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Das Rechtsinstitut der steuerstrafrechtlichen Selbstanzeige

Eine rechtsvergleichende Untersuchung der deutschen und britischen Selbstanzeige im Hinblick auf die Notwendigkeit einer europäischen Selbstanzeigeregelung

von Lisa Martin (Autor:in)
©2023 Dissertation 334 Seiten

Zusammenfassung

Die steuerstrafrechtliche Selbstanzeige gewährt dem Steuerstraftäter Straffreiheit, obwohl die Tat bereits vollendet ist. Von den Kritikern wird moniert, dass die Selbstanzeige immer dann Hochkonjunktur habe, wenn über die Presse der Ankauf einer neuen Steuerdaten-CD bekannt werde. Der Gesetzgeber hat im Laufe der Jahre die Voraussetzungen an eine wirksame Selbstanzeige immer weiter verschärft. Dennoch hat er sich für die Beibehaltung der Selbstanzeige entschieden.
Die Autorin beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit den Gründen für die Existenz der steuerstrafrechtlichen Selbstanzeige und stellt auf der Grundlage eines Vergleichs der deutschen mit der britischen Selbstanzeigeregelung die Frage, ob es einer einheitlichen europäischen Selbstanzeigeregelung bedarf, um Steuerhinterziehung in der Europäischen Union wirksam bekämpfen zu können.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Abkürzungsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Problemstellung
  • II. Gang der Untersuchung
  • III. Ziel der Untersuchung
  • B. Der deliktische Eingriff in die Funktionsfähigkeit der Steuer
  • I. Der Steuerstaat
  • 1. Geschichtliche Entwicklung
  • 2. Merkmale des Steuerstaats
  • II. Sozialschädlichkeit der Steuerhinterziehung
  • III. Steuermoral des Bürgers
  • 1. Motive für die Begehung einer Steuerhinterziehung
  • a) Der homo oeconomicus
  • b) Der Aufrechner
  • c) Der Staatsverdrossene
  • d) Der Steuerliberale
  • e) Der legalistische Steuervermeider
  • f) Der Steuerlaie
  • g) Der Gerechtigkeitssensible
  • h) Weitere Motive
  • 2. Zur aktuellen Lage der Steuermoral in Deutschland
  • 3. Besteuerungsmoral des Staates und Einfluss auf die Steuermoral der Bürger
  • a) Mangelnde Verwirklichung von Steuergerechtigkeit sowohl bei der Rechtsetzung als auch bei der Rechtsanwendung
  • aa) Rechtsetzung
  • bb) Rechtsanwendung
  • b) Steuerverschwendung
  • c) Ausnutzen von gesetzlichen Lücken zur Steuerhinterziehung
  • d) Einfluss der Besteuerungsmoral auf die Steuermoral
  • IV. Zwischenergebnis
  • C. Verfassungsrechtliche Grundlagen und rechtspolitische Gebotenheit der Selbstanzeige
  • I. Gründe für die Existenz der Selbstanzeige
  • 1. Fiskalische Begründung der Selbstanzeige
  • 2. Kriminalpolitische Begründung der Selbstanzeige
  • 3. Strafrechtliche Einordnung der Selbstanzeige
  • a) Einordnung der Selbstanzeige als Fall des Rücktritts oder der tätigen Reue
  • b) Schadenswiedergutmachung
  • 4. Herstellung der Belastungsgleichheit im Steuerrecht und Wiederherstellung der Effektivität des Steuerstrafrechts
  • 5. Zwischenergebnis
  • II. Vorgaben des Verfassungsrechts für die Selbstanzeige als Teil des Steuerstrafrechts
  • 1. Steuerrechtliche Grundsätze aus dem allgemeinen Gleichheitssatz Art. 3 Abs. 1 GG
  • a) Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung
  • b) Leistungsfähigkeitsprinzip
  • c) Zwischenergebnis
  • 2. Verfassungsmäßigkeit der Selbstanzeige
  • a) Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG
  • b) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung
  • aa) Ungleichbehandlung aufgrund Straffreiheit gemäß § 371 Abs. 1 AO
  • aaa) Legitimes Ziel
  • bbb) Geeignetheit
  • ccc) Erforderlichkeit
  • ddd) Angemessenheit
  • (1) Steuerhinterziehung als leicht zu begehendes Delikt
  • (2) Fiskalischer Zweck
  • (3) Ermöglichung der Rückkehr in die Steuerehrlichkeit
  • (4) Herstellung der Belastungsgleichheit im Steuerrecht und Wiederherstellung der Effektivität des Steuerstrafrechts
  • (5) Schadenswiedergutmachung
  • (6) Zwischenergebnis
  • bb) Ungleichbehandlung aufgrund der Nachzahlungspflicht in § 371 Abs. 3 AO
  • c) Zwischenergebnis
  • 3. Das Nemo-tenetur-Prinzip
  • a) Inhalt des Nemo-tenetur-Prinzips
  • b) Geschichtliche Entwicklung des Nemo-tenetur-Prinzips
  • c) Verfassungsrechtliche Verankerung
  • aa) Die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)
  • bb) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG)
  • aaa) Der Schutz der Ehre
  • bbb) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
  • cc) Die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)
  • dd) Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG)
  • ee) Die Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG)
  • ff) Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)
  • gg) Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG)
  • hh) Unschuldsvermutung
  • ii) Das Recht auf ein faires Verfahren
  • jj) Zwischenergebnis
  • d) Geltung von nemo tenetur für juristische Personen
  • e) Zwischenergebnis
  • III. Verfassungsrechtliche Notwendigkeit oder rechtspolitische Gebotenheit der Selbstanzeige
  • 1. Hinterziehungsfalle und Gefahr der Selbstbelastung bei periodischen Steuern
  • a) Hinterziehungsfalle
  • b) Gefahr der Selbstbelastung
  • aa) Doppelzuständigkeit der Finanzbehörde
  • bb) Steuerliche Mitwirkungspflichten
  • 2. Lösung des Konflikts
  • a) Schutz durch das Steuergeheimnis (§ 30 AO) und die Regelung des § 393 AO
  • aa) Das Steuergeheimnis (§ 30 AO)
  • bb) § 393 Abs. 1 S. 2 AO
  • aaa) Schätzung als Zwang iSd § 393 Abs. 1 S. 2 AO
  • bbb) § 393 Abs. 1 S. 2 AO und die Selbstanzeige
  • cc) § 393 Abs. 2 S. 1 AO
  • aaa) Inhalt des § 393 Abs. 2 S. 1 AO
  • bbb) Einschränkungen und Durchbrechungen des § 393 Abs. 2 S. 1 AO
  • dd) Zwischenergebnis
  • b) Lösungsansätze in der Literatur
  • aa) Zeitliche Entzerrung von Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren
  • bb) Verwertungsverbot bei selbstbelastenden Angaben
  • cc) Mitwirkungsverweigerungsrecht des Steuerpflichtigen
  • dd) Verwendungsverbot bei selbstbelastenden Angaben
  • ee) Zwischenergebnis
  • c) Ausweg durch die Selbstanzeige
  • aa) Rechtspolitische Gebotenheit der Selbstanzeige
  • bb) Reichweite und Grenzen des Nemo-tenetur-Grundsatzes
  • aaa) Einschränkung des Nemo-tenetur-Grundsatzes im Strafverfahren aufgrund eines Aufklärungs- und Strafverfolgungsinteresses
  • bbb) Einschränkung des Nemo-tenetur-Grundsatzes im Rahmen von Auskunftspflichten im Vorfeld eines Strafverfahrens
  • ccc) Schlussfolgerungen für die Selbstanzeige
  • 3. Zwischenergebnis
  • D. Selbstanzeige in Deutschland und Großbritannien
  • I. Selbstanzeige in Deutschland
  • 1. Historische Entwicklung
  • 2. Voraussetzungen der Selbstanzeige
  • a) Berichtigung gemäß § 371 Abs. 1 AO
  • b) Kein Vorliegen von Ausschlussgründen iSd § 371 Abs. 2 AO
  • aa) Bekanntgabe der Prüfungsanordnung
  • bb) Einleitung eines Straf- oder Bußgeldverfahrens
  • cc) Erscheinen eines Amtsträgers zur steuerlichen Prüfung
  • dd) Erscheinen eines Amtsträgers zur Ermittlung
  • ee) Erscheinen eines Amtsträgers zur Nachschau
  • ff) Tatentdeckung
  • gg) Überschreiten des Betrags von 25.000 Euro und besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung
  • c) Nachzahlungspflicht gemäß § 371 Abs. 3 AO
  • 3. Rechtsfolgen der Selbstanzeige
  • II. Selbstanzeige in Großbritannien
  • 1. Das Steuersystem in Großbritannien
  • a) Rechtsquellen des Steuerrechts
  • aa) Primäre Gesetzgebung
  • bb) Sekundäre Gesetzgebung
  • b) Pflichten des Steuerzahlers
  • c) Befugnisse der HMRC
  • aa) Befugnisse im Steuerverfahren
  • aaa) Korrektur von Steuererklärungen und Einleitung von Untersuchungen
  • bbb) Verpflichtung zur Herausgabe von Informationen
  • ccc) Betreten von Geschäftsräumen
  • ddd) Sammeln von Daten
  • eee) Weitergabe von Informationen an andere Behörden
  • fff) Verhängung von Geldbußen (penalties)
  • bb) Befugnisse im Strafverfahren
  • d) Zwischenergebnis
  • 2. Das Steuerstrafrecht in Großbritannien
  • a) Zuständige Behörden
  • b) Straftaten bei Steuerhinterziehung
  • aa) Fraudulent evasion of income tax
  • bb) Fraudulent evasion of VAT
  • cc) Providing false documents or information to HMRC
  • dd) Fraudulent evasion of duty
  • ee) Cheating the public revenue
  • ff) Spezielle Straftaten und Geldbußen für Unternehmen und Auslandssteuerhinterzieher
  • aaa) Unterlassen, die Erleichterung der Steuerhinterziehung zu verhindern
  • bbb) Spezielle Straftaten und Geldbußen für Auslandssteuerhinterzieher
  • c) Zwischenergebnis
  • 3. Die Selbstanzeige in Großbritannien
  • a) Historische Entwicklung
  • aa) Entwicklung nach dem ersten Weltkrieg
  • bb) Versagung der Immunität vor Strafverfolgung
  • cc) Die Entscheidungen R v Allen und R v Gill and anor
  • dd) Code of Practice 9
  • aaa) Civil Investigation of Fraud
  • bbb) Contractual Disclosure Facility
  • b) Strafverfolgungspolitik der HMRC
  • aa) Maßgebliche Kriterien
  • bb) Vorteile steuerlicher gegenüber strafrechtlichen Ermittlungen
  • cc) Aktuelle Zahlen zur Strafverfolgung
  • dd) Ablauf der Auswahl der Fälle für steuerliche oder strafrechtliche Ermittlungen
  • ee) Zwischenergebnis
  • c) Notwendigkeit der Selbstanzeige
  • aa) Erhöhung der Einnahmen des Staates
  • bb) Ermittlungsnotstand
  • cc) Rückkehr zur Steuerehrlichkeit
  • dd) Herstellung von Belastungsgleichheit im Steuerrecht und Wiederherstellung der Effektivität des Steuerstrafrechts
  • ee) Zwischenergebnis
  • d) Ausgestaltung der Selbstanzeige
  • aa) Contractual Disclosure Facility (CDF)
  • aaa) Übersendung des Eröffnungsbriefs (opening letter)
  • bbb) Outline Disclosure
  • ccc) Formal Disclosure
  • ddd) Erreichen einer Einigung
  • eee) Zwischenergebnis
  • bb) Spezielle Selbstanzeigeprogramme (offshore disclosure facilities)
  • aaa) Offshore Disclosure Facility
  • bbb) The New Disclosure Opportunity
  • ccc) Liechtenstein Disclosure Facility
  • ddd) UK-Swiss Agreement
  • eee) Kronbesitzungen der britischen Krone (Guernsey, Isle of Man, Jersey)
  • fff) Worldwide Disclosure Facility
  • cc) Zwischenergebnis
  • e) Rechtsfolgen der Selbstanzeige
  • aa) Reduzierung der Geldbuße
  • bb) Publishing details of deliberate defaulters und Managing Serious Defaulters Programme
  • cc) Immunität vor Strafverfolgung
  • aaa) Immunität bezüglich Steuerstraftaten
  • bbb) Immunität bezüglich anderer Straftaten
  • ccc) Zwischenergebnis
  • III. Rechtsvergleich
  • 1. Historische Entwicklung der Selbstanzeige
  • 2. Gründe für die Existenz der Selbstanzeige
  • a) Fiskalischer Aspekt
  • b) Ermittlungsnotstand
  • c) Rückkehr in die Steuerehrlichkeit
  • d) Herstellung von Belastungsgleichheit im Steuerrecht
  • e) Wiederherstellung der Effektivität des Steuerstrafrechts
  • f) Rechtspolitische Gebotenheit
  • g) Zwischenergebnis
  • 3. Ausgestaltung der Selbstanzeige
  • a) Rechtliche Einordnung
  • b) Wirksamkeitsvoraussetzungen
  • aa) Deutschland
  • bb) Großbritannien
  • cc) Gemeinsamkeiten und Unterschiede
  • 4. Rechtsfolgen der Selbstanzeige
  • 5. Zwischenergebnis
  • E. Schaffung einer europäischen Selbstanzeigeregelung
  • I. Maßnahmen auf europäischer und internationaler Ebene zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung
  • II. Notwendigkeit einer europäischen Selbstanzeigeregelung
  • 1. Fälle grenzüberschreitender Steuerhinterziehung
  • a) Umsatzsteuerhinterziehung
  • b) Zoll- und Verbrauchsteuerhinterziehung
  • aa) Zollhinterziehung
  • bb) Verbrauchsteuerhinterziehung
  • c) Einkommensteuerhinterziehung
  • d) Körperschaftsteuerhinterziehung
  • aa) Steuerhinterziehung durch unangemessene Verrechnungspreise
  • bb) Einsatz von Basisgesellschaften
  • e) Erbschaft- und Schenkungsteuer
  • f) Zwischenergebnis
  • 2. Rechtliche Gebotenheit einer europäischen Selbstanzeigeregelung
  • a) Vereinbarkeit der Selbstanzeige mit dem Schutz der finanziellen Interessen der Union
  • aa) Verpflichtung zum Schutz der finanziellen Interessen der Union
  • bb) Vereinbarkeit der Selbstanzeige mit dem Schutz der finanziellen Interessen der Union
  • b) Rechtfertigung der Selbstanzeige auf Grundlage der europäischen Verträge
  • aa) Ermächtigungsgrundlage
  • aaa) Art. 325 Abs. 4 AEUV
  • bbb) Art. 83 Abs. 2 AEUV
  • bb) Rechtfertigung einer europäischen Selbstanzeigeregelung aus dem Effektivitätsgrundsatz
  • c) Zwischenergebnis
  • III. Ausgestaltung einer europäischen Selbstanzeigeregelung
  • 1. Selbstanzeige als Strafaufhebungs- oder Strafmilderungsgrund
  • 2. Wirksamkeitsvoraussetzungen der Selbstanzeige
  • a) Positive Wirksamkeitsvoraussetzungen
  • b) Negative Wirksamkeitsvoraussetzungen
  • 3. Erfasste Steuerarten
  • F. Fazit und Ausblick
  • I. Grundlagen des deutschen Steuerrechts und seiner Durchsetzung
  • II. Die Selbstanzeige im deutschen Steuerstrafrecht
  • III. Die steuerrechtliche Selbstanzeige in Großbritannien
  • IV. Die europäische Selbstanzeigeregelung
  • V. Ausblick
  • Literaturverzeichnis
  • Verzeichnis der zitierten britischen Rechtsprechung

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A. Einleitung

I. Problemstellung

Spätestens seit dem spektakulären Steuerstrafprozess um Uli Hoeneß und die Wirksamkeit seiner Selbstanzeige1 und dem Fall von Alice Schwarzer2 ist das In- stitut der Selbstanzeige in Deutschland so präsent wie nie zuvor.

Laut einer Umfrage unter den Finanzämtern berichtete die Süddeutsche Zeitung, dass in den ersten drei Monaten des Jahres 2014 bereits 13.000 Selbstanzeigen eingereicht worden seien. Dem standen lediglich 26.000 Anzeigen im gesamten Vorjahr gegenüber. Durch den Prozess gegen Uli Hoeneß sei die Zahl der Selbstanzeigen um das Vierfache in Bayern und das Fünffache in Nordrhein-Westfalen im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Ähnliche Anstiege habe es auch in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen gegeben.3

Nach dem Rekordjahr 2014 mit 40.000 Selbstanzeigen stand am Ende des Jahres 2015 eine Zahl von 14.500 Anzeigen, was vor allem auf die Verschärfungen des § 371 AO seit dem 01.01.2015 zurückzuführen ist.4 Gleiches trifft auf die Jahre 2016 und 2017 zu, in denen die Zahl der Selbstanzeigen nur 4.3735 bzw. etwas mehr als 2.000 betrug.6

Gerade im Hinblick auf die prominenten Fälle, bei denen Steuern im Hunderttausend- bzw. Millionenbereich hinterzogen worden sind, wurden sowohl bei den ←27 | 28→Gesetzesänderungen 2010 als auch 2014 immer wieder Stimmen laut, die eine Abschaffung der Selbstanzeige forderten.7

Der Gesetzgeber hat sich jedoch jedes Mal für den Erhalt der Selbstanzeige ausgesprochen und hervorgehoben, dass sich das Institut der Selbstanzeige über die Jahrzehnte bewährt habe.8

Da kommt die Frage auf, warum der Gesetzgeber nach wie vor an der Selbstanzeigeregelung festhält oder ob nicht vielmehr sogar eine Notwendigkeit für die Existenz einer solchen besteht.

Beschäftigt man sich mit der Selbstanzeige näher, ist es nicht schwer, an juristische Literatur zu gelangen. Es existiert eine Fülle an Handbüchern, die eine Anleitung zur vollständigen und wirksamen Selbstanzeige geben, und es gibt mehrere Kommentare, Lehrbücher, zahlreiche Aufsätze sowie Dissertationen, die sich mit der Selbstanzeige auseinandersetzen.9

Schaut man sich die verschiedenen Beiträge genauer an, so fällt auf, dass sich diese häufig tiefgehend mit den tatbestandlichen Voraussetzungen der Selbstanzeige und ihren gesetzlichen Änderungen befassen. Allerdings standen bisher, sieht man von der Habilitationschrift Brauns aus dem Jahr 1996 ab,10 die Grundlagen des Instituts der Selbstanzeige nicht im Mittelpunkt des Interesses.

II. Gang der Untersuchung

Um ein umfassendes Verständnis über die Selbstanzeige sowohl in steuer- und steuerstrafrechtlicher Hinsicht als auch in verfassungs- und europarechtlicher Hinsicht zu bekommen, ist zunächst ein Überblick über den Steuerstaat, die ←28 | 29→Sozialschädlichkeit der Steuerhinterziehung und die Steuermoral der Bürger (dazu B. I.-III.) erforderlich. Denn der Staat ist als Steuerstaat auf Steuereinnahmen angewiesen. Diese kann er aber nur generieren, wenn die Bürger eine hohe Steuermoral haben und auch der Staat zugleich Besteuerungsmoral zeigt.

Über kaum ein Rechtsinstitut ist in den letzten Jahren so heftig diskutiert worden wie über die Selbstanzeige und ihre Berechtigung.11 Während die herrschende Meinung bis zum Beschluss des BGH vom 20.05.201012 als Zweck der Selbstanzeige maßgeblich auf die Erschließung unbekannter Steuerquellen abstellte, hat sich mit der genannten Entscheidung des BGH der Schwerpunkt von der fiskalischen Begründung auf eine strafrechtliche verlagert, bei der die Schadenswiedergutmachung durch den Täter honoriert wird. Welche Ansätze zur Rechtfertigung der Selbstanzeige bestehen, ist Gegenstand des Kapitels C. I.

Neben ihrer Rechtfertigung muss die Selbstanzeige den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Die Selbstanzeige ist dem Steuerstrafrecht zuzuordnen. Das Steuerstrafrecht selbst ist eine Verbindung aus den Begriffen Steuer- und Strafrecht. Beide Rechtsgebiete unterliegen unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Grundsätzen, die näher untersucht werden sollen (dazu C. II. 1.-3.). Für die Selbstanzeige sind insbesondere der Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 3 Abs. 1 GG und der Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ von Bedeutung. Der Gleichbehandlungsgrundsatz spielt deshalb eine wichtige Rolle, weil teilweise13 die Selbstanzeigeregelung als verfassungswidrig angesehen wird (dazu C. II. 2.).

Die historische Entwicklung und die rechtliche Einordnung von „nemo tenetur“ (dazu C. II. 3 b), c)) haben vor allem Auswirkungen darauf, ob sich auch eine juristische Person auf das Schweigerecht berufen kann (dazu C. II. 3. d)), wenn gegen diese ein Ordnungswidrigkeitenverfahren zur Verhängung einer Geldbuße gemäß § 30 Abs. 1 OWiG eingeleitet wurde, weil eine Selbstanzeige der natürlichen Person, die beispielsweise als Organ des Unternehmens Steuerhinterziehungen begangen hat, unwirksam war.

Die Selbstanzeige ist geschaffen worden, um dem Steuerstraftäter einen Weg zurück in die Legalität zu ermöglichen. Wegen der jährlichen Veranlagung der Steuern ist ein Vergleich zwischen den verschiedenen Veranlagungszeiträumen möglich. Sollte der Täter zuvor seine Einkünfte falsch angegeben haben und für die aktuelle Veranlagungsperiode eine korrekte Steuererklärung einreichen, gibt er damit der Finanzbehörde Anlass zu strafrechtlichen Ermittlungen, die zu einer ←29 | 30→strafrechtlichen Verurteilung führen können. Ohne die Selbstanzeige könnte der Steuerdelinquent nicht seinen steuerlichen Mitwirkungspflichten nachkommen, ohne sich strafrechtlich selbst zu belasten (sog. Hinterziehungsfalle). Ob eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit für dieses Institut besteht, um dem Steuerstraftäter einen Weg in die Legalität zu eröffnen, oder ob nicht vielmehr von einer rechtspolitischen Gebotenheit auszugehen ist, soll Gegenstand des Kapitels C. III. sein.

Die deutsche Selbstanzeige ist ein Rechtsinstitut, das bereits seit über 100 Jahren existiert und im Laufe der Zeit mehrere grundlegende Änderungen erfahren hat (dazu D. I. 1.). Während früher noch eine Berücksichtigung der subjektiven Motive des Täters erfolgte, besteht heute kein Freiwilligkeitserfordernis mehr. Entscheidend ist, dass der Steuerdelinquent die positiven und negativen Wirksamkeitsvoraussetzungen erfüllt (dazu D. I. 2.). Ist das der Fall, wird er mit Straffreiheit belohnt (dazu D. I. 3.).

Die Selbstanzeige in Großbritannien ist hingegen nicht gesetzlich verankert, sondern es handelt sich um eine Praxis der Finanzbehörde, die nach dem ersten Weltkrieg eingeführt wurde, um der steigenden Anzahl von Steuerhinterziehungen Herr zu werden (dazu D. II. 3. a)). Um die britische Selbstanzeige einordnen zu können, muss man verstehen, wie das Steuersystem in Großbritannien ausgestaltet ist (s. dazu D. II. 1. a)), welche Pflichten des Steuerzahlers bestehen (s. dazu D. II. 1. b)), welche Befugnisse der britischen Finanzbehörde im Steuer- und Steuerstrafverfahren zustehen (s. dazu D. II. 1. c), 2. a)) und wie sich der Steuerstraftäter strafbar machen kann (s. dazu D. II. 2. b)). Dass es sich bei der britischen Selbstanzeige um ein steuerrechtliches und kein strafrechtliches Rechtsinstitut handelt, lässt sich mit der restriktiven Strafverfolgungspolitik der britischen Finanzbehörde begründen (s. dazu D. II. 3. b)). Wie im deutschen Teil soll die britische Selbstanzeige daraufhin untersucht werden, was die Gründe für die Existenz dieses Rechtsinstituts sind (dazu D. II. 3. c)), wie die Regelung ausgestaltet ist (dazu D. II. 3. d)) und welche Rechtsfolgen mit der wirksamen Selbstanzeige einhergehen (dazu D. II. 3. e)), bevor ein Rechtsvergleich (dazu D. III.) erfolgt.

Dieser Vergleich ist erforderlich, um sodann auf europäischer Ebene zu beleuchten, ob eine einheitliche europäische Selbstanzeigeregelung notwendig ist (dazu E.). Für diese müssen die bereits getroffenen Maßnahmen auf europäischer und internationaler Ebene gegen Steuerhinterziehung nicht ausreichend gewesen sein (dazu E. I.). Zwar hat die Europäische Union auf dem Gebiet der Betrugsbekämpfung mit der Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug vom 05.07.2017 eine einheitliche Defi- nition des Betruges geschaffen und die Angleichung von gegen die finanziellen Interessen der EU gerichteten Straftatbeständen und Verjährungsfristen sowie die Einführung strafrechtlicher Sanktionen und Mindeststrafen beim Höchstmaß vorgesehen.14 Regelungen in Bezug auf die Selbstanzeige fehlen jedoch völlig.

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Eine europäische Selbstanzeigeregelung sollte eingeführt werden, wenn eine tatsächliche und rechtliche Notwendigkeit besteht. Dafür müssen zunächst die Fälle grenzüberschreitender Steuerhinterziehungen identifiziert werden (s. dazu E. II. 1.) und die Selbstanzeige mit dem Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union vereinbar sein (s. dazu E. II. 2. a)). Nur wenn die Mitgliedstaaten nicht in der Lage sind, die grenzüberschreitende Steuerhinterziehung einzudämmen, es eine geeignete Ermächtigungsgrundlage gibt (s. dazu E. II. 2. b) aa)) und bestimmte Rechtsprinzipien in den europäischen Verträgen, namentlich der Effektivitätsgrundsatz, eine europäische Selbstanzeigeregelung rechtfertigen (s. dazu E. II. 2. b) bb)), kann ein Regelungsvorschlag unterbreitet werden (s. dazu E. III.).

III. Ziel der Untersuchung

In Anbetracht dessen, dass sich nur wenige Autoren mit den Grundlagen der Selbstanzeige beschäftigt haben, ist es Ziel dieser Arbeit, einen „Blick über den Tellerrand“ der nationalen Selbstanzeigeregelung des § 371 AO zu werfen und sowohl die verfassungsrechtlichen als auch europarechtlichen Einflüsse auf diese zu beleuchten. Dabei ist zentrale These der Arbeit, dass die Selbstanzeige rechtspolitisch und europarechtlich geboten ist, damit das Steuerstrafrecht seine Aufgabe, das Steueraufkommen des Staates durch Verhinderung bzw. Bestrafung von Steuerhinterziehungen zu schützen, effektiv erfüllen kann und um dem Steuerstraftäter einen Ausweg aus der Hinterziehungsfalle zu ermöglichen.

Auch wenn Großbritannien am 31. Januar 2020 die EU verlassen hat, hat die britische Selbstanzeige dennoch Relevanz für die Schaffung einer europäischen Selbstanzeigeregelung, weil es sich bei Großbritannien, ebenso wie bei Irland, um ein Land handelt, dessen Rechtsordnung dem common law zuzuordnen ist. Für eine Vereinheitlichung der Selbstanzeige in der Europäischen Union müssen die verschiedenen Rechtssysteme des common und des civil law so in Einklang gebracht werden, dass eine europäische Regelung den Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Gesetzgebung nicht zu sehr einschränkt oder zu Widersprüchen im nationalen Recht führt. Ferner ähneln sich die Selbstanzeigeregelungen in Irland und Großbritannien, sodass ein Vergleich der deutschen und der britischen Selbstanzeige den Ausgangspunkt für die Untersuchung der Einführung einer europäischen Selbstanzeigeregelung bilden kann.

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1 Artikel Zeit Online vom 13.03.2014, abrufbar unter: http://www.zeit.de/wirtschaft/2014-03/uli-hoeness-urteil-prozess.

2 Artikel FAZ.net vom 07.06.2014, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/unvollstaendige-selbstanzeige-steuerstrafrechtler-alice-schwarzer-muss-mit-verfahren-rechnen-12978216.html#/elections; s. auch Erlass eines Strafbefehls und Strafzahlung gegen Alice Schwarzer in Artikel Zeit Online vom 10.07.2016, abrufbar unter: http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-07/steuerhinterziehung-alice-schwarzer-strafbefehl.

3 Artikel Zeit Online vom 16.04.2014, abrufbar unter: http://www.zeit.de/wirtschaft/2014-04/steuerhinterziehung-selbstanzeigen-hoeness.

4 Artikel Süddeutsche Zeitung vom 24.12.2015, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/finanzen-zahl-der-steuer-selbstanzeigen-sinkt-drastisch-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-151224-99-550945.

5 Artikel Spiegel Online vom 27.12.2016, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/steuerhinterziehung-zahl-der-selbstanzeigen-bricht-offenbar-ein-a-1127574.html.

6 Artikel Hamburger Abendblatt vom 07.01.2018, abrufbar unter: https://www.abendblatt.de/wirtschaft/article213035125/Zahl-der-Selbstanzeigen-von-Steuersuendern-geht-zurueck.html.

7 Gesetzesentwurf der SPD-Fraktion vom 20.04.2010 BT-Drs. 17/1411, S. 1, 4; Vorschlag der SPD, die Selbstanzeige oberhalb einer Bagatellgrenze abzuschaffen, s. Badische Zeitung Artikel vom 05.02.2014, abrufbar unter: http://www.badische-zeitung.de/deutschland-1/debatte-um-die-selbstanzeige--80415614.html; Antrag der Fraktion Die Linke BT-Drs. 18/556, S. 1 f.

8 Regierungsentwurf der CDU/CSU- und FDP-Fraktion BT-Drs. 17/4182, S. 3; Empfehlungen der Ausschüsse des Bundesrats BR-Drs. 318/1/10, S. 80.

9 Statt vieler: Flore/Tsambikakis Steuerstrafrecht; Hübschmann/Hepp/Spitaler AO/FGO; Hüls/Reichling Steuerstrafrecht; Joecks/Jäger/Randt Steuerstrafrecht; Kohlmann Steuerstrafrecht; Leitner/Rosenau Wirtschafts- und Steuerstrafrecht; Rolletschke Steuerstrafrecht; Beckemper/Schmitz/Wegner/Wulf wistra 2011, 281, 281 ff.; J. R. Müller Die Selbstanzeige im Steuerstrafverfahren; Kuhlen Grundfragen der strafbaren Steuerhinterziehung; Löffler Grund und Grenzen der steuerstrafrechtlichen Selbstanzeige; M. Müller Die Selbstanzeige im Steuerstrafrecht; Rolletschke/Roth Die Selbstanzeige.

10 Siehe Brauns Die Wiedergutmachung der Folgen der Straftat durch den Täter, S. 136 ff.; siehe auch G. Dannecker in: Leitner/Brandl Finanzstrafrecht 2017, 1, 1 ff.

11 Während SPD und die Linke für eine Abschaffung plädierten, aaO. (Fn. 7), hielten CDU, CSU und FDP als Regierungsfraktionen 2010 an der Existenz der Selbstanzeige fest, aaO. (Fn. 8).

12 BGHSt 55, 180, 180 ff.

13 AG Saarbrücken DStZ 1983, 130, 130; Abramowski DStZ 1992, 460, 465; Bilsdorfer DStZ 1983, 131, 132; Krack NStZ 2001, 505, 510; Patzschke Die Selbstanzeige als Strafaufhebungsgrund des allgemeinen Strafrechts, S. 37 f., 237.

14 S. Erwägungsgründe, ABl. L 198 vom 28.07.2017, S. 29 ff. m.w.N.

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B. Der deliktische Eingriff in die Funktionsfähigkeit der Steuer

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Steuerstaat.15 Der Steuerstaat berechtigt den Staat dazu, Steuern zu erheben. Steuern sind gemäß § 3 Abs. 1 AO Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft, wobei die Erzielung von Einnahmen auch Nebenzweck sein kann. Die Steuer ist das Mittel des Staates zur Deckung seines Finanzbedarfs. Die Steuer hat somit primär die Funktion, dem Staat die erforderlichen Steuerreinnahmen zu verschaffen. Allerdings kann die Erzielung von Einnahmen auch Nebenzweck sein. Die Steuern können als Lenkungsnormen der Verwirklichung sozialer, wirtschaftlicher, kultureller und/oder umweltpolitischer Ziele dienen.16 Durch den Einsatz von Steuern als Lenkungsnormen können die Steuerpflichtigen zu einem bestimmten Verhalten gelenkt werden, indem ein bestimmtes steuerliches Verhalten begünstigt (durch Steuervergünstigungen, z.B. in Form von Abschreibungsmöglichkeiten, Freibeträgen, Prämien oder ermäßigten Steuersätzen17) oder benachteiligt wird (z.B. in Form von Verbrauch- und Aufwandsteuern, wie die Tabak- und Alkoholsteuer, Stromsteuer, Energiesteuer, Luftverkehrsteuer). Wer sich „sozial erwünscht“ verhält, wird steuerlich entlastet, wer sich „sozial unerwünscht“ verhält, wird steuerlich sonderbelastet.18 Insbesondere im Bereich des Umweltschutzes sollen nicht zuletzt durch die Kaufprämien auf Elektroautos und die damit einhergehende Steuerbefreiung von der Kraftfahrzeugsteuer gemäß § 3d KraftStG sowie die Einführung einer CO2-Steuer die Bürger zu einem emissionsärmeren Verhalten bewegt werden.

Das Verständnis, dass der Staat seinen Finanzbedarf allein durch die Erhebung von Steuern zu decken hat, bestand nicht von Anfang an, sondern ist erst im Laufe der Jahrhunderte gereift. Wie sich der Steuerstaat entwickelt hat (I. 1.) und welche Merkmale ihn kennzeichnen (I. 2.) ist von Bedeutung für die Frage, wer als Geschädigter der Steuerhinterziehung anzusehen ist (II.). Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum Steuerpflichtige Steuerhinterziehungen begehen und inwiefern die Steuermoral der Bürger mit der Besteuerungsmoral des Staates zusammenhängt (III.).

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I. Der Steuerstaat

1. Geschichtliche Entwicklung

Unter dem Steuerstaat ist ein Staat zu verstehen, der seinen Finanzbedarf im Wesentlichen durch Steuern deckt.19 Der Steuerstaat und seine Kriterien wurden von der Finanzwissenschaft entwickelt und von der juristischen Literatur übernommen.20 Der Terminus kam vermutlich im ersten Weltkrieg auf und findet sich sowohl bei Rudolf Goldscheid21 als auch bei Max Weber.22 Lorenz von Stein23 war der Erste, der den Steuerstaat in seinen Merkmalen beschrieb.24

Nach der Ansicht von Lorenz von Stein sind die Entstehung des modernen Staates und die Steuer unmittelbar miteinander verknüpft.25 Dabei ist für den zu leistenden Beitrag nicht mehr das ständische Recht, sondern die Angehörigkeit zum Staat entscheidend und jeder Einzelne wird unabhängig von den gesellschaftlichen Unterschieden auf die gleiche Pflicht reduziert, die in der Geldzahlung besteht.26 Dabei stünden die Gemeinschaft und der Einzelne in Wechselwirkung zueinander. Alles, was der Einzelne sei, habe und leiste, beruhe zu einem wesentlichen Teil auf dem, was er von der Gemeinschaft, dem Staat, empfangen habe.27 Würde der Einzelne nicht einen Teil dieser wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeben, könnte der Staat gar nicht erst die Bedingungen für eine solche Entwicklung schaffen.28

Es bestand aber nicht immer die Vorstellung, dass der Staat seinen Finanzbedarf aus Steuern zu decken hat. Das Mittelalter kannte Steuern nur als Ausnahme.29 Auch im 18. Jahrhundert war noch die Meinung vorherrschend, dass sich ←34 | 35→das Vermögen des Fürsten und damit des Staates aus Commercien, Manufakturen, Gewerbe und nur als Nebenzweck aus Steuern zusammensetzte.30 Erst im 19. Jahrhundert reifte die Einsicht, dass die Einnahmen des Staates nicht mehr durch Domänen, Gebühren oder alte ständische Steuern gedeckt werden konnten, sondern fortan nur noch durch Steuern.31

2. Merkmale des Steuerstaats

Der Steuerstaat in Deutschland, der in den Art. 105 ff. GG zu verorten ist32, zeichnet sich dadurch aus, dass Staat und Wirtschaft voneinander getrennt sind. Beide Begriffe verfolgen unterschiedliche Zielsetzungen. Die Wirtschaft orientiert sich vor allem an Gewinn und Verlust.33 Eine Berücksichtigung der öffentlichen Inte- ressen findet nicht statt. Der Staat richtet sich dagegen nach dem Gemeinwohl. Er greift kontrollierend und korrigierend ein, wenn die Ergebnisse des wirtschaftlichen Verteilungsprozesses zu Ungleichheiten führen, die nicht mehr tragbar sind.34 Gleiches gilt in Bezug auf die wirtschaftlich Tätigen, wenn deren Verhalten zu einer Gefährdung anderer35 oder zu unerwünschten Folgen36 führt.37

Ohne den Steuerstaat wäre der Sozialstaat nicht zu verwirklichen.38 Durch Steuereinnahmen hat der Staat erst die notwendigen Mittel, um eine Umverteilung ←35 | 36→zugunsten der Bedürftigen zu veranlassen. Damit trägt die Steuer zur Erfüllung des sozialen Staatsziels bei.39

Der Steuerstaat hängt auch mit dem Rechtsstaat zusammen.40 Denn die Steuer ist der „Preis für die Freiheit des Bürgers“.41 Es werden nicht mehr Dienste42, sondern nur Geldleistungen verlangt.43 Weil im modernen Staat keine persönliche Unterwerfung mehr erforderlich ist, wird es dem Bürger ermöglicht, seine Individualität in Freiheit zu entwickeln.44 Diese Freiheit findet vor allem Ausdruck in der grundrechtlichen Gewährleistung des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 GG und der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG. Das Eigentum sichert einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich, wodurch der Einzelne sein Leben eigenverantwortlich gestalten kann.45 Die Berufsfreiheit gibt ein Recht auf Ergreifen und Ausübung eines Berufs und garantiert Wettbewerbsfreiheit.46

Dadurch, dass der Staat die Voraussetzungen für die Betätigung des Einzelnen in der Wirtschaft schafft, indem er Bildungseinrichtungen, Infrastruktur und Subventionen bereitstellt, besteht für den Bürger im Gegenzug die Pflicht47, Steuern zu entrichten. Dabei greift der Staat nur auf denjenigen zu, der leistungsfähig ist. Ziel der Steuer ist eine gleichmäßige Verteilung der Steuerlast entsprechend der jeweiligen Leistungsfähigkeit.

II. Sozialschädlichkeit der Steuerhinterziehung

Der Steuerstaat gibt dem Staat das Recht, seine Einnahmen durch Steuern zu erzielen und dient der Verwirklichung des Sozial- und Rechtststaats. Der Staat kann zugleich durch den Einsatz von Lenkungsnormen die Umsetzung aktueller wirtschafts-, umwelt- und sozialpolitischer Ziele verfolgen, indem die Steuerpflichtigen ←36 | 37→für ein bestimmtes Handeln steuerlich begünstigt oder belastet werden. Angesichts dieser vielfältigen Ausprägung des Steuerstaats stellt sich die Frage, wer durch die Steuerhinterziehungen geschädigt wird, wenn sich einige Steuerpflichtige ihrer Steuerpflicht entziehen.

Die herrschende Meinung sieht das geschützte Rechtsgut bei § 370 AO im staatlichen Interesse am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen der einzelnen Steuern.48 Durch die Steuerhinterziehung wird somit der Staat geschädigt, weil ihm Einnahmen verloren gehen, auf die er einen Anspruch hat. Zwar fällt die einzelne Steuerhinterziehung hinsichtlich des Steueraufkommens nicht allzu sehr ins Gewicht. Nimmt man jedoch alle Steuerhinterziehungen zusammen, gehen Deutschland schätzungsweise 125 Milliarden Euro jährlich durch Steuerhinterziehung verloren.49 Begeht der Steuerdelinquent eine Steuerhinterziehung, entzieht er dadurch dem Staat diejenigen Mittel, die er für die Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben (Gewährung des Sozial- und Rechtsstaats) benötigt. Steuerhinterziehungen schränken damit die Planungs- und Dispositionsfreiheit des Staates ein50, weil der Staat nicht mehr frei entscheiden kann, für welche Zwecke die Einnahmen künftig verwendet werden sollen. Die Steuer ist „voraussetzungslos“ und stellt keine Gegenleistung für eine besondere Leistung des Staates dar.51

Zugleich werden durch die Steuerhinterziehungen die ehrlichen Steuerzahler stärker belastet, weil sie zusätzlich die Steuerlast derjenigen schultern müssen, die nicht bereit sind, entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit Steuern zu zahlen.52 Dadurch kann der Staat seiner Pflicht, die Steuerlast auf die Steuerpflichtigen gleichmäßig entsprechend ihrer jeweiligen Leistungsfähigkeit zu verteilen, nicht gerecht werden.

Den Steuerausfall kann der Staat nur durch Steuererhöhungen ausgleichen, die mit einer Belastung der ehrlichen Steuerzahler durch Erhöhung der Einkommen- oder Körperschaftsteuer oder mit Erhöhung der indirekten Steuern, wie z.B. der Umsatzsteuer, einhergeht.53 Werden derartige Erhöhungen nicht vorgenommen, sind diejenigen Bürger geschädigt, an die die hinterzogenen Steuergelder weitergeleitet worden wären.54 Hierfür müssen die öffentlichen Aufgaben, die durch die ←37 | 38→verlorenen Steuereinnahmen finanziert worden wären, bestimmt werden. Hierzu zählen beispielweise Sozialausgaben, Investitionen in die Infrastruktur sowie Subventionen an Unternehmen.55

Von großer Bedeutung sind schließlich die Auswirkungen von Steuerhinterziehungen auf die Wirtschaft. Neben den monetären Schäden führen Steuerhinterziehungen zu Wettbewerbsverzerrungen.56 Die Marktwirtschaft ist darauf ausgerichtet, dass sich diejenigen Wettbewerber am Markt behaupten, die kostengünstig nachfragegerechte Produkte herstellen und ihren Gewinn anschließend wieder in das Unternehmen investieren. Der kurzfristige Gewinnvorsprung eines Mitbewerbers wird durch das Gleichziehen der anderen Konkurrenten ausgeglichen.57

Steuerhinterziehungen führen indes dazu, dass der Gewinn, den ein Unternehmen erwirtschaftet, höher ausfällt, da das Unternehmen weniger Körperschaft- und Gewerbesteuer bezahlt. Gleiches gilt, wenn das Unternehmen keine Umsatzsteuer abführt.

Details

Seiten
334
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631897560
ISBN (ePUB)
9783631897577
ISBN (Paperback)
9783631895146
DOI
10.3726/b20583
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Februar)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023, S. 334.

Biographische Angaben

Lisa Martin (Autor:in)

Lisa Martin studierte und promovierte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

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Titel: Das Rechtsinstitut der steuerstrafrechtlichen Selbstanzeige
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