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Europarechtliche Freiräume der Arbeitszeitgestaltung

Vergleichender Blick auf die Umsetzung der Richtlinie 2003/88/EG

von Charlotte Schippers (Autor:in)
©2023 Dissertation 450 Seiten

Zusammenfassung

Dass im deutschen Arbeitszeitrecht Reformbedarf besteht, ist weitestgehend unbestritten und wird nicht zuletzt durch aktuelle Rechtsprechung belegt. Welche Anpassungen im nationalen Arbeitszeitrecht möglich sind, entscheidet sich jedoch zuerst im Europarecht – aus der Richtlinie 2003/88/EG entspringen die wesentlichen Vorgaben zur Arbeitszeit. Die vorliegende Arbeit zeigt auf, wo europarechtliche Freiräume bei der Arbeitszeitgestaltung bestehen und wo der deutsche Gesetzgeber diese nutzen kann. Hierfür erfolgt eine strukturierte Untersuchung der einzelnen Elemente des Arbeitszeitrechts – z.B. Ruhezeit, Höchstarbeitszeit und Abweichungen für autonome Arbeitnehmer – jeweils auf europarechtlicher wie deutscher Ebene und im Vergleich mit anderen europäischen Mitgliedstaaten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • § 1 Worum es geht: Problemstellung, Ziel und Gang der Untersuchung
  • § 2 Grundlagen der Arbeit
  • A) Wo kommen wir her? Die Ursprünge und Zwecke des deutschen und europäischen Arbeitszeitrechts
  • I. Der Weg zum deutschen ArbZG
  • 1. Das deutsche Arbeitszeitrecht vor der Weimarer Republik
  • 2. Grundlegende Änderungen in der Weimarer Zeit
  • 3. Die Zeit des Nationalsozialismus
  • 4. Nachkriegszeit
  • a) Das Arbeitszeitrecht der Bundesrepublik Deutschland
  • b) Das Arbeitszeitrecht der DDR
  • 5. Das deutsche ArbZG
  • a) Gründe für die Neuregelung
  • b) Änderungen des ArbZG in der Folgezeit
  • II. Das Arbeitszeitrecht im europäischen Zugriff
  • 1. Die Richtlinie 93/104/EG
  • a) Vor der Richtlinie 93/104/EG: Arbeitsmarkt- bzw. Beschäftigungspolitik
  • b) Der Motivwechsel zum Arbeitnehmerschutz
  • 2. Die Richtlinie 2000/34/EG
  • 3. Die Richtlinie 2003/88/EG
  • III. Zwecke des Arbeitszeitrechts
  • 1. Zwecke der ArbZRL
  • 2. Zwecke des deutschen ArbZG
  • a) Die Zielbestimmungen des § 1 ArbZG
  • aa) Genannte Zwecke
  • bb) Rangfolge der genannten Zwecke
  • b) Im Gesetz nicht genannte Zwecke
  • 3. Der Fokus liegt auf dem Arbeitnehmerschutz
  • IV. Antworten, die der Blick in die Historie gibt
  • B) Die Grundlagen der ArbZRL
  • I. Europäisches Primärrecht
  • 1. Rechtsgrundlage der ArbZRL: Art. 153 AEUV
  • 2. Auslegungshilfe: Art. 151 AEUV
  • 3. Die Europäische Grundrechtecharta
  • II. Gegenstand der ArbZRL
  • III. Anwendungsbereich der ArbZRL
  • 1. Der sachliche Anwendungsbereich der ArbZRL
  • a) Grundsatz: Alle privaten und öffentlichen Tätigkeitsbereiche
  • b) Ausnahmen
  • 2. Der persönliche Anwendungsbereich der ArbZRL und seine Umsetzung
  • a) Der europäische Arbeitnehmerbegriff
  • b) Der deutsche Arbeitnehmerbegriff
  • aa) Der Arbeitnehmerbegriff des ArbZG
  • bb) Problem des engen Arbeitnehmerbegriffs im ArbZG
  • (1) Auffangen mittels arbeitgeberseitiger Schutzpflichten?
  • (2) „Europäische“ aber nicht „deutsche“ Arbeitnehmer
  • c) Arbeitnehmerbegriffe anderer Mitgliedstaaten
  • aa) Der britische Arbeitnehmerbegriff (worker und employee)
  • bb) Der französische Arbeitnehmerbegriff (salarié)
  • cc) Der österreichische Arbeitnehmerbegriff
  • d) Notwendigkeit der richtlinienkonformen Auslegung
  • 3. Arbeitnehmer, für die spezifischere Vorschriften gelten
  • 4. Problem: Anwendung der ArbZRL je Arbeitnehmer oder je Arbeitsvertrag?
  • a) Die Rechtsprechung des EuGH
  • b) Handhabung der Mitgliedstaaten
  • c) Konsequenzen
  • IV. Regressionsverbot, Art. 23 ArbZRL
  • V. Im Übrigen: Völkerrecht
  • VI. Erste Schlussfolgerungen zum Flexibilisierungspotential der ArbZRL
  • C) Rechtstatsächliche Entwicklung seit Erlass der Richtlinie – veränderte Rahmenbedingungen und die Reaktion der Praxis
  • I. Bedeutung der Arbeitswelt 4.0
  • 1. Der Begriff der Arbeitswelt 4.0
  • 2. Wie Arbeiten 4.0 bedingt wird
  • 3. Änderungen der Arbeit
  • 4. Konkreter: Entwicklungen, die zu arbeitszeitrechtlichen Fragen führen
  • II. Gestaltungen der Praxis als Symptom der Arbeitswelt 4.0
  • 1. Flexible Arbeitszeiten
  • a) Vertrauensarbeitszeit
  • b) Gleitzeit
  • c) Arbeitszeitkonten
  • d) Jobsharing
  • e) Arbeit auf Abruf
  • f) Nullstundenverträge
  • 2. Homeoffice
  • III. Ausblick
  • IV. Reformbedarf
  • D) Summa: Die Grundsteine sind gelegt
  • § 3 Die Vorgaben und Möglichkeiten der ArbZRL und ihre nationale Umsetzung
  • A) Der Arbeitszeitbegriff
  • I. Der Arbeitszeitbegriff der Richtlinie
  • 1. Arbeitszeit als autonomer Begriff des Unionsrechts
  • 2. Definition der Arbeitszeit in der ArbZRL
  • a) Die einzelnen Merkmale der Definition
  • b) Kumulatives Vorliegen erforderlich?
  • 3. Kritik am europäischen Arbeitszeitbegriff
  • II. Deutsche Begriffsbestimmung, § 2 Abs. 1 ArbZG
  • 1. Arbeitszeitbegriff
  • 2. Sonderproblem: Unterbrechungen der Arbeitszeit durch Privates
  • a) Formaler oder nicht-formaler Arbeitszeitbegriff?
  • b) Überlegung: Sozialadäquanz als Maßstab
  • c) Richtlinienkonformität dieses Ansatzes
  • d) Summa: Sozialadäquanz entscheidend
  • III. Der Arbeitszeitbegriff in der Umsetzung anderer Mitgliedstaaten
  • 1. Staaten mit Arbeitszeitbegriffen eng an der Richtlinie – insbesondere Italien (orario di lavoro), Irland und das Vereinigte Königreich (working time)
  • 2. Staaten mit Arbeitszeitbegriffen, die teilweise von der Richtlinie abweichen – insbesondere Frankreich (temps de travail)
  • 3. Staaten mit weniger präzisen Arbeitszeitbegriffen – insbesondere Spanien (tiempo de trabajo)
  • IV. Besondere Fallgruppen und ihre Einordnung als Arbeits- oder Ruhezeit
  • 1. Einordnung von Bereitschaftszeiten
  • a) Vollarbeit
  • b) Arbeitsbereitschaft
  • c) Bereitschaftsdienst
  • d) Rufbereitschaft
  • e) Summa: Einordnung einzelfallabhängig
  • 2. Sonderproblem: dauernde, „unregulierte“ Erreichbarkeit
  • a) Bereitschaftsdienst oder Rufbereitschaft?
  • b) Erreichbarkeit auf Weisung des Arbeitgebers oder freiwillig?
  • c) Summa: Einordnung ebenfalls einzelfallabhängig
  • 3. Umkleidezeiten
  • a) Konkretisierende Rechtsprechung des EuGH fehlt
  • b) Deutsche Rechtslage
  • c) Französische Rechtslage (temps d’habillage et de déshabillage)
  • d) Österreichische Rechtslage
  • e) Summa: arbeitsschutzrechtlich von geringer Relevanz
  • 4. Wege- und Reisezeiten
  • a) Europarechtliche Einordnung
  • b) Deutsche Rechtslage
  • aa) Wegezeiten
  • bb) Reisezeiten
  • (1) Reisezeiten in öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Arbeitsleistungen
  • (2) Reisezeiten in öffentlichen Verkehrsmitteln mit Arbeitsleistungen
  • (3) Reisezeiten mit dem PKW
  • c) Rechtslage in Österreich
  • aa) Wegezeiten
  • bb) Reisezeiten
  • cc) Europarechtliche Zweifel an § 20b AZG
  • 5. Summa: ähnliche Kriterien
  • V. Arbeitszeit – Notwendigkeit und Möglichkeiten der Anpassung?
  • B) Tägliche Ruhezeit
  • I. Die europarechtlichen Vorgaben für die tägliche Ruhezeit
  • 1. Bedeutung und Zweck der Ruhezeit im Konzept der ArbZRL
  • a) Ruhezeitbezogene Konzeption der ArbZRL
  • b) Zweck der Ruhezeit
  • 2. Regelungen der täglichen Ruhezeit in der ArbZRL
  • a) Zentrale Vorgaben zur Ruhezeit
  • b) Lage der täglichen Ruhezeit
  • aa) Rechtsprechung des EuGH zur Lage der Ausgleichsruhezeiten
  • bb) Rechtsprechung des EuGH zur Lage der wöchentlichen Ruhezeit
  • cc) Stellungnahme
  • 3. Abweichungsmöglichkeiten der ArbZRL
  • a) Abweichungsmöglichkeiten nach Art. 17 ArbZRL
  • aa) Erfasste Bereiche
  • bb) Abweichungsinstrumente
  • b) Abweichungsmöglichkeiten nach Art. 18 ArbZRL
  • aa) Anwendbarkeit und Verhältnis zu Art. 17 ArbZRL
  • bb) Abweichungsinstrumente
  • (1) Tarifverträge – auch Haustarifverträge?
  • (2) Wer ist Sozialpartner?
  • (a) Europäisches Primärrecht: AEUV
  • (b) Pendelblick auf weitere Sekundärrechtsakte
  • (c) Stütze: Art. 28 GRC
  • (d) Stellungnahme
  • c) Gemeinsame Voraussetzungen der Artt. 17, 18 ArbZRL
  • aa) Gleichwertige Ausgleichsruhezeiten
  • (1) Inhaltliche Anforderungen
  • (2) Lage der Ausgleichsruhezeiten
  • bb) Alternativer angemessener Schutz
  • cc) Ungeschriebenes Kriterium: Unbedingte Erforderlichkeit
  • (1) Kritik an der restriktiven Auslegung des EuGH
  • (2) Auswirkungen der „unbedingten Erforderlichkeit“
  • d) Summa: nur begrenztes Flexibilisierungspotential
  • 4. Flexibilisierung ausschließlich über die Abweichungsmöglichkeiten möglich
  • II. Die deutschen Regelungen zur täglichen Ruhezeit
  • 1. Definition und Grundregelung
  • 2. Abweichungsmöglichkeiten
  • a) Kürzungen in bestimmten Beschäftigungsbereichen, § 5 Abs. 2 ArbZG
  • b) Kürzungen während der Rufbereitschaft, § 5 Abs. 3 ArbZG
  • c) Regelungen gemäß § 7 ArbZG zur Abweichung von der täglichen Ruhezeit
  • aa) Abweichungen nach § 7 Abs. 1 Nr. 3 ArbZG
  • (1) Erforderlich wegen der Art der Arbeit
  • (2) Ausgleich der Kürzung
  • bb) Abweichungen nach § 7 Abs. 2 ArbZG
  • (1) Anpassungen der Ruhezeit
  • (2) Gewährleistung des Gesundheitsschutzes
  • (3) Europarechtliche Bedenken: unbedingte Erforderlichkeit gewahrt?
  • cc) Abweichungsinstrumente
  • (1) Tarifverträge
  • (2) Tarifvertragliche Delegation an die Betriebsparteien
  • (3) Möglichkeit der gesetzlichen Delegation an die Betriebsparteien?
  • (a) Grundlegend: Richtigkeitsgewähr der Tarifverträge
  • (b) Sind Tarifverträge tatsächlich richtig?
  • (c) Anforderungen an tarifschließende Gewerkschaften in anderen Mitgliedstaaten
  • (d) Übertragung des Prüfungsmaßstabs
  • (e) Bewertung: die deutsche Regelung als guter Kompromiss?
  • (4) Sonstige Abweichungsinstrumente
  • dd) Potential zur Flexibilisierung
  • d) Außergewöhnliche Fälle, § 14 ArbZG
  • 3. Sonderproblem: Geringfügige Unterbrechungen der Ruhezeit
  • a) Problemaufriss
  • b) Erheblichkeitsschwelle und teleologische Reduktion?
  • c) Strenge Auffassung: kein Spielraum in ArbZG und ArbZRL
  • d) Stellungnahme
  • e) Summa: geringfügige Unterbrechungen der Ruhezeit sind Arbeitszeit ohne die entsprechende Rechtsfolge
  • 4. Auf deutscher Seite zunächst Verbesserungsbedarf
  • III. Die Regelungen zur täglichen Ruhezeit in anderen Mitgliedstaaten
  • 1. Die österreichischen Regelungen
  • a) Grundregelung, § 12 Abs. 1 AZG
  • b) Abweichungsmöglichkeiten
  • c) Insgesamt europarechtlich bedenkliche Regelungen
  • 2. Die britischen Regelungen (daily rest)
  • a) Grundregelung, WTR 1997 Reg. 10 (1)
  • b) Abweichungsmöglichkeiten
  • c) Großbritannien eignet sich nur eingeschränkt als Vorbild
  • 3. Die französischen Regelungen (temps de repos quotidien)
  • a) Grundregelung, Art. L 3131-1 CdT
  • b) Abweichungsmöglichkeiten
  • c) Orientierungsmöglichkeit für das deutsche Recht?
  • IV. Freiräume bei der Gestaltung der Ruhezeit?
  • C) Ruhepausen
  • I. Die europarechtlichen Vorgaben für die Ruhepausen
  • 1. Grundvorgaben zu Ruhepausen
  • 2. Abweichungsmöglichkeiten der ArbZRL
  • II. Die deutschen Regelungen zu Ruhepausen
  • 1. Grundlage: § 4 ArbZG
  • 2. Abweichungsmöglichkeiten
  • III. Die Ruhepausenregelungen in anderen Mitgliedstaaten
  • 1. Die Ruhepause in Österreich
  • 2. Die Ruhepause in Frankreich (temps de pause)
  • 3. Die Ruhepause in Irland (break)
  • 4. Die Ruhepause in weiteren Mitgliedstaaten
  • IV. Änderungen sind möglich, aber nicht nötig
  • D) Wöchentliche Ruhezeit
  • I. Die europarechtlichen Vorgaben zur wöchentlichen Ruhezeit
  • 1. Dauer und Lage der wöchentlichen Ruhezeit
  • a) Siebentageszeitraum nach Art. 5 Abs. 1 ArbZRL
  • aa) Kritik an der Rechtsprechung des EuGH
  • bb) Beginn des Siebentageszeitraums
  • b) Bis zu vierzehntägiger Bezugszeitraum nach Art. 16 lit. a) ArbZRL
  • 2. Abweichungsmöglichkeiten der ArbZRL
  • a) Kürzung nach Art. 5 Abs. 2 ArbZRL
  • b) Die Abweichungsmöglichkeiten der Artt. 17, 18 ArbZRL
  • 3. Flexibilität ist möglich
  • II. Die deutsche Umsetzung als Sonntagsruhe
  • 1. Sonntagsruhe
  • a) Sonn- und Feiertagsruhe als institutionelle Garantie und deutsche Tradition
  • b) Verbot des § 9 Abs. 1 ArbZG
  • c) Die Regelung des § 9 Abs. 2 ArbZG für mehrschichtige Betriebe
  • 2. Sonn- und Feiertagsbeschäftigung
  • a) Abweichungen durch Gesetz, § 10 ArbZG
  • aa) Ausnahmen nach § 10 Abs. 1 ArbZG
  • bb) Ausnahmen nach § 10 Abs. 2 ArbZG
  • cc) Ausgleich für Sonn- und Feiertagsbeschäftigung, § 11 ArbZG
  • (1) 15 beschäftigungsfreie Sonntage
  • (2) Ersatzruhetag
  • (3) Verbindung mit der täglichen Ruhezeit
  • dd) Europarechtliche Bewertung
  • b) Abweichungen durch die Kollektivparteien, § 12 ArbZG
  • c) Potential der Abweichungsmöglichkeiten
  • 3. Die deutschen Regelungen sind streng
  • III. Die Regelungen zur wöchentlichen Ruhezeit in anderen Mitgliedstaaten
  • 1. Wöchentliche Ruhezeit als Wochenendruhe in Österreich
  • a) Wochenendruhe nach § 3 ARG
  • b) Abweichungsmöglichkeiten und Sonderbestimmungen
  • c) Dem deutschen Recht ähnlich
  • 2. Wöchentliche Ruhezeit (veckovila) „nach Möglichkeit“ als Wochenendruhe in Schweden
  • a) „Wochenurlaub“ gem. § 14 ATL
  • b) Abweichungsmöglichkeiten
  • c) Bewertung: flexibel und arbeitnehmerfreundlich
  • 3. Wöchentliche Ruhezeit (weekly rest) in Großbritannien
  • a) Wöchentliche Ruhezeit nach WTR 1998 Reg. 11
  • b) Abweichungsmöglichkeiten
  • c) Mehr Flexibilität durch nicht festgelegte Ruhetage
  • IV. Abschaffung oder Einschränkung der Sonntagsruhe?
  • 1. Vorzüge einer flexibleren Lage des Ruhetags
  • 2. Verfassungsrechtliche Grenzen
  • 3. Erweiterung des Ausnahmenkatalogs?
  • V. Die Sonntagsruhe ist im deutschen Recht fest verankert
  • E) Höchstarbeitszeit
  • I. Die europarechtlichen Vorgaben zur Höchstarbeitszeit
  • 1. Wöchentliche Höchstarbeitszeit nach Art. 6 ArbZRL
  • 2. Bis zu viermonatiger Bezugszeitraum nach Art. 16 lit. b) ArbZRL
  • a) Fester oder gleitender Bezugszeitraum?
  • b) Potential der Festlegung von Bezugszeiträumen
  • 3. Abweichungen und Ausnahmen
  • a) Opt-out nach Art. 22 ArbZRL
  • aa) Vereinbarkeit mit Art. 31 Abs. 2 GRC
  • bb) Voraussetzungen der Nutzung des Opt-outs
  • (1) Abweichung durch die Mitgliedstaaten nur bei Einhaltung der allgemeinen Grundsätze der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer
  • (2) Zustimmung des Arbeitnehmers
  • (a) Anforderungen an die Einwilligung
  • (b) Zulässigkeit einer Widerrufsfrist
  • (c) Länge der Widerrufsfrist
  • (3) Benachteiligungsverbot
  • (4) Unbedingte Erforderlichkeit?
  • cc) Potential der Opt-out-Regelung, auch in Kombination mit anderen Abweichungsmöglichkeiten
  • b) Abweichungen von Art. 16 lit. b) ArbZRL
  • 4. Erhebliches Flexibilisierungspotential in der ArbZRL
  • II. Die deutschen Regelungen der Höchstarbeitszeit
  • 1. Grundregelung: Tägliche Höchstarbeitszeit
  • a) Werktag
  • b) Berechnung des Wochendurchschnitts?
  • 2. Abweichungsmöglichkeiten
  • a) Verlängerung auf zehn Stunden, § 3 S. 2 ArbZG
  • aa) Ausgleichszeiträume
  • bb) Europarechtskonformität: Länge der Ausgleichszeiträume
  • cc) Bestimmung des Ausgleichs
  • dd) Potential
  • b) Abweichungen nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG
  • aa) Abweichungen bei Bereitschaftsdienst und Arbeitsbereitschaft
  • bb) Einschränkung nach § 7 Abs. 8 ArbZG
  • cc) Erforderliche Nachbesserungen?
  • c) Insbesondere: Abweichungen nach § 7 Abs. 2a ArbZG – Opt-out
  • aa) Besondere Regelungen zum Gesundheitsschutz
  • bb) Freiwillige Einwilligung des Arbeitnehmers
  • cc) Widerruf der Einwilligung unter Einhaltung einer Widerrufsfrist
  • dd) Benachteiligungsverbot
  • ee) Europarechtliche Bedenken
  • (1) Delegation an die Tarifpartner
  • (2) Abweichung auch von der Vorgabe zur täglichen Ruhezeit?
  • (3) Benachteiligungsverbot
  • ff) Ungenutztes Potential
  • 3. Möglichkeit und Notwendigkeit der Anpassung
  • III. Die Regelungen in der Umsetzung anderer Mitgliedstaaten
  • 1. Die österreichischen Regelungen zur Höchstarbeitszeit
  • a) Ein System aus Höchstarbeitszeit, Normalarbeitszeit und Überstunden
  • b) Abweichungsmöglichkeiten
  • aa) Flexibilisierung der Normalarbeitszeit
  • (1) Überblick: Abweichungen nach §§ 4 ff. AZG
  • (2) Verlängerung nach § 5 und § 5a AZG
  • (a) Verlängerung bei Arbeitsbereitschaft nach § 5 AZG
  • (b) Normalarbeitszeit bei besonderen Erholungsmöglichkeiten nach § 5a AZG
  • bb) Höchstgrenzen der Arbeitszeit und Bezugszeiträume
  • cc) § 7 AZG: Verlängerung der Arbeitszeit bei Vorliegen höheren Arbeitsbedarfes
  • c) Dem deutschen Recht voraus?
  • 2. Die französischen Regelungen zur Höchstarbeitszeit (durée maximale de travail)
  • a) Tägliche und wöchentliche Höchstarbeitszeit, „gesetzliche Arbeitszeit“ und Überstunden
  • b) Abweichungsmöglichkeiten
  • aa) Tägliche Höchstarbeitszeit
  • bb) Wöchentliche Höchstarbeitszeit
  • c) Ein (arbeitnehmerfreundliches) Vorbild für das deutsche Recht?
  • 3. Die britischen Regelungen zur Höchstarbeitszeit (maximum working time)
  • a) Wöchentliche Höchstarbeitszeit mit Bezugszeitraum
  • b) Abweichungsmöglichkeiten
  • aa) Längere Bezugszeiträume
  • bb) Insbesondere: Opt-out
  • c) Opt-out nicht als Ausnahme
  • 4. Ein kurzer – rechtspolitischer – Seitenblick: Die Viertagewoche
  • 5. Der Pendelblick zeigt unterschiedliche Befunde
  • IV. Mögliche und nötige Anpassungen im deutschen Recht
  • 1. Wöchentliche Höchstarbeitszeit
  • 2. Abweichungsmöglichkeiten; Einbeziehung der Kollektivpartner?
  • 3. Opt-out
  • V. Anpassungen sind nötig
  • F) Abweichungen gemäß Art. 17 Abs. 1 ArbZRL für autonome Arbeitnehmer
  • I. Die europarechtlichen Vorgaben zu Art. 17 Abs. 1 ArbZRL
  • 1. Voraussetzungen der Abweichung
  • a) Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer
  • b) Autonome Arbeitnehmer
  • aa) Kernkriterien: keine Messbarkeit und/oder keine Festlegung der Arbeitszeit im Voraus oder eigene Festlegung des Arbeitnehmers
  • (1) Keine Messbarkeit und/oder keine Festlegung der Arbeitszeit im Voraus
  • (2) Eigene Festlegung des Arbeitnehmers
  • (3) Verhältnis der Kriterien
  • bb) Besondere Merkmale der ausgeübten Tätigkeit
  • cc) Die Regelbeispiele des Art. 17 Abs. 1 ArbZRL
  • c) Strenge Anforderungen
  • 2. Ermöglichte Abweichungen
  • 3. Umfassende Abweichungen unter strengen Voraussetzungen
  • II. Die Umsetzung im deutschen Recht: § 18 ArbZG
  • 1. Unionsrechtskonformität des § 18 ArbZG
  • a) Herausnahme aus dem Anwendungsbereich des ArbZG
  • b) Fehlende Beschränkung auf die Merkmale des Art. 17 Abs. 1 ArbZRL
  • c) Verstoß gegen Art. 31 Abs. 2 GRC?
  • d) Zweifel an der Europarechtskonformität schlagen nicht durch
  • 2. Die ausgeschlossenen Personengruppen
  • 3. Folge des Ausschlusses
  • 4. Auch hier ungenutztes Potential
  • III. Die Regelung in der Umsetzung anderer Mitgliedstaaten
  • 1. Eng an der Richtlinie: Umsetzung in Großbritannien
  • 2. Selbstständige Entscheidungsbefugnis in Österreich
  • 3. Herausnahme ab einem bestimmten Einkommen in Frankreich und den Niederlanden
  • a) Anknüpfung an die Entgeltsysteme der Unternehmen in Frankreich
  • b) Das Dreifache des gesetzlichen Mindestlohns in den Niederlanden
  • 4. Luxemburg: Arbeitnehmer, die von zu Hause aus arbeiten
  • 5. Verschiedene Anknüpfungspunkte in der mitgliedstaatlichen Umsetzung
  • IV. Vorbilder aus anderen Mitgliedstaaten? Mögliche Anpassungen des § 18 ArbZG
  • 1. Leitende Angestellte und selbstständige Entscheidungsbefugnis
  • 2. Herausnahme ab einer bestimmten Gehaltsschwelle
  • a) Mögliche Anknüpfungspunkte
  • aa) Anknüpfungspunkte im nationalen Recht
  • bb) Vorbilder aus Frankreich und den Niederlanden
  • cc) Fester oder branchenspezifischer Schwellenwert
  • b) Gründe für und gegen die Anknüpfung an das Gehalt
  • c) Rechtliche Zulässigkeit
  • aa) Vereinbarkeit mit nationalem Recht
  • bb) Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht
  • d) Ein hohes Einkommen hat Indizwirkung
  • 3. Sinnvolle Anpassungen des § 18 ArbZG
  • G) Summa: ein gemischtes Bild im Europarecht und im nationalen Recht
  • § 4 Gestaltungsspielräume der ArbZRL: Summa und Thesen
  • A) Summa
  • B) Thesen
  • Literaturverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis

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§ 1 Worum es geht: Problemstellung, Ziel und Gang der Untersuchung

Wir steigen niemals zweimal in denselben Fluss. Arbeiten und Arbeitszeit haben sich immer gewandelt, nicht zuletzt durch technische und gesellschaftliche Entwicklung. Auch in jüngeren Jahren treten insbesondere aufgrund der Digitalisierung gravierende Änderungen in der Arbeitswelt auf. Daneben sind auch im gesellschaftlichen Denken und hinsichtlich der individuellen Bedürfnisse der Arbeitnehmer1 Änderungen wahrzunehmen – vornehmlich ein Streben nach größerer Flexibilität, um Beruf, Familie und Freizeit nach ihren Bedürfnissen miteinander vereinbaren zu können; der traditionelle „Nine to five job“ an einem festen Arbeitsplatz ist somit immer seltener die Regel.2 Viele sprechen in diesem Kontext auch von einer „Entgrenzung“ der Arbeit, gekennzeichnet durch orts- und arbeitsorganisationsunabhängiges Arbeiten, das auch von festen Arbeitszeiten gelöst ist.3

Der Anpassungsbedarf des deutschen Arbeitszeitgesetzes von 1994, das in Ansehung ganz anderer tatsächlicher Grundvoraussetzungen geschaffen wurde, ist aus diesen Gründen weitestgehend unbestritten.4 Ein unflexibles Arbeitszeitrecht, das mit neuen Gegebenheiten nicht umgehen kann, mag letztlich nicht nur die Bedürfnisse und Wünsche der von ihm erfassten Personen vernachlässigen, sondern auch einen Wettbewerbsnachteil im internationalen Vergleich ←25 | 26→bedeuten.5 Und: Dass Reformbedarf besteht, ist auch in der Politik angekommen, die in den letzten Jahren – so auch jüngst im Koalitionsvertrag6 – Änderungsvorschläge zum Arbeitszeitrecht ins Spiel bringt.7

Zu berücksichtigen ist bei allen Änderungsbestrebungen aber, dass die Frage, ob dem Gesetzgeber Gesetzesänderungen möglich sind, mögen sie noch so sinnvoll und zweckmäßig erscheinen, sich oftmals als erstes im Europarecht entscheidet. Die Arbeitszeitrichtlinie, die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ArbZRL) enthält die europarechtlichen Vorgaben für die Arbeitszeit. Dazu ist allgemein anerkannt, dass die Freiräume, die die ArbZRL den Mitgliedstaaten lässt, durch den deutschen Gesetzgeber bislang eben nicht vollumfänglich ausgeschöpft worden sind.8 Aufgabe ist es nun, herauszuarbeiten, wo diese Freiräume tatsächlich bestehen und wo der deutsche Gesetzgeber sie ggfs. nutzen kann, um das ArbZG zu aktualisieren.

Bei Bewältigung dieser Aufgabe liefert insbesondere der Vergleich mit der Umsetzung der Richtlinie durch andere europäische Mitgliedstaaten wichtige Anhaltspunkte. Ein vergleichender Pendelblick kann bestehende Spielräume verdeutlichen, die der deutsche Gesetzgeber nicht ausgenutzt hat, die aber durch andere nationale Gesetzgeber ausgefüllt wurden – ohne Beanstandung bspw. durch die Europäische Kommission.

Kurz gesagt: Ein an neue Begebenheiten und gewandelte Verhältnisse angepasstes flexibles Arbeitszeitrecht ist auf nationaler Ebene erforderlich – Raum dafür lässt die europäische ArbZRL. Ziel der Arbeit ist es daher, anhand von Auslegung der ArbZRL, Auswertung entsprechender EuGH-Rechtsprechung und Literatur sowie der Umsetzung der Richtlinie sowohl in Deutschland selbst als auch in anderen Mitgliedstaaten die Freiräume aufzuzeigen, die das Europarecht ←26 | 27→dem nationalen Gesetzgeber bei der Regelung der Arbeitszeit lässt. Es geht dabei auch um einen sachgerechten Interessenausgleich. Arbeitnehmerschutz ist wichtig und Hauptzweck des Arbeitszeitrechts. Es fungiert u.a. als Abwehr von Gesundheitsgefahren infolge langer Arbeits- und kurzer Ruhezeiten aufgrund häufigen Abrufs der Arbeitsleistung durch den Arbeitgeber und nicht zuletzt als Schutz des Arbeitnehmers vor sich selbst. Aber: Flexibilisierung steht zum Gesundheitsschutz nicht grundsätzlich im Widerspruch, denn auch Arbeitnehmer bedürfen flexibler Gestaltungsoptionen hinsichtlich ihrer Arbeitszeit.

Um diese Ziele zu erreichen, wurde folgender Gang der Untersuchung gewählt:

Zunächst bedarf es, um die Grundsteine für die weitergehenden Betrachtungen zu legen, einer Herausarbeitung der relevanten Grundlagen (§ 2). Dazu gehören Erläuterungen zu den Ursprüngen und Zwecken des Arbeitszeitrechts, respektive des ArbZG und der ArbZRL (§ 2 A)). Die Ziele sowohl des deutschen als auch europäischen Arbeitszeitrechts, die sich mithilfe der historischen Auslegung begründen lassen, sind für die Arbeit mit den Regelungen und ihre Auslegung maßgebend. Im Weiteren wird es um die Grundlagen der ArbZRL gehen, die ebenfalls für ihr Verständnis und vor allem ihre Auslegung notwendig sind (§ 2 B)). Dazu gehören nicht nur ihre Verankerungen im europäischen Primärrecht, so z.B. in Art. 31 Abs. 2 GRC, sondern bspw. auch ihr Anwendungsbereich, unter besonderem Augenmerk auf den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff. Hier ergeben sich auch erste Anknüpfungspunkte für einen Vergleich mit mitgliedstaatlichen Regelungen. Um die Notwendigkeit der Reform zu verdeutlichen, folgt im nächsten Abschnitt (§ 2 C)) eine Darstellung der rechtstatsächlichen Entwicklungen seit Erlass der Richtlinie. Die bereits angedeuteten Änderungen der Rahmenbedingungen führen zu Reaktionen der Praxis, die symptomatisch für die Arbeitswelt 4.0 sind und den Anpassungsbedarf des ArbZG belegen. Hierzu gehören z.B. verschiedene Modelle flexibler Arbeitszeiten wie Vertrauensarbeitszeit.

Schwerpunkt der Arbeit sind die Vorgaben und Möglichkeiten der ArbZRL und ihre nationale Umsetzung (§ 3). Dabei wird es zunächst um den Grundbegriff der Arbeitszeit gehen (§ 3 A)), der europarechtlich autonom auszulegen ist, aber damit auch Unklarheiten lässt, die sich im mitgliedstaatlichen Vergleich und mit der Betrachtung verschiedener spezieller Fallgruppen nicht gänzlich ausräumen lassen. Das Gegenstück zur Arbeitszeit ist die Ruhezeit, welche die Konzeption der ArbZRL beherrscht. Wenig flexibel sind dabei die in der Grundvorgabe strengen Regelungen zur täglichen Ruhezeit (§ 3 B)). Doch die ArbZRL sieht auch umfassende Abweichungs- und Ausnahmemöglichkeiten vor, die erstes Flexibilisierungspotential versprechen. Der Blick auf die deutschen ←27 | 28→Regelungen soll die dortigen Umsetzungsdefizite zutage fördern. Aber auch in anderen Mitgliedstaaten, so mag ein kurzer Vergleich verdeutlichen, bestehen nicht nur unproblematische Regelungen. Selten geht es in der aktuellen Diskussion um die Vorgaben zur Ruhepause (§ 3 C)), die hier aber ebenfalls zu berücksichtigen sind. Ob tatsächlich Änderungsbedarf besteht, darf jedoch aufgrund des kurzen zeitlichen Umfangs einer Ruhepause bereits bezweifelt werden. Um die Ruhezeittrias zu komplettieren, knüpft die Betrachtung der wöchentlichen Ruhezeit an (§ 3 D)). Dass hier erhebliches Potential zur Flexibilisierung besteht, liegt auf der Hand, denn das europäische Recht schreibt die Sonntagsruhe nicht vor. Das haben sich auch andere Mitgliedstaaten zunutze gemacht, doch in Deutschland bestehen gegen eine Abschaffung oder erhebliche Aufweichung der Sonntagsruhe verfassungsrechtliche Bedenken. Für den deutschen Gesetzgeber fruchtbares Potential besteht hinsichtlich der Höchstarbeitszeit (§ 3 E)), die europarechtlich wöchentlich vorgegeben ist, während das deutsche Recht die tägliche Höchstarbeitszeit kennt. Durch die Möglichkeit, Bezugszeiträume festzulegen und das sog. Opt-out in das mitgliedstaatliche Recht zu implementieren, schafft die ArbZRL auch hier Freiräume. Aufgrund ihrer Konzeption ausgelagert wird es im Hauptkapitel als letztes vor der Zusammenfassung (§ 3 G)) um die Abweichungsmöglichkeiten des Art. 17 Abs. 1 ArbZRL gehen, die Ausnahmen für autonome Arbeitnehmer vorsehen (§ 3 F)). Auch hier mag sich erhebliches Flexibilisierungspotential verstecken.

Zuletzt folgt eine Gesamtsumma mit Thesen (§ 4).

Non multa, sed multum. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, werden folgende Aspekte ausgeklammert: Mangels Relevanz in der aktuellen Diskussion soll es nicht um die Regelungen zur Nacht- und Schichtarbeit, Artt. 8–13 ArbZRL, gehen. Bestimmt wird der rechtswissenschaftliche Diskurs dieser Tage hingegen durch das Urteil des EuGH in der Rechtssache CCOO,9 mit dem er den Mitgliedstaaten vorschreibt, Arbeitgebern die Pflicht zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems der Arbeitszeiterfassung aufzuerlegen. Zu dem Urteil und seinen Auswirkungen kann man jedoch eigene Dissertationen schreiben – und das ist auch schon geschehen –10, sodass Fragen ←28 | 29→der Arbeitszeiterfassung hier nicht behandelt werden. Und auch das Urlaubsrecht findet seine europarechtliche Verankerung in der ArbZRL. Nach deutschem Rechtsverständnis handelt es sich hierbei jedoch nicht wie beim übrigen Arbeitszeitrecht um öffentlich-rechtliches Arbeitsschutzrecht, sondern zwingendes Privatrecht,11 das auch nicht im ArbZG geregelt ist, sondern in das BUrlG „ausgelagert“ wurde. Damit ist es nicht Teil dieser Arbeit.

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1 Um die bessere Lesbarkeit des Textes zu gewährleisten, wird das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind jedoch immer alle Geschlechter.

2 S. nur Henssler, FS Moll, 233 (235); Raif/Nann, GWR 2016, 221.

3 Bissels/Meyer-Michaelis, DB 2015, 2331 ff.; Günther/Böglmüller, NZA 2015, 1025 (1029); Jacobs, NZA 2016, 733; Kohte, NZA 2015, 1417, 1422; Link/Kern, Arbeitswelt 4.0, S. 81 (82).

4 S. dazu nur Baeck/Winzer, NZA 2020, 96 (98); Bissels/Krings, NJW 2016, 3418 (insb. 3420); Bissels/Meyer-Michaelis, DB 2015, 2331 (2334); Günther/Böglmüller, NZA 2015, 1025 (1031); Henssler, FS Moll, S. 233 (240): das ArbZG sei schon kurz nach seiner Verabschiedung veraltet gewesen; Jacobs, ZfA 2019, 265; ders., NZA 2016, 733 (734); Kolbe, ZfA 2021, 216 ff.; Link/Kern, Arbeitswelt 4.0, S. 81 (91 ff.); Oberthür, MDR 2019, 1029, die das Urteil des EuGH zur Arbeitszeiterfassung zum Anlass nimmt, auch über weitergehende Änderungen des ArbZG nachzudenken; Raif/Nann, GWR 2016, 221 (223 f.); Thüsing, SZ, 27.10.2019, Im Job flexibel bleiben; a.A. Falder, NZA 2010, 1150 (1157); HK-ArbZR/Schubert, 2. Aufl. 2018, Einl. Rn. 25; s. auch Schirmer/Isenmann, NZA-Beil. 2019, 69 (71 f.) zum „Innovationstarifvertrag“.

5 Grau/Kruppa, RdA 2022, 73 (75); Thüsing/Rombey/Schippers, NZA 2020, 480 (481).

6 Hier ist hinsichtlich der Arbeitszeit die Rede von flexiblen Arbeitszeitmodellen und Abweichungen hinsichtlich der täglichen Höchstarbeitszeit: SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, Koalitionsvertrag 20. Legislaturperiode, Mehr Fortschritt wagen, S. 54.

7 S. z.B. den Antrag des Freistaates Bayern an den Bundesrat, BR-Drs. 444/19, in dem der Reformbedarf betont und eine Änderung der Ruhezeitregelungen angedacht wird. Und auch im Koalitionsvertrag der vergangenen Legislaturperiode wurden Vorschläge unterbreitet, s. CDU, CSU und SPD, Koalitionsvertrag 19. Legislaturperiode, Ein neuer Aufbruch für Europa, Z. 2361–2366.

8 S. nur Hanau, H., EuZA 2019, 423; Henssler, FS Moll, 233 (241); ders./Lunk, NZA 2016, 1425 ff.; Jacobs, ZfA 2019, 265 (267); Krause, NJW-Beil. 2016, 33 (34); Thüsing/Rombey/Schippers, NZA 2020, 480.

9 EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C-55/18 – CCOO, NZA 2019, 683; ausf. dazu Thüsing/Flink/Jänsch, ZfA 2019, 456; s. i.Ü. nur Brors, NZA 2020, 1685; Höpfner/Daum, RdA 2019, 270; Latzel, EuZA 2019, 469; Oberthür, MDR 2019, 1029; Reinhard, NZA 2019, 1313; Schrader, NZA 2019, 1035. S. außerdem die jüngst ergangene Entscheidung des BAG zur Arbeitszeiterfassung: BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21.

10 Pingen, Arbeitszeit und Arbeitszeiterfassung.

11 BeckOK ArbR/Lampe, 64. Ed. 2022, § 1 BUrlG Rn. 3; ErfK/Gallner, 22. Aufl. 2022, § 1 BUrlG Rn. 12; Franzen/Gallner/Oetker/Gallner, EuArbR, 4. Aufl. 2022, Art. 1 RL 2003/88/EG Rn. 4.

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§ 2 Grundlagen der Arbeit

Um die Arbeit mit ArbZRL und ArbZG zu ermöglichen, ist es erforderlich, wesentliche Grundlagen zu kennen, über die im folgenden Kapitel ein Überblick gereicht wird. Dazu gehören zunächst die historischen Ursprünge des deutschen und europäischen Arbeitszeitrechts (A)). Darüber hinaus sind im Kontext der ArbZRL auf europäischer Ebene relevantes Primärrecht zu begutachten sowie ihr Gegenstand und Anwendungsbereich aufzuzeigen (B)). Schließlich wird der Reformbedarf im Arbeitszeitrecht anhand der aktuellen Entwicklungen in rechtstatsächlicher Hinsicht aufgezeigt (C)).

A) Wo kommen wir her? Die Ursprünge und Zwecke des deutschen und europäischen Arbeitszeitrechts

Um tatsächlich in Gänze nachvollziehen zu können, warum das Arbeitszeitrecht auf deutscher und auf europäischer Ebene an seinem heutigen Punkt steht und um eine historische Auslegung zu ermöglichen, soll der erste Blick auf seine historische Entwicklung fallen. Die historische Gesetzesauslegung ermöglicht grundsätzlich, sowohl im nationalen als auch im europäischen Recht, den Schluss auf den maßgeblichen Sinn und Zweck eines Gesetzes bzw. einer Regelung oder eines Regelungswerks, denn aus der historischen Sichtweise lässt sich auf die Regelungsabsicht des Regelungsgebers und auf seine Wertentscheidungen schließen.12 Die hierzu erforderliche Darstellung der historischen Entwicklung und die damit ermöglichte historische Auslegung verdeutlichen Motive und Anreize zum Erlass der jeweiligen Regelungswerke und erlauben die Deutung des Gesetzeszweckes vor dem gesamten historischen Hintergrund. Der hierdurch zu ermittelnde gesetzgeberische Wille umfasst die Grundabsicht und die verschiedenen Vorstellungen, die (teilweise widerspruchslos) in Ausschüssen etc. ausgedrückt wurden,13 wofür insbesondere auch die Auswertung der Gesetzesmaterialien, inklusive verworfener Vorschläge und Entwürfe etc., erforderlich ist. Die Zwecke sowohl des deutschen ArbZG als auch der europäischen ←31 | 32→ArbZRL, die sich auf Grundlage der historischen Erwägungen und mithilfe der historischen Auslegung begründen lassen, sind für die Auslegung des nationalen Rechts, auch und gerade bei der richtlinienkonformen Auslegung, maßgeblich. Zunächst soll es also um die – vor der Geschichte der Europäischen Union ansetzende – Entwicklung des deutschen Arbeitszeitrechts gehen (I.), bevor die Historie der Richtlinie nachgezeichnet wird (II.). Schließlich werden auf dieser Grundlage die Zwecke von ArbZG und ArbZRL (III.) untersucht.

I. Der Weg zum deutschen ArbZG

Das deutsche Arbeitszeitrecht ist seit Einführung der RL 93/104/EG u.a. abhängig vom Europarecht. Aber auch die vorangegangenen Schritte in der deutschen Geschichte der Arbeitszeit – beginnend vor der Weimarer Zeit bis zur Nachkriegszeit – sollen hier nachgezeichnet werden. Zielführend ist es hier, um mit der historischen Auslegung den Willen des Gesetzgebers zu ergründen, die Entwicklung des Arbeitszeitrechts in Deutschland nachzuerzählen, indem der Blick zunächst auf die Zeit vor der Weimarer Republik, also vor 1918, fällt, um insbesondere die mit der Industrialisierung auftretenden, ersten arbeitszeitrechtlichen Reglungen von 1839 aufzugreifen (1.) – diese verdeutlichen die ersten Anreize und Motive zur Einführung von Regelungen zum Arbeitsschutz. Zur Zeit der Weimarer Republik folgten hierauf erhebliche Änderungen des Arbeitszeitrechts (2.). Vor der Darstellung der für heute besonders maßgeblichen, europarechtlichen Einflüsse gilt es, die arbeitszeitrechtlichen Regelungen der Zeit des Nationalsozialismus (3.) und der Nachkriegszeit (4.) in den Blick zu nehmen, da arbeitszeitrechtliche Regelungswerke aus dieser Zeit noch bis 1994 Bestand hatten.

1. Das deutsche Arbeitszeitrecht vor der Weimarer Republik

Ihre Anfänge findet die Geschichte des deutschen, kodifizierten Arbeitszeitrechts mit der ersten erkennbaren arbeitszeitrechtlichen Regelung in dem „preußischen Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ von 1839 (im Weiteren: Regulativ).14 Im Zuge der Industrialisierung nahm auch Kinderarbeit zu – neben der Geeignetheit von Kindern für bestimmte Tätigkeiten, ←32 | 33→die sich auf die geringe Körpergröße und Zierlichkeit der Glieder zurückführen lässt, wurden pädagogische Argumente geführt, vor allem aber brachte die Kinderarbeit den häufig verarmten Familien zusätzliches Einkommen.15 Motiv und Zweck des Regulativs war aber nicht nur, durch die Beschränkung der Kinderarbeit den Jugendschutz sicherzustellen; vielmehr standen auch militärische Überlegungen dahinter, denn man befürchtete, die Fabrikarbeit könne die Tauglichkeit zum späteren Wehrdienst einschränken.16 Durch verschiedene Stimmen und Anträge17 schließlich überzeugt, verabschiedete das preußische Staatsministerium das Regulativ am 9. März 1839. Hierin fanden sich insbesondere ein Verbot der regelmäßigen Kinderarbeit für Kinder unter neun Jahren in Fabriken oder Bergwerken etc., Regelungen zur Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit sowie eine Höchstarbeitszeit von zehn Stunden und Ruhezeiten.18

Andere Länder folgten dem preußischen Beispiel – so Bayern und Baden im Jahre 1840 und Sachsen 1861 –, tatsächliche Wirksamkeit hinsichtlich der Einschränkung von Kinderarbeit hatten die Regelungen aber nicht.19 1853 wurde das preußische Regulativ daher angepasst: Es wurden verschiedene Verbesserungen der Schutzbestimmungen eingeführt, insbesondere wurde eine Aufsichtsbehörde eingerichtet.20 Aber auch nach diesen Änderungen und der Anstellung von Fabrikinspektoren (in gerade einmal drei Bezirken) blieb die Wirkung des Gesetzes gering.21

Die Regelungen Preußens wurden 1869 in die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes übernommen, die schließlich 1871 zur Reichsgewerbeordnung ←33 | 34→wurde.22 Weitere relevante Änderungen gab es 1878, z.B. mit der Einführung der zwingenden Gewerbeaufsicht und Schutz für Arbeiterinnen,23 und insbesondere 1891 mit dem Arbeiterschutzgesetz, das die Schutzbestimmungen ausweitete.24 Während männliche Arbeiter keinen besonderen Schutz erhielten – für sie griff nun lediglich das generelle Verbot der Sonntagsarbeit in der GewO –, galt für Fabrikarbeiterinnen eine Höchstarbeitszeit von zehn Stunden täglich.25 Im Übrigen erfolgten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wenige schwerwiegende neue Regelungen. Zu nennen ist an dieser Stelle lediglich das den Jugendschutz stärkende Kinderschutzgesetz von 1903 (mit nachfolgenden Änderungen in den Jahren 1908 und 1911, durch die es im Anwendungsbereich erweitert wurde), das u.a. die Beschäftigung fremder Kinder unter 12 Jahren in gewerblichen Betrieben untersagte.26

Während des Ersten Weltkrieges waren durch ihn bedingte Rückschritte im Arbeitsschutz zu verzeichnen. So wurde 1914 bspw. dem Reichskanzler die Möglichkeit eingeräumt, von verschiedenen Arbeitsschutzbestimmungen Ausnahmen zu gewähren, und die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit stieg auf 12 bis 16 Stunden an.27

2. Grundlegende Änderungen in der Weimarer Zeit

Im November 1918 endete der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik wurde ausgerufen. Das Arbeitszeitrecht erfuhr in der Weimarer Zeit bedeutende Änderungen, für die die Heimkehr der Soldaten aus dem Krieg den ersten Anreiz setzte. Aber auch und vor allen Dingen politische Gründe spielten bei Erlass arbeitszeitrechtlicher Regelungen immer wieder eine Rolle. So ist auch der Arbeitstag mit acht Stunden keine Entwicklung des jüngeren Arbeits(zeit)rechts, denn bereits mit den Demobilmachungsverordnungen von 1918 und ←34 | 35→1919 wurde der verbindliche Achtstundentag bei einer Sechstagewoche (die Weimarer Reichsverfassung (WRV) schützte mit Art. 139 die Sonn- und Feiertage) für alle gewerblichen Arbeiter und für Angestellte eingeführt.28 Zweck dieser Verordnungen war die Unterbringung der heimkehrenden Soldaten.29 Es sollten Arbeitsplätze geschaffen und gesichert werden und durch die gesenkte Höchstarbeitszeit wurde auch der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung nach den Kriegsjahren Rechnung getragen – vordergründig waren die Verordnungen und damit auch die Einführung des Achtstundentages aber wohl politisch motiviert, gerichtet auf die Durchsetzung des Achtstundentages als „alte“ politische Forderung.30

Es dauert bis 1923 und bedurfte einiger Streits über den Achtstundentag, bevor weitere Regelungen zur Arbeitszeit eingeführt werden konnten.31 Auf Grundlage des Ermächtigungsgesetzes vom 8. Dezember 1923, das es der Reichsregierung erlaubte, ohne den Reichstag bis zum 15. Februar 1924 „Maßnahmen zu treffen, die sie im Hinblick auf die Not von Volk und Reich für erforderlich und dringend erachtet“ (§ 1 Abs. 1),32 wurde am 21. Dezember 1923 die Arbeitszeitverordnung (AZVO) erlassen.33 Diese bedeutete allerdings eine Verschlechterung des Arbeitnehmerschutzes:34 Der Achtstundentag bestand hiermit zwar im Grundsatz weiterhin, s. § 1 Abs. 1 S. 2 AZVO, nun waren allerdings viele Ausnahmen hiervon möglich sowie auch Abweichungen durch Tarifverträge, vgl. z.B. §§ 4, 5 AZVO. Darüber hinaus ergingen von 1924 bis 1927 immer wieder Verordnungen, die für verschiedene Bereiche wie Krankenpflegeanstalten statt des Achtstundentages einen Zehnstundentag erlaubten und die noch bis zur Einführung des heutigen Arbeitszeitgesetztes im Jahre 1994 Geltung behielten.35

Gegen die steigende Arbeitslosigkeit wurde 1927 das Arbeitszeitnotgesetz (AZNG) erlassen.36 Wesentlich an den Neuregelungen war, dass freiwillige ←35 | 36→Mehrarbeit nicht mehr geduldet und jede Mehrarbeitsstunde mit einem Zuschlag von 25 % verteuert wurde, um Mehrarbeit unattraktiv zu machen und so eine Verteilung der anstehenden Arbeit auf mehr Personen zu erreichen.37 Gleichzeitig wurden aber weitere Ausnahmen vom Achtstundentag vorgesehen, vgl. §§ 9, 10 AZNG. Sein Ziel erreichte das AZNG letztlich nicht, was auch in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 begründet war.38 Ursprünglich war das Gesetz lediglich als Übergangsreglement geplant, doch der nachfolgende Entwurf eines Arbeitsschutzgesetzes, das auch Regelungen zur täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeit enthalten sollte, wurde nicht mehr verabschiedet.39

3. Die Zeit des Nationalsozialismus

Während der NS-Zeit erging u.a. 1934 eine Neufassung der AZVO, die verschiedene bestehende Arbeitszeitvorschriften zusammenfasste.40 Kennzeichnend war allerdings das Entfallen der demokratischen Elemente des Arbeitsrechts.41 Darüber hinaus ergingen weitere Gesetze zur Regelung von Arbeitszeit für verschiedene Tätigkeitsbereiche (z.B. zum Nachtback- oder zum Beschäftigungsverbot für Sonn- und Feiertage) und 1938 Regelungen zum Jugendschutz.42

Es folgte im selben Jahr die Arbeitszeitordnung (AZO),43 die wie das Jugendschutzgesetz bis 1994 galt.44 Die AZO enthielt Regelungen zur Arbeitszeit im Allgemeinen (§§ 1–15 AZO), wobei in § 4 AZO insbesondere der Achtstundentag nochmal festgeschrieben wurde. Sie ordnete darüber hinaus einen erhöhten Schutz für Frauen an (§§ 16–21 AZO) und legte den werktäglichen Ladenschluss ←36 | 37→fest (§§ 22 f. AZO). Wesentliche Neuerungen des Arbeitszeitrechts brachte sie damit allerdings nicht.45

Während des Zweiten Weltkriegs wurden diese Schutzvorschriften kriegsbedingt in weiten Teilen wieder außer Kraft gesetzt.46 So wurde die AZO am 1. September 1939, soweit sie für Männer galt, aufgehoben, für Frauen und Jugendliche wurde aufgrund einer Ermächtigung des Reichsarbeitsministers einige Tage später, am 11. September 1939, die 56-Stunden-Woche eingeführt.47 Trotz kurzzeitiger Zurücknahme dieser Maßnahmen wurde der Arbeitsschutz im Großen und Ganzen während der Kriegszeit weiter ausgehöhlt.48

4. Nachkriegszeit

Die Entwicklung des Arbeitszeitrechts spaltete sich mit Deutschland in der Nachkriegszeit. Maßgeblich für das heutige Arbeitszeitrechts sind, abgesehen von den europarechtlichen Vorgaben, vornehmlich die Entwicklungen in der Bundesrepublik; aber auch ein Nachzeichnen des Arbeitszeitrechts der DDR soll der Vollständigkeit halber nicht ausbleiben.

a) Das Arbeitszeitrecht der Bundesrepublik Deutschland

Nach dem Zweiten Weltkrieg galt aufgrund der Außerkraftsetzung der kriegsbedingten Sonderregelungen durch die Besatzungsmächte die AZO wieder in ihrer ursprünglichen Fassung.49 Als weitere Regelwerke im Arbeitszeitrecht traten auch die Landesverfassungen der Bundesländer auf, die größtenteils die Sonntagsruhe (z.B. Art. 3 LVerf BaWü, Art. 147 LVerf Bayern und Art. 25 LVerf NRW) und teilweise auch den Achtstundentag (z.B. Art. 55 Abs. 2 LVerf Bremen, Art. 31 S. 1 LVerf Hessen und Art. 57 Abs. 1 LVerf RhPf) ausdrücklich vorschrieben bzw. immer noch vorschreiben.50

←37 | 38→

Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 wurde die AZO zunächst über Art. 125 GG zum Bundesgesetz,51 der Bundesgesetzgeber selbst erließ 1974 hierzugehörige Strafvorschriften neu.52 Auch die Sonn- und Feiertagsruhe gem. Art. 139 WRV wurde über Art. 140 GG Teil des deutschen Grundgesetzes.

Die AZO selbst jedenfalls unterlag zunächst nur geringen Änderungen.53 In den weiteren Jahren wurden verschiedene Anläufe und Entwürfe zu ihrer Ablösung vorgenommen, zunächst jedoch ohne Erfolg.54 So wurde gerade von den Gewerkschaften eine generelle Kürzung der Arbeitszeit verlangt, wobei schon 1956 die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Fokus der Forderungen stand55 – dies stellt auch heute, über 60 Jahre später, immer wieder einen zentralen Punkt arbeitszeitrechtlicher Reformerwägungen dar.56 Im Ergebnis dauerte es schließlich noch bis 1994, bevor es zu einer Neuregelung des Arbeitszeitrechts kam.

b) Das Arbeitszeitrecht der DDR

Zunächst galt in der DDR ab 1945 ebenfalls der Achtstundentag.57 1950 wurde das Gesetzbuch der Arbeit u.a. auch mit Regelungen über die Arbeitszeit, die aber lediglich allgemeiner Natur waren,58 erlassen. So gab es eine generelle Festlegung der Arbeitszeit selbst noch nicht; diese folgte erst 1965 mittels Ausdehnung der seit 1957 für bestimmte Teile der Industrie geltenden 45-Stunden-Woche auf alle Arbeitnehmer.59

Mit dem Arbeitsgesetzbuch (ArbGB) wurden 1978 dann umfassende Regelungen der Arbeitszeit eingeführt.60 Vorgesehen war vorerst ein schrittweiser ←38 | 39→Übergang zur 40-Stunden-Arbeitswoche bei einer 5-Tage-Woche, § 160 Abs. 1 ArbGB. Für die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit galt § 160 Abs. 2 ArbGB:

„Die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit wird entsprechend dem Entwicklungstempo der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität durch den Ministerrat in Übereinstimmung mit dem Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes in Rechtsvorschriften festgelegt.“

Im Übrigen wurden die Verteilung der Arbeitszeit (§§ 163–167 ArbGB), z.B. Pausen, die Sonn- und Feiertagsarbeit (§§ 168–171 ArbGB), Überstunden (§§ 172–180 ArbGB) sowie die Freistellung von der Arbeit (§§ 181–188 ArbGB) geregelt.

Nach dem Mauerfall war von Juni bis zum 3. Oktober 1990 vorwiegend aufgrund von Tarifverträgen die 40-Stunden-Woche die Regel, bis das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht übernommen wurde, sodass auch im Gebiet der früheren DDR die AZO bis 1994 Geltung erlangte.61

5. Das deutsche ArbZG

Schließlich kam es im Jahr 1994 zu Entwürfen der SPD-Fraktion sowie der Bundesregierung zum ArbZG bzw. Arbeitszeitrechtsgesetz (ArbZRG).62 Unter Annahme der Änderungsempfehlungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung wurde der Entwurf der Bundesregierung umgesetzt und am 6. Juni 1994 das ArbZRG erlassen, das in seinem Art. 1 das ArbZG enthielt.63 Es ist gem. Art. 21 ArbZRG am 1. Juli 1994 in Kraft getreten.

a) Gründe für die Neuregelung

Die Gründe, warum es zu der Neuregelung des Arbeitszeitrechts kam, sind vielfältig:64 Zunächst war mit der Wende eine Vereinheitlichung des Rechts erforderlich geworden, was sich auch in Art. 30 Abs. 1 Nr. 1 des Einigungsvertrags vom 31. August 1990, der dem gesamtdeutschen Gesetzgeber u.a. die ←39 | 40→Aufgabe zuschrieb, das öffentlich-rechtliche Arbeitszeitrecht neu zu kodifizieren, widerspiegelt.65

Darüber hinaus wies die bis dato geltende AZO Mängel auf. Neben der verwendeten NS-Terminologie sowie bürokratischen Aushangs-, Aufzeichnungs- und Antragspflichten66 bedurfte insbesondere das in § 19 AZO vorgeschriebene Nachtarbeitsverbot, das nur für Frauen galt, einer Änderung.67 Denn dieses wurde durch den EuGH mangels eines entsprechenden Verbots für Männer als unvereinbar mit Art. 5 der Richtlinie 76/207/EWG vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung zur Berufsausbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen bewertet.68 Das BVerfG, das zuvor noch von der Verfassungsmäßigkeit der Regelung ausgegangen war,69 entschied danach unter Aufgabe seiner vorangegangenen Rechtsprechung, dass mit dem selektiven Verbot ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1, 3 GG gegeben sei.70 Es konstatierte demnach eine Pflicht des Gesetzgebers zur Neuregelung des Schutzes der Arbeitnehmer vor den schädlichen Folgen der Nachtarbeit.71

Zusätzlich wuchs mit der stärker werdenden Europäischen Union auch ihr Einfluss auf die Verbesserung des Arbeitnehmerschutzes, vgl. z.B. Art. 153 AEUV (ex-Art. 137 EGV). So wurde auf sekundärrechtlicher Ebene am 23. November 1993 die RL 93/104/EG des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung erlassen, die das deutsche Arbeitszeitrecht – neben anderen Richtlinien zur Arbeitszeitgestaltung für bestimmte Berufsgruppen72 – beeinflusste.73

←40 | 41→
b) Änderungen des ArbZG in der Folgezeit

In der folgenden Legislaturperiode von 1994 bis 1998 wurden im Arbeitszeitrecht insbesondere Änderungen hinsichtlich der Arbeit in Bäckereien und Konditoreien vorgenommen (die betroffenen Arbeitnehmer fallen nun nach Aufhebung des § 18 Abs. 4 ArbZG a.F. unter das ArbZG); eine weitere Anpassung erfuhr das Gesetz dann 2000 noch aufgrund der Einführung des Euro.74

Für gravierendere Veränderungen im Jahr 2004 ist vor allem das Europarecht respektive die Rechtsprechung des EuGH verantwortlich.75 So fielen in den Jahren 2000, 2003 und 2004 (und schließlich noch 2005) Entscheidungen des EuGH hinsichtlich der Einordnung von Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit, zunächst in Bezug auf das spanische, schließlich aber auch zum deutschen Arbeitszeitrecht.76 In Deutschland wurde zu diesem Zeitpunkt nur Arbeitsbereitschaft als Arbeitszeit eingeordnet, nicht aber Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft (bis auf die tatsächlich gearbeiteten Stunden); der bis dahin nur diskutierte Richtlinienverstoß hinsichtlich dieser Einordnung des Bereitschaftsdienstes wurde durch den EuGH festgestellt und bemängelt.77 In der Folge wurde das ArbZG mit Wirkung zum 1. Januar 2004 mit Art. 4b des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt78 geändert, sodass – neben weiteren geringfügigeren Änderungen – der Bereitschaftsdienst nun auch nach nationalem Recht als Arbeitszeit gilt.79

Details

Seiten
450
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631898956
ISBN (ePUB)
9783631898963
ISBN (Hardcover)
9783631898345
DOI
10.3726/b20673
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (März)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 450 S.

Biographische Angaben

Charlotte Schippers (Autor:in)

Charlotte Schippers studierte Rechtswissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Sie arbeitete als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn, Lehrstuhl von Prof. Dr. Gregor Thüsing LL.M. (Harvard), wo auch ihre Promotion erfolgte.

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Titel: Europarechtliche Freiräume der Arbeitszeitgestaltung
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