat. Für die redaktionelle Mitarbeit an der Drucklegung dieses Sammelbandes sind wir Nora Eggers, Viola Großbach und Larissa Smurago zu besonderem Dank verpflichtet.

Frankfurt am Main, im April 2022

Die Herausgeber


1 Richard Strauss, Späte Aufzeichnungen, Marion Beyer et al. (edd.), Mainz et al. (Schott) 2016 (»Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft« 21), p. 69.

2 Ibid., p. 70.

3 Cf. Günther Lesnig, Die Aufführungen der Opern von Richard Strauss im 20. Jahrhundert. Daten, Inszenierungen, Besetzungen, vol. 1, Tutzing (Hans Schneider) 2008, pp. 175–212.

4 Cf. Peter Hörr-Szalay, »Die Frau ohne Schatten« an der Wiener Staatsoper. 80 Jahre im Spiegel der Pressekritik, in: Richard-Strauss-Blätter 1999, vol. 41, pp. 3–24; Günther Lesnig, 75 Jahre »Die Frau ohne Schatten«, in: Richard-Strauss-Blätter 1994, vol. 32, pp. 3–83.

5 Cf. Laurenz Lütteken, Richard Strauss. Musik der Moderne, Stuttgart (Reclam) 2014, p. 191sqq.

6 Richard Strauss an Hugo von Hofmannsthal (28. Juli 1916), in: BW Strauss, p. 354.

7 Hermann Danuser, Metamusik, Schliengen (Edition Argus) 2017; Katharina Hottmann, »Die andern komponieren, ich mach Musikgeschichte.« Historismus und Gattungsbewusstsein bei Richard Strauss. Untersuchungen zum späteren Opernschaffen, Tutzing (Hans Schneider) 2005 (»Publikationen des Instituts für Österreichische Musikdokumentation« 30).

8 Adrian Kech, Musikalische Verwandlung in den Hofmannsthal-Opern von Richard Strauss, München (Allitera) 2015; Olaf Enderlein, Die Entstehung der Oper »Die Frau ohne Schatten« von Richard Strauss, Frankfurt am Main et al. (Peter Lang) 2017 (»Perspektiven der Opernforschung« 25); Christian Schaper, Gefühlswegweiser und Komponiermaschine. Studien zu Skizzen und musikalischer Faktur von Richard Strauss’ »Die Frau ohne Schatten«, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2022 (»Klang – Wort – Ereignis« 5).

9 In seiner Kritik über eine Festaufführung der Frau ohne Schatten im Rahmen des Frankfurter »Sommers der Musik« im Jahr 1927, bei dem der Komponist sechs seiner Opern selbst dirigierte, schrieb Adorno: »Die wuchernde harmonische Polyphonie, die einmal den luftigen Glanz des Straussischen Orchesters hervorzauberte, ist in der Frau abgefallen, die grobe und banale Akkordik ist übrig und die lockere Beweglichkeit der Instrumente reduziert sich zum figurativen Geklimper. Dieser Partitur läßt sich das schlimmste nachsagen, was man einer Straussischen überhaupt nachsagen kann: sie klingt nicht; neu an keiner Stelle und arm durchwegs. Womit bewiesen wird, daß es mit der Technik, die man hat, doch eine riskierte Sache ist; selbst wenn man sie, wie Strauss, wirklich hat.« Theodor W. Adorno, Oktober 1927, in: Id., Musikalische Schriften VI. Opern- und Konzertkritiken. Buchrezensionen. Zur Praxis des Musiklebens, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1997 (»Gesammelte Schriften« 19), p. 115sq:115.

10 Diese Themen sind bisher in Programmheftbeiträgen nur ›angerissen‹ worden: Juliane Vogel, Eine verminderte Neigung zur Kinderzeugung, in: Bayerische Staatsoper (ed.), Programmbuch zur Neuinszenierung »Die Frau ohne Schatten« von Richard Strauss, München 2013, pp. 26–37; Ursula Renner, Verwandlungen, in: ibid., pp. 50–61.

11 Erst vor kurzem ist die Korrespondenz zwischen Hofmannsthal, Roller und Strauss veröffentlicht worden: Christiane Mühlegger-Henhapel/Ursula Renner (edd.), Hugo von Hofmannsthal, Alfred Roller, Richard Strauss. »Mit dir keine Oper zu lang…« Briefwechsel, München/Salzburg (Benevento) 2021.

12 Bryan Gilliam, »Der Rosenkavalier« – »Ariadne auf Naxos« – »Die Frau ohne Schatten«, in: Walter Werbeck (ed.), Richard Strauss Handbuch, Stuttgart/Weimar (Metzler/Bärenreiter) 2014, pp. 183–213:210.

13 Die Tagung reiht sich ein in frühere Frankfurter Aktivitäten zu Richard Strauss. 2015 hatte das Institut für Musikwissenschaft gemeinsam mit der Oper Frankfurt eine kleine Ausstellung organisiert (kuratiert von Friederike Wißmann). Cf. Richard Strauss – (k)ein Heldenleben. Spuren des Komponisten in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main (Klostermann) 2015 (»Frankfurter Bibliotheksschriften« 17). Begleitend zur Tagung 2019 haben Studierende der Goethe-Universität im Rahmen eines Seminars eine virtuelle Ausstellung mit dem Titel Richard Strauss in der Sammlung Manskopf erarbeitet: http://manskopf.uni-frankfurt.de.

Ulrike Kienzle

»Nicht das Leuchtende durch Furcht verdunkeln, nicht dem wunderbaren Vogel die Flügel binden!«:Zur Positionsbestimmung der Frau ohne Schatten im Musiktheater des frühen 20. Jahrhunderts

Abstract: Hugo von Hofmannsthal’s libretto to Die Frau ohne Schatten was written on the threshold of World War I as a profound opera inspired by the spirit of German Romanticism, the mysticism of Emanuel Swedenborg, and the symbolic language of Thousand and One Nights, at the turning point of a fundamental aesthetic upheaval. The inhuman, mass-murdering battles of attrition of World War I and the demise of the political orders fostered a trend toward new music, contemporary opera, one-act operas, and the so-called New Objectivity. At its premiere 1919, Die Frau ohne Schatten therefore seemed like an anachronism to many recipients; even Richard Strauss struggled with the setting at times. He felt more in the mood for a realistic comedy with burlesque content than for a philosophical world theater. Nevertheless, Die Frau ohne Schatten in particular holds answers to the urging questions of its time: the ideal of empathy, the value of being human amidst pressing crises and a universal connection between the living and the dead, past and present are evoked in Hofmannsthal’s story, which was written parallel to the opera, in the image of the Persian carpet in which everything is whimsically interconnected. This is matched by the weave of Richard Strauss’s complex leitmotif technique and the expressive, emotionally touching empathy of his music. »Do not darken what shines with fear, do not bind the wings of the wonderful bird! Courage is the inner light in every fairy tale,« Hofmannsthal wrote with regard to Die Frau ohne Schatten. Thus, the work is an invitation to venture a new beginning out of chaos and destruction with the help of reflection on the spiritual treasures of the past.

Die »romantische Oper« – ein Anachronismus?

»[…] wir wollen den Entschluß fassen, die ›Frau ohne Schatten‹ sei die letzte romantische Oper«, schrieb Richard Strauss am 28. Juli 1916 an seinen Textdichter Hugo von Hofmannsthal. Und er fügte hinzu: »Hoffentlich helfen Sie mir recht bald durch einen schönen glücklichen Einfall definitiv den neuen Weg zu betreten.«1 Der neue Weg – das war nach des Komponisten Wille das »realistische Lustspiel mit wirklich interessanten Menschen«, das war drastisches, wenn nicht gar handgreifliches Theater, »sei es burlesken, parodistischen Inhaltes nach der Seite der Offenbachschen Parodie zu«2.

Abgründe trennen solche bodenständigen Wünsche des Komponisten von der weltumspannenden, in unauslotbare Tiefen des Menschseins hinabtauchende Symbolik des Textes der Frau ohne Schatten, die mit Mozarts Zauberflöte und Wagners Parsifal auf einer Stufe steht, die den zweiten Teil von Goethes Faust und das Märchen aus den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten beschwört, die die fremdartige Atmosphäre der Erzählungen von Tausendundeiner Nacht mit zoroastrischen und hermetischen Überlieferungen sowie mit den mystischen Visionen und Himmlischen Geheimnissen eines Emanuel Swedenborg verknüpft – dies alles entworfen und in kunstvolle Verse gebracht als Fortsetzung und Weiterentwicklung eines aus der Vergangenheit schöpfenden und in die Zukunft weisenden frühromantischen Projekts der ›progressiven Universalpoesie‹ eines Schlegel und Novalis, projiziert auf die zerbrechliche und bildungsgesättigte Zeit des Fin de siècle, in dem die falschen Worte und Bezeichnungen der Dinge dem Redenden wie »modrige Pilze« im Munde zerfallen3, wie Hofmannsthal in seinem berühmten Brief des Lord Chandos bereits 1902 konstatiert hatte.

Der Brief des Tonsetzers an seinen Librettisten bezeichnet eine Krise in der beiderseitigen Zusammenarbeit an diesem exzeptionellen Werk, die so freudig und hochherzig begonnen hatte. »›Die Frau ohne Schatten‹ könnte, denke ich manchmal, die schönste aller existierenden Opern werden«4, hatte Hofmannsthal am 15. Juni 1911 an Richard Strauss geschrieben, und noch vier Jahre später sprach er von der »gewichtigsten und hoffnungsvollsten aller Arbeiten, die wir je zusammen unternommen haben«5. Und daran hielt er fest bis zum Schluss, auch lange nach der umstrittenen Uraufführung des Jahres 1919 – und das mit vollem Recht.

Die ersten beiden Akte hatte Richard Strauss ohne größere Komplikationen und mit Begeisterung vertont. Doch mit dem dritten tat er sich schwer. Ein »Hauch akademischer Kälte«6 wehte den Komponisten aus den hochgespannten Schlussversen des III. Aktes an. Manche seiner arglos-naiven Einwände und Nachfragen an den Dichter im Laufe der langjährigen Zusammenarbeit lassen überdies vermuten, dass er wesentliche Aspekte des Textes nur unzureichend begriffen hatte, woraus ihm allerdings kein Vorwurf zu machen ist.

Denn was Die Frau ohne Schatten tatsächlich bedeutet, erschließt sich keineswegs aus dem Textbuch allein, das in seiner der Gattung geschuldeten Knappheit und notwendigen Verkürzung Rätsel aufgibt, sondern erst im Vergleich mit der gleichnamigen Erzählung, die Hofmannsthal parallel zum Textbuch verfasste und die Strauss während der Vertonung noch nicht vorlag.

Details

Seiten
376
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631886953
ISBN (ePUB)
9783631886960
ISBN (Hardcover)
9783631825853
DOI
10.3726/b20078
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Januar)
Schlagworte
Oper Musik Theater Inszenierung Operntext Drama
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 376 S.

Biographische Angaben

Thomas Betzwieser (Band-Herausgeber:in) Bernd Zegowitz (Band-Herausgeber:in)

Thomas Betzwieser ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main; Forschungsschwerpunkte in den Bereichen europäisches Musiktheater, digitale Edition und musikalischer Orientalismus. Bernd Zegowitz ist außerplanmäßiger Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main; Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Ästhetik des Musiktheaters, Literatur des Vormärz und Theatergeschichte des 18.–20. Jahrhunderts.

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Titel: Die Frau ohne Schatten: Hugo von Hofmannsthals und Richard Strauss' "Schmerzenskind"