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Henri de Rohan (1579-1638) und die internationalen Beziehungen in Europa

von Timo Andreas Lehnert (Autor:in)
©2023 Dissertation 378 Seiten

Zusammenfassung

Henri de Rohan (1579-1638) war eine facettenreiche Persönlichkeit: Militärführer und Publizist. Hochadliger und Hugenotte. Loyal und oppositionell. Er stiftete Unruhen in Frankreich und ging später in Richelieus Auftrag gegen die „Spanish Road“ im Veltlin vor. Sein Traktat De l’intérêt des princes et des Etats de la chrétienté wurde für den Interessen-Diskurs wegweisend. Erstmals geht eine geschichtswissenschaftliche Studie zahlreichen Veröffentlichungen und Briefen Rohans systematisch nach. Sie arbeitet sein Denken und Handeln quellenbasiert heraus und ordnet es in all seiner Widersprüchlichkeit in den Zusammenhang des Dreißigjährigen Krieges ein. Die Wechselwirkungen von Konfessionalisierung und Staatsbildung spielen dabei die entscheidende Rolle.

Inhaltsverzeichnis

  • Cubierta
  • Título
  • Copyright
  • Sobre el autor
  • Sobre el libro
  • Esta edición en formato eBook puede ser citada
  • 1 Danksagung
  • 2 Einleitung
  • 2.1 Hinführung
  • 2.2 Forschungslage, Quellen und Erkenntnisinteresse
  • 2.2.1 Leitgedanken zur Forschungslage
  • 2.2.2 Forschungsfelder
  • 2.2.3 Quellenlage
  • 2.3 Biografische Skizze
  • 3 Wer führt Krieg?
  • 3.1 Akteure
  • 3.1.1 Lob der Disziplin und bellizistischer Tugendkatalog
  • 3.1.2 Das Vorbild wird zum Heiligtum: Heinrich IV.
  • 3.1.3 „Entre les bras de Rome et d’Espagne“: Marie de’ Medici
  • 3.1.4 Kind und König: Ludwig XIII.
  • 3.1.5 Politische Reziprozität. Rohan und Armand du Plessis de Richelieu
  • 3.1.6 Das europäische Machtgefüge: Elisabeth I., Wilhelm I. von Oranien-Nassau und Moritz von Oranien
  • 3.1.7 Kampf gegen Mangel und Intrigen: Rohan und Jörg Jenatsch
  • 3.2 Gemeinschaften und Netzwerke
  • 3.2.1 Wann ist der Staat ein Staat?
  • 3.2.2 Die Versammlungen und Synoden der Hugenotten – „Staaten im Staate“?
  • 3.2.3 Der „Friedhof der Eliten“: der Adel und seine Einflussnahme in Kriegs- und Friedenszeiten
  • 3.3 Zwischenfazit
  • 4 Weshalb wird Krieg geführt?
  • 4.1 Die hugenottische factio und ihr Autonomiebestreben
  • 4.2 Der Aggressor: Spanien und die „Monarchia universalis“
  • 4.2.1 Vom Interesse zum Konflikt: der französisch-spanische Gegensatz in Henri de Rohans Traktat „De l’intérêt des princes et des Etats de la chrétienté“
  • 4.2.2 Partes pro toto: der französisch-spanische Gegensatz und seine europäische Entgrenzung
  • 4.3 Das Veltlin zwischen regionaler Begrenzung und europäischer Entgrenzung
  • 4.3.1 Die Vorgeschichte: das Veltlin als Gegenstand europäischer Kriegspolitik
  • 4.3.2 Von außen nach innen: die Drei Bünde und das Veltlin im Zusammenhang der europäischen Kriegsgeschichte
  • 4.3.3 Von innen nach außen: die Bündner Wirren und ihre Folgen
  • 4.4 Vom Staatsinteresse zur Staatsräson: Begriffsgenese und Selbstreferenz
  • 4.5 Krieg und Konfession im Europa des frühen 17. Jahrhunderts
  • 4.5.1 Der Diener zweier Herren: Henri de Rohan und die Begründbarkeit von Kriegen
  • 4.5.2 Staatlichkeit und Kriegsgeschehen als zwei Seiten einer Medaille
  • 4.6 Zwischenfazit
  • 5 Wofür und wogegen wird Krieg geführt?
  • 5.1 Die Destruktion Spaniens
  • 5.1.1 Die Destruktion Spaniens als Fixpunkt französischer Außenpolitik
  • 5.1.2 Von der Vorherrschaft zur kollektiven Sicherheit?
  • 5.2 „Balance of Power“ – Kompromissformel ex negativo oder visionäres Projekt?
  • 5.2.1 Die Idee einer Staatenordnung und ihre Konkretion bei Henri de Rohan
  • 5.2.2 Eine Vision und die Mühsal, sie umzusetzen: Sullys „Grand Dessein“
  • 5.3 Savoyen, das Veltlin und das Gleichgewicht der Kräfte in Oberitalien
  • 5.4 Konfessionskonflikt und Glaubenskrieg
  • 5.5 Bellum omnium contra omnes: die Artikel von Chiavenna und der Bundstag von Thusis
  • 5.6 Zwischenfazit
  • 6 Resümee
  • 7 Anhang
  • 7.1 Archivquellen
  • 7.2 Gedruckte Quellen
  • 7.3 Literatur
  • 8 Register
  • Personenregister
  • Ortsregister
  • Series Index

1 Danksagung

Die vorliegende Monografie geht aus meiner geschichtswissenschaftlichen Dissertation hervor, die im Sommersemester 2021 vom Fachbereich 07 Geschichts- und Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angenommen wurde.1 Für den Druck wurde sie an einigen Stellen gekürzt. Fachwissenschaftliche Beiträge, die seit der Abgabe im September 2020 veröffentlicht wurden, konnten für die Publikation nicht mehr berücksichtigt werden.

Aufrichtigen Dank schulde ich Herrn Prof. Dr. Matthias Schnettger (Mainz) für die umsichtige und verlässliche Erstbetreuung meiner Dissertation. Den bereichernden Gesprächen mit ihm, seinem fachlichen Rat und seinen wohlwollenden Einschätzungen des Arbeitsgangs verdankt die Studie entscheidende Impulse. Ebenso herzlich danke ich Herrn Prof. Dr. Sven Externbrink (Heidelberg), und zwar nicht nur für das Korreferat, sondern auch dafür, dass er mich noch als Studenten auf die unterbelichtete Rolle Henri de Rohans in der Geschichtswissenschaft hinwies. Herrn Prof. Dr. Jan Kusber (Mainz) danke ich für die Übernahme eines weiteren Gutachtens, Frau Prof. Dr. Bettina Braun (Mainz) dafür, dass sie einen Teil der mündlichen Prüfung übernahm. Neben den bereits Genannten danke ich den Mainzer Professoren Dr. Michael Kißener und Dr. Andreas Rödder in ihrer Funktion als Herausgeber dafür, dass die Arbeit in der Reihe „Transformationen – Differenzierungen – Perspektiven“ erscheinen darf. Dies schließt den Dank an das Verlagshaus Peter Lang mit ein.

Die Studienstiftung des deutschen Volkes förderte das Promotionsvorhaben mit einem sehr großzügig bemessenen Stipendium. Hierfür wie für zahlreiche inspirierende Gespräche danke ich stellvertretend meinem Vertrauensdozenten, Herrn Prof. Dr. Robert Kirstein (Tübingen). Einer wunderschönen Sommerakademie der Schweizer Studienstiftung verdanke ich neben bereichernden Begegnungen zahlreiche Einblicke in die diachrone Verfasstheit der Eidgenossenschaft. Als Mitglied des Deutsch-Französischen Doktorandenkollegs in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften Mainz-Dijon profitierte ich von einem vielseitigen interdisziplinären Austausch, wofür ich dem Sprecher des Kollegs, Herrn Prof. Dr. Winfried Eckel (Mainz), herzlich danke. Ein einmonatiges Gaststipendium des Deutschen Historischen Instituts Paris markierte den Beginn einer wundervollen Arbeits- und Lebensphase in Paris. Hierfür wie auch für wertvollen fachlichen Rat danke ich seinem Direktor, Herrn Prof. Dr. Thomas Maissen. Nicht zuletzt ermöglichte mir ein sog. Corona-Mini-Abschlussstipendium des Gutenberg Nachwuchskollegs (GNK) der Universität Mainz, die Dissertation trotz bekannter Widrigkeiten mit nur moderater Verspätung einzureichen. Auch hierfür sage ich danke!

Dass ich meine Dissertation auf der Grundlage von Archivalien schreiben konnte, empfinde ich als ein enormes Privileg. Deshalb danke ich allen Mitarbeitenden der von mir aufgesuchten Archive und Bibliotheken für ihre Hilfs- und Gesprächsbereitschaft, was in besonderem Maße für das Centre des Archives diplomatiques de La Courneuve nahe Paris gilt. Über das Staatsarchiv Graubünden (Chur) kam ich in Kontakt mit der Historischen Gesellschaft Graubünden, die mich einlud, meine Forschungen im Rahmen eines Abendvortrags vor einer interessierten Öffentlichkeit zur Diskussion zu stellen. Für die Gastfreundschaft, die mir dort zuteilwurde, danke ich dem Präsidenten der Historischen Gesellschaft Graubünden, Herrn Dr. Florian Hitz.

Viele Freundinnen und Freunde begleiteten mich während der Promotion, wofür allen von Herzen gedankt sei – namentlich Hans-Martin Braunwarth, Dr. Claudia Kühner-Graßmann, Felix Marx, Dr. Joana van de Löcht sowie in besonderer Weise Judith und Georg Hofmann. Ich danke meinem Chorleiter, Stiftskantor KMD Kay Johannsen (Stuttgart), dafür, dass er mich durch seine einzigartige Probenarbeit regelmäßig in andere Sphären eintreten ließ. Und ich danke meiner Familie, insbesondere meinen Großeltern Hans (†) und Ursula Geyer sowie meiner Tante Iris Geyer, für ihre liebevolle Unterstützung und das aufrichtige Interesse, mit dem sie mich auf diesem Weg begleiteten.

Der größte Dank gebührt meiner Mutter, Annette Lehnert, für so vieles, wodurch die Promotion überhaupt erst gelingen konnte: für ihr nachdrückliches Ermuntern, das Projekt in Angriff zu nehmen. Für ihre pragmatische Sicht auf die Dinge, mit der sie mich von einer überhöhten Metaebene auf zielführende Bahnen lenkte. Für die aufwändige Lektüre des gesamten Manuskripts und die zahlreichen wertvollen Hinweise, die daraus hervorgingen. Für ihre Großzügigkeit, ihre Neugierde und ihre große Freude an Erfolgen. Für ihre Liebe, die mich aufbrechen und ankommen ließ, die mir in der Zwischenzeit aufhalf und die mir neuen Mut verlieh. Indem ich ihr dieses Buch widme, trage ich nur einen geringen Teil meiner Dankesschuld ab.

Tübingen, im April 2023

Timo Andreas Lehnert


1 Gemäß der Promotionsordnung als Mainzer Dissertation gekennzeichnet: D77.

2 Einleitung

2.1 Hinführung

Mitten in Paris, in einer Seitenstraße des Boulevard Saint-Germain, befindet sich eine Häuserzeile, in der eine in warmem Blau glänzende, große Holztür auffällt. Sie gewährt Zugang zu einem verwunschen anmutenden Innenhof, der suggeriert, man trete in eine aus dem Trubel des quirligen Arrondissements herausgenommene Dimension von Zeit und Historizität ein. Dieser Eindruck verfestigt sich, sobald man, am anderen Ende des Innenhofs angelangt, eine weitere Türe öffnet, um einen hohen, mehrere Stockwerke einnehmenden Raum zu betreten: Rundumlaufende Galerien mit holzgetäfelten Brüstungen schließen an Bücherregale an, die sich im Dämmerlicht verlieren, und werden von einer Decke aus Milchglas zeltartig überwölbt. Das Wechselspiel der ausladenden Bücherschächte, der nostalgischen Tischlampen und der teils von Manuskripten überquellenden Arbeitstische entfaltet vor dem Auge des Besuchers ein Stimmungsbild erhabener Gelehrsamkeit – immerhin unterhält die im Jahre 1852 gegründete Société de l’Histoire du Protestantisme Français ihre Bibliothek mit angeschlossenem Archiv seit dem 19. Jahrhundert. Inmitten einer Stadt voller Archive und Bibliotheken, die ihrerseits nicht selten in repräsentativen Bauwerken beherbergt sind, gilt sie als ein unprätentiöses Kleinod. Ihre Referenzen auf diverse Leitfiguren des französischen Protestantismus sind offensichtlich: Ausgehend von den im Fond des Saals eingerichteten Arbeitstischen, wird der Blick auf die ovalen Galerien gelenkt, deren Holzplanken in goldenen Lettern angebrachte Namen tragen: Renée de France (1510-1574), Philippe Duplessis-Mornay (1549-1623), Agrippa d’Aubigné (1552-1630), Pierre Bayle (1647-1706), Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) und Andere gelten hier als Repräsentanten reformierter Glaubenslehre und politischen Handelns im Frankreich der Frühen Neuzeit. Der Name des wohl wichtigsten spiritus rector der reformierten Glaubensrichtung, Jean Calvin (1509-1564), ist auf der unteren der beiden Galerien angebracht. Zieht man von seinem Namen eine imaginäre Verbindungslinie zur oberen Galerie, trifft diese auf den Namen eines Mannes, der als Vorkämpfer der Hugenotten in Frankreich und darüber hinaus in Erscheinung trat: Henri de Rohan (1579-1638).

Der Name Henri de Rohan steht für eine Lebensgeschichte, die einem dicht erzählten Roman gleicht. Für ihren Protagonisten von hochadligem Geblüt hält sie nicht nur enge persönliche Bindungen an das Haus Bourbon, sondern auch Schlachtenglück und Schlachtentod, Rebellionen und Befehlsgehorsam, Reiselust und Günstlingswirtschaft bereit. Wie ist eine Person historisch fassbar zu machen, die noch zu Lebzeiten verfügte, in Calvins zentraler Wirkungsstätte, der Genfer Kathedrale St. Pierre, bestattet zu werden – an einem Ort, der seinerzeit noch in ungleich stärkerem Maße als heutzutage mit dem prominentesten Vertreter der reformierten Glaubensrichtung in Verbindung gebracht wurde? Eine Person, deren Beisetzung pompös zelebriert wurde, nachdem der Leichnam in einem mehrtägigen Triumphzug durch diverse Schweizer Orte transportiert worden war?2 Eine Person, die im Exil darüber verhandelte, die Insel Zypern käuflich zu erwerben? Gewiss ist von ihr mehr zu halten, als ein biografischer Abriss zu erfassen vermag, dessen Aufgabe darin liegt, ein Leben narrativ auszukleiden und in eine anschauliche Erzählfolge zu stellen. Solche Lebensbilder existieren und sind teils literarisch gestaltet,3 teils wissenschaftlich fundiert recherchiert und abgefasst worden.4 Eine umfassende Interpretation der zu erwartenden Spezifika im Leben Rohans können sie aber nur teilweise vornehmen. Größeren Gewinn verheißt eine akribische philologische Analyse und Interpretation der Publikationen und Briefe, die Rohan hinterließ; so liegt für seine bekannteste Schrift, den Traktat De l’intérêt des princes et des Etats de la chrétienté, eine Edition nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten vor.5 Die Faszination eines Lebens, das sich zwischen aktivem militärischen Handeln und strategischem Denken, der Beschreibung von Zuständen und der Artikulation von Lösungsvorschlägen in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges vollzog, setzt eine breit aufgestellte Herangehensweise voraus. Neben das Genre der Biografie tritt der Versuch einer wissenschaftlichen Synthese der zentralen Bausteine aus Rohans Werdegang und seiner schriftlich dargelegten Annahmen, Thesen und Postulate: eine Synthese in Gestalt einer geschichtswissenschaftlichen Monografie.

2.2 Forschungslage, Quellen und Erkenntnisinteresse

2.2.1 Leitgedanken zur Forschungslage

Die bisherige Forschung konzentrierte sich bei der Erschließung von Henri de Rohans Denken und Handeln auf Einzelaspekte – abgesehen von dem ausführlichen Kommentar, den Christian Lazzeri zum Traktat De l’intérêt des princes et des Etats de la chrétienté vorgelegt hat. Lazzeri setzt den Text in ein Verhältnis zur Genese des Interessen-Begriffs und sucht ihn ideenhistorisch einzuordnen,6 während das Gros der Forschungen zu Rohan Teil größerer komparatistischer Zusammenhänge und daher knapp gehalten ist.7 Studien zur Geschichte des frühneuzeitlichen Adels in Frankreich nehmen in erster Linie die Familie Rohan über mehrere Generationen in den Blick und behandeln die Vita Henri de Rohans als Teil einer diachronen Familienhistorie.8 Jonathan Dewald erhebt Henri de Rohan in seiner Monografie über das Wirken der Rohan zu einem Fixpunkt, auf den er viele Aspekte seiner Darstellung bezieht.9 Auch bei der Frage nach der Geschichte der Staatsräson10 und der internationalen Beziehungen während des 17. Jahrhunderts wird regelmäßig, freilich in variierender Intensität, auf Rohan Bezug genommen, ebenso im Zusammenhang mit dem Status der Hugenotten und den finalen „Guerres de religion“.11 In der Regel zeichnet sich die vorliegende Forschungsliteratur durch die Konzentration auf den Text De l’intérêt des princes et des Etats de la chrétienté aus, derweil sie die weiteren Schriften Rohans, seine militärtheoretische Abhandlung Le Parfaict Capitaine,12 seine ausführlichen Memoiren oder seine Discours politiques, nur punktuell heranzieht. Unabhängig davon, dass die meisten Schriften Rohans posthum publiziert wurden, sind sie für eine wissenschaftliche Gesamtschau unverzichtbare Arbeitsgrundlage.

Die vorliegende Studie stützt sich auf eine erheblich breitere Basis archivalischer Quellen als bisherige Publikationen, wofür Recherchen in etlichen französischen und Schweizer Archiven erforderlich waren. Diesbezüglich besteht wohl auch die größte Leerstelle in der Rohan-Forschung, denn die nunmehr kompilierten Quellen ermöglichen es, Rohans Werdegang während seiner letzten Lebensjahre genau nachzuverfolgen, was in der bislang vorliegenden Forschungsliteratur nur mit Abstrichen geschah.13 Gerade die von Rohan mit mehreren Adressaten zeitgleich geführten und heute in unterschiedlichen Archiven aufbewahrten Korrespondenzen ergänzen sich minutiös. So hält allein das Archiv des französischen Außenministeriums (Centre des Archives diplomatiques de La Courneuve) für die Jahre 1627 bis 1638 über 100 von Rohan abgefasste Briefe an unterschiedliche Adressaten, darunter der Kardinal und Prinzipalminister Armand Jean du Plessis de Richelieu (1585-1642), bereit, die in die jüngste Edition der Korrespondenz Richelieus keinen Eingang fanden. Entsprechendes gilt für die rund 200 Handschriften im Staatsarchiv Graubünden in Chur, die einen detaillierten Einblick in Rohans militärische Tätigkeit für die Drei Bünde beziehungsweise im Veltlin gestatten. Weitere Briefe Rohans konnten in der Bibliothèque Nationale de France (Paris), dem Archiv der Bibliothèque du protestantisme français (Paris) und dem Archiv der Bibliothèque de Genève eingesehen werden. Hingegen fällt die Zahl der an Rohan gerichteten Korrespondenz mit rund 50 Briefen deutlich geringer aus, zumal einige von ihnen schwer zuzuordnen sind; sie werden, abgesehen von den genannten Häusern, im Staatsarchiv des Kantons Zürich aufbewahrt. Weitere Archivalien, die auf Rohan referenzieren, befinden sich u.a. in den Archives Nationales de France (Paris) und den Archives d’État de Genève.

Henri de Rohan war kein Theoretiker, dessen Ausführungen nahtlos in den Gelehrtendiskurs um Staatswerdung, Staatsvernunft und Staatsräson einzubeziehen sind. Rohan ging es in erster Linie um die Anwendbarkeit und die Praktikabilität der Kriegführung, wobei er Kriege in die europäischen Kontexte einbettete und die daraus resultierenden Analysen in eine umfassende Publizistik überführte. Obgleich eine chronologische Interpretation der Schriften Rohans nahe liegt, folgt die vorliegende Dissertation einer anderen Herangehensweise: Sie setzt sich zum Ziel, die fundamentalen Thesen Henri de Rohans zu bündeln und zu gruppieren, um sie sodann mit dem tatsächlich Geschehenen zu konfrontieren, sprich das Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit zu bewerten. Dieser Vorgehensweise korrespondiert der Umstand, dass sich die Quellenlage für die letzte Dekade von Rohans Leben ungleich besser darstellt als für die Jahre zuvor. In Anbetracht der höchst erfreulichen Dichte an Quellen für die Jahre 1629 bis 1638 wurde bewusst davon Abstand genommen, nach weiteren Archivalien für die Zeit vor dem Edikt von Alès zu suchen, weil dies nicht zuletzt den Umfang der Arbeit unverhältnismäßig ausgeweitet hätte. Umso bedeutungsschwerer ist freilich, den Quellen nicht erst im Ausklang einer chronologisch angelegten Studie Berücksichtigung zuteilwerden zu lassen, sondern sie von Anfang an in den Argumentationsgang einzubeziehen.

Die Themenschwerpunkte, die aus den Schriftzeugnissen Rohans hervorgehen, knüpfen an rezente Forschungsfelder der frühneuzeitlichen Geschichtswissenschaft an und ziehen grundlegende Fragen nach sich: Welcher Zusammenhang bestand zwischen der Formierung, ja der Institutionalisierung von Staaten und den zeitgenössischen Kriegen, und inwieweit verliefen diese Prozesse konvergent?14 Sind Staatsinteresse und Staatsräson – immerhin ein terminus technicus in der politischen Abstraktion Richelieus – zwei Seiten derselben Medaille, und wie lassen sie sich in Gestalt außenpolitischer Ziele konkretisieren?15 Wandelten Staaten, Gesellschaften und Konfessionen auf separaten Pfaden, oder hatten sie die Wegscheide zur Säkularisation von Staat und Gesellschaft zu Rohans Lebzeiten noch gar nicht erreicht?16 Vermittelte die im Italien der Renaissance bereits erprobte, im 19. Jahrhundert verfestigte „Balance of Power“ sich austarierender Mächte um 1630 eine valide Konzeption zwischenstaatlichen Agierens, oder war sie zu Rohans Lebzeiten noch gegenstandslos?17 Welche Rolle spielten die Vertreter der haute noblesse und der Konfessionsparteien in den Jahren nach der Ermordung König Heinrichs IV. (1553-1610),18 und wie stellte sich die Fragilität im Inneren Frankreichs nach außen dar?19 Was hatten scheinbar periphere Regionalkonflikte wie der Mantuanische Erbfolgekrieg oder das Ringen um den Status des Veltlins mit dem großen Ganzen des Dreißigjährigen Kriegs zu tun?20 Und nicht zuletzt: Wie wirkte sich der demonstrative Heroismus eines zentralen Akteurs auf das Kriegsgeschehen aus? Wie stark war der Einfluss eines Akteurs auf den Bellizismus seiner Zeit – eines Akteurs, der sowohl in staatlichen als auch nicht-staatlichen Zusammenhängen stand?21 Die rezenten Publikationen zur Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs bündeln ähnliche Fragen zu größeren Themenkomplexen und gewähren eine weit gefasste, vielschichtige Diskussionsgrundlage. Sie erörtern, ob sich der Dreißigjährige Krieg als ein „teutscher Krieg“ mit wachsenden europäischen Konnexen vollzog22 oder ob er eine auf Alteuropa bezogene Konfliktakkumulation war.23 Sie positionieren sich in der kontrovers geführten Debatte über den religiösen Gehalt des Dreißigjährigen Krieges: von der traditionellen Annahme eines aus konfessioneller Radikalität motivierten Konflikts24 über die nivellierende Position eines sich im Kriegsverlauf abschwächenden, aber dennoch kriegstreibenden konfessionellen Faktors25 bis hin zu einer weitgehenden Negierung der Konfessionalisierung als Kriegsursache. Hinzu tritt die Relativierung konfessioneller Semantiken26 in Abweichung von der konzeptionellen Leitidee einer politica christiana mitsamt ihrem sprachlichen Widerhall.27 Und sie fragen unter Einnahme eines interdisziplinären Blickwinkels, ob die Westfälischen Friedensschlüsse ein Meilenstein auf dem Weg zu einer Staatenvereinigung in Europa waren und wie man in diesem Falle den Verlauf des Dreißigjährigen Krieges zu bewerten hätte.28 Mit dem in den Jahren 1999 bis 2008 an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen eingerichteten Sonderforschungsbereich 437 „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ wurde gerade das Zusammenspiel von Bellizismus und Religiosität über eine Zeitspanne von fünf Jahrhunderten erarbeitet und in Bewertungen überführt, die für weitere Forschungen anschlussfähig sind.29

Das Vorhaben, Henri de Rohan aus dem einen oder anderen monothematischen Korsett zu befreien, geht Hand in Hand mit dem Versuch, ihn als wirkmächtigen Akteur in den Kontext eines vielschichtigen und infiniten Kriegsgeschehens in Europa zu stellen. Ziel der Dissertation kann weder eine neuerliche Nacherzählung des rastlosen Lebens von Henri de Rohan noch eine exakte Erschließung und Kommentierung seiner weiteren Werke sein (was langfristig jedoch ein lohnenswertes Arbeitsvorhaben darstellt). Henri de Rohan als hochadligen Parteigänger des französischen Königshofs und politischen Kooperationspartner Richelieus,30 als einen brillanten Analytiker und pointierten Stilisten, als einen passionierten Krieger und bekennenden Calvinisten fassbar zu machen, kann immer nur einen Teilaspekt dieser Arbeit darstellen. Deshalb wird übergeordnet danach zu fragen sein, welchem Zweck die Schriften Rohans dienten, welche Öffentlichkeitswirkung er mit seinen teils programmatischen Analysen, teils impertinenten Invektiven zu erreichen suchte. Waren Rohans Schriften staatstragende Programmschriften? Mutierten sie zu Zustandsbeschreibungen oder gar zu misogynen Abgesängen auf den Zustand der Welt? Wie konstruktiv stellten sich Rohans Meinungsbilder dar, und welchen Beitrag leisteten sie zum Kriegsgeschehen seiner Zeit? Nicht zuletzt muss darüber nachgedacht werden, inwiefern Rohans Texten wie auch seinen zahlreichen Briefen überhaupt der Charakter individualisierter Schriftzeugnisse zugebilligt werden kann. Trat die Person Henri de Rohan am Ende hinter den Publizisten zurück, und vermag eine entsprechende Trennlinie überhaupt etwas zum besseren Verständnis beizutragen? Immerhin sind die vorliegenden Archivalien ausschließlich Teil einer (semi-)offiziellen Korrespondenz und gewähren keinen Einblick in Befindlichkeiten und umfassende Selbstreflexionen.

Nein, Zielrichtung der Dissertation kann weder eine psychologisierende Lesart noch ein sich verengender Blick auf die eine oder andere Prägung Henri de Rohans sein. Dennoch tut die vorliegende Studie gut daran, wenn sie sich beim Blick in die Quellen der Standortgebundenheit Rohans wie auch der konkret angestrebten und in Textform geäußerten Absicht bewusst wird. Ein hedonistischer Schlachtenbummler war Rohan ebenso wenig wie ein adliger Possenspieler oder ein Vorkämpfer einer Säkularisation mit anpassungsfähigem Wertekompass.31 Gottesfurcht und Standesbewusstsein, Rebellion und Obrigkeitsgehorsam, Theorie und Praxis: Henri de Rohans Leben ist von Chiasmen gekennzeichnet, die zu bestimmen gerade wegen der vorderhand eindeutigen Lesart seiner Texte kein einfaches Unterfangen darstellt. Da ein chronologisches Abarbeiten der Texte wenig erfolgversprechend zu sein scheint, wird sich der Interpretationsgang im Folgenden auf eine unorthodoxe Weise vollziehen: Anhand von Interrogativpronomen (Wer? Weshalb? Wofür? Wogegen?) werden unterschiedliche Blickrichtungen auf Rohans Verständnis von Bellizität, seine Argumentationsweisen und Interaktionen eingenommen. Krieg steigt zum Konstituens für die Biografie eines Hugenotten im frühen 17. Jahrhundert auf. Es gilt daher, Rohan ergebnisoffen zu befragen, Widersprüche zu projizieren, der Disparatheit der Meinungen Rechnung zu tragen und Sinnzusammenhänge zu stiften, in denen sich ein herausragendes Lebensbild der Frühen Neuzeit – zumindest partiell – wiederfinden kann.

2.2.2 Forschungsfelder

Eine Studie, die ihre Argumentation zu beträchtlichen Teilen an bislang nicht erschlossenen Quellen ausrichtet, steht vor der Frage, ob sie das vorliegende Material in bereits vorgefertigte Kategorien einpasst oder, gänzlich losgelöst, versucht, die einzelnen Quellen in ihrer Eigenständigkeit zu würdigen, sie sekundär mit anderen Quellentexten zu vergleichen und erst in einem dritten Schritt auf bereits existente, übergeordnete Forschungsvorhaben zu beziehen. Beide Wege sind bei einem praxeologischen Verständnis von Hermeneutik und Textimmanenz nicht ohne Weiteres gangbar, so dass sich ein pragmatischer Weg des Interpretierens und Bewertens anbietet. Nimmt man Briefkorrespondenzen als dasjenige, was sie sind – anlassbezogene Schreiben, die in einem konkreten Kommunikationszusammenhang etwas zu erreichen suchen –, ist eine Interpretation des Textes gleichsam eine Einordnung in einen Zusammenhang, gehen Textbezogenheit und die Herstellung von Bezügen Hand in Hand. Die Absicht der Dissertation besteht darin, Rohans Meinung zu Krieg und Frieden nicht nur quellenbasiert zu erschließen, sondern sie auch mit latenten Forschungspositionen abzugleichen, ja sogar auf diese einzuwirken. Aus diesem Grunde führt die Studie zwei Forschungsfelder zusammen, deren Konnex in den letzten Jahrzehnten mit unterschiedlicher Intensität wahrgenommen wurde. Fragen von Krieg und Frieden in der Vormoderne erhalten durch die Praxisbezogenheit Rohans, die Rekonstruktion von Kommunikationssituationen und relevanten Fallbeispielen eine Konkretion, mittels derer verallgemeinernde Schlussfolgerungen gezogen werden können. Gleichzeitig ist mit der fallbezogenen Nachbereitung einer Korrespondenz nur wenig gewonnen, wenn sie nicht in dem Ausmaß, das vertretbar und für das übergeordnete Verständnis erforderlich ist, Bezug auf weitere schriftliche Äußerungen Rohans nimmt. Vor diesem Hintergrund mögen sich Archivalien und Publikationen gegenseitig ergänzen und auch die Hauptschriften des „Huguenot Warrior“ eine stärker kriegspraktische Konnotation erhalten, als es in bisherigen Bewertungen der Fall war.

Wer in einer wissenschaftlichen Studie Fragen von Krieg und Konfession vertiefend bearbeitet, muss Schwerpunkte setzen, sprich unterschiedlichen Autoren und Forschungsmeinungen folgen. Dass mit der vorliegenden Dissertation das besonders weit ausgreifende Forschungsfeld der „Konfessionalisierung“ fokussiert wird, nachdem der Einfluss der Konfessionen auf Rohan in Frage gestellt wurde,32 liegt allein deshalb auf der Hand, weil einer seiner Exponenten, Heinz Schilling, in der Vergangenheit immer wieder die Alltagstauglichkeit des Calvinismus beschrieb und anhand von Fallstudien um innovative Erkenntnisse bereicherte.33 Die gemeinsam mit Wolfgang Reinhard erarbeitete Prozesshaftigkeit von Konfessionalisierung, die sich insbesondere auf die Genese vormoderner Staats- und Gesellschaftsordnungen bezieht, findet ihre Entsprechung in demjenigen, was Burkhardt als vormoderne Bellizität verstanden wissen wollte.34 So umstritten dieses Konzept bis heute sein mag, so sehr erkennt der Verfasser der vorliegenden Studie den Nutzen, den es für eine paradigmatische Analyse vormoderner Kriegs- und Friedensordnungen nach sich zieht. Die Reziprozität von Staat und Krieg, von Heer und Gesellschaft kann bei einer offengehaltenen Lesart für den hier vorliegenden Gegenstand Früchte tragen. Dass „Staat und Politik als Analysekategorien [..] historischem Wandel unterworfen“ sind,35 hat eine diachrone Tragweite und gilt auch für das Europa des Dreißigjährigen Krieges. Der Strukturbedingtheit von Krieg in dieser Zeit wird derjenige, der die Quellen Rohans und seiner Zeitgenossen bearbeitet, zumindest in Teilen zustimmen müssen, weswegen die Dissertation sich in einem produktiven Sinne auf diese Forschungsmeinung bezieht.

Kriege zwischen Staaten erfuhren in der Moderne eine „Intensität, die vordem unvorstellbar gewesen war“.36 Fragen von Hegemonie und Staatenordnung sind entscheidend, müssen im Falle Rohans aber ganzheitlich gedacht werden. „Der Staat emanzipiert sich von den gesellschaftlichen und religiösen Parteien und streift die Fesseln ab, die ihn an sie binden.“37 So sachlogisch diese These auch begründet sein mag, sie wirkt beim Blick auf Henri de Rohan retrospektiv. Es genügt nicht, die Konfessionalisierungsthese als Antagonisten zur Entstehung moderner Staaten, zur Intensität der Kriegführung und zur Anordnung politischer Entitäten in Europa aufzufassen. Henri de Rohans Haltung zu Gleichgewicht und Staatsinteresse, die für ihn zentrale Triebfedern darstellen, sollen im Folgenden nicht gegenläufig zu den Erkenntnissen der Konfessionalisierungsforschung, sondern im Wirkverbund mit ihnen gedacht werden. Die Frage nach der „Balance of Power“, die Henri de Rohan als Publizist und Kriegspraktiker hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit in entscheidendem Maße voranbrachte, in einem rein säkularen Verständnis von Bündnisschlüssen und Kooperationen zu denken, greift zu kurz. Rohan war kein absichtsvoller Wegbereiter eines modernen etatistischen Verständnisses, sondern agierte im Rahmen einer vormodernen Staats- und Gesellschaftsordnung während einer kriegerischen Zeit.

Vor diesem Hintergrund schließen die Termini „Interesse“ und „Staatsräson“ ein Staatsverständnis mit ein, auf das von Rohans Warte Bezug genommen werden muss, anstatt es den vorliegenden Quellen zu oktroyieren. Christian Lazzeri schlägt eine Interpretationsrichtung vor, die den Interessenbegriff Rohans bereits mit einem festgefügten Verständnis von Normativität und Institutionalität kombiniert.38 Dem liegt eine Staatsauffassung zu Grunde, welche den Staat zum Eigenwert erhebt. Die Debatte über die Selbstwerdung von Staaten ist eine, die aus unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Richtungen herrührt und dabei mit variierenden Schwerpunkten versehen wurde. Die in der Rechts- und Staatswissenschaft gepflegte These von Ernst-Wilhelm Böckenförde, die eine frühzeitige Emanzipation des Staats- und Rechtsverständnisses proklamiert, steht Fragen der konfessionellen Bedingtheit von Herrschaft und Gesellschaft entgegen.39 Lazzeri erhebt das Interesse eines Staates zur Staatsvernunft und macht dies an den Thesen Rohans fest: Man werde, so Lazzeri, bei Rohan keinerlei Anklänge an ein Naturrecht oder ein göttliches Recht finden, worin ein Fürst in seiner Herrschaft hätte eingeschränkt werden können.40 Eine Einschätzung, die Rohan von „religiösen Traditionen“ freispricht,41 ist aber einseitig und spiegelt die Quellengrundlage nicht hinlänglich wider. Es ist ja nicht in Abrede zu stellen, dass Rohan auch, wie Lazzeri hervorhebt,42 konfessionelle Pluralität auf der Grundlage der Bestimmungen von Nantes im Einklang mit einer starken royalen Instanz als erstrebenswert erachtet. Dass Rohan jedoch an einem Staat, der diese vertraglich zugesicherte Bestandsgarantie der Reformierten zu unterlassen scheint, Anstoß nimmt, weil er sich ein übergeordnetes Staatsverständnis erhofft hatte, ist verkürzt gedacht.43 Staatsinteresse stand für Rohan zugleich im Interesse einer Monarchie, deren – sakraltopisch legitimierten – Eigenwert er stets als irreversible Grundlage voraussetzte. Wie die Befunde bei Rohan gedeutet werden können, wird im Einzelfall zu diskutieren sein. Wer sich mit dem Zusammenhang von Staatsinteresse und Staatsräson am Beispiel Rohans beschäftigt, tut jedenfalls gut daran, Rohan nicht per se mit dem vorgefertigten Bild eines Wegbereiters der Säkularisation zu assoziieren. Vielmehr erscheint das Staatsverständnis eines Wolfgang Reinhard als eine mögliche Diskussionsbasis, um die Eigenlogik und die Prozesshaftigkeit von Rohans Verständnis von den Interessen und der Vernunft von Staaten beziehungsweise Fürsten zu erarbeiten.

Ein weiterer Bezugspunkt liegt in der Bündner Geschichte der späten 1620er- und der 1630er-Jahre. Durch die bereits genannte Arbeit von Sven Externbrink sowie die Studien von Andreas Wendland44 und Anna Blum45 wurde die Bedeutung des oberitalienischen Raums in Bezug zur Bündner Geschichte gestellt, während die zahlreichen Publikationen von Randolph C. Head46 die lokalpolitischen Vorgänge innerhalb der einzelnen Bünde bewerten und in eine horizontale Betrachtung und Bewertung vormoderner Herrschaftsverhältnisse im alpinen Raum überführen. Die selbstregulativen Mechanismen dieser Herrschaftsgebilde in ihrer Eigenart zu würdigen, ist auch für das Verständnis des Dreißigjährigen Krieges einschlägig. Bezieht man die Vorgänge im heutigen Kanton Graubünden in die europäischen Kriegszusammenhänge ein, wird man sehen, dass auch Rohans Handeln Teil einer europäischen Bündner Geschichte ist. Wie Rohan sich in den Fallstricken lokaler Verhältnisse und überregionaler Abhängigkeiten verhedderte, ist nur ein Beleg dafür, dass die selbstregulativen Momente der Bündner Herrschaft ihrerseits unzureichend waren und nicht nur diejenigen, die von außen kamen, an die Begrenztheit ihres Handelns erinnerten. Zwar ist Rohan als Person in zahlreichen und noch immer mit Gewinn zu lesenden regionalhistorischen Fallstudien präsent, doch wird die politische Tragweite seines Handelns in ihnen selten thematisiert. Die bis heute einschlägige Rohan-Biografie von Jack Alden Clarke behandelt Rohans Leben nach 1629 nur noch als letzten Akt einer Lebensleistung.

Und der Dreißigjährige Krieg? Was haben die Aktivitäten Rohans überhaupt mit einem Krieg zu tun, an dem er nur wenige Jahre teilhatte? Nun ist natürlich nicht zu leugnen, dass die Landbrücke zwischen den Häusern Habsburg durch das Veltlin verlief und dass es auch auf französisches Betreiben zurückging, diese zu unterbrechen. Verfolgt man einen Ansatz, der die Interdependenzen zwischen dem Veltlin, den Drei Bünden, den Dreizehn Orten, den Häusern Habsburg, der französischen Krone und dem Papst mit einbezieht, sind auf einen Schlag viele der maßgeblichen Akteure eines europäisch angelegten Dreißigjährigen Krieges präsent, ohne dass sich Henri de Rohan mit seinen Kriegshandlungen hiervon abspalten ließe. Schon die vorausgegangenen Jahre in Venedig und Chur, in denen Rohan in militärpraktischen Fragen beriet, Truppen verstärkte und vor den Schweizer Orten für Kooperationen warb, waren zumindest indirekt auf zentrale Konfliktlinien des Dreißigjährigen Krieges bezogen. Die erbitterte Feindschaft mit Spanien und die rigorose Verteidigung der reformierten Religion zählen ebenso zu den Charakteristika einer Zeit, an der Rohan in vielfacher Weise partizipierte und die Teil eines den Kontinent immer mehr erfassenden Kriegsgeschehens ist. Bereits Friedrich Schiller (1759-1805) stellt heraus, dass die Akteure frühzeitig auf den europäischen Gesamtzusammenhang Bezug nahmen, und betont, dass der Erbfolgekonflikt um Jülich, Kleve und Berg „sogar die Aufmerksamkeit mehrerer Europäischer Höfe“ erregt habe.47 Peter H. Wilson hat seine monumentale Studie bereits von Anfang an als eine europäische „Tragödie“ ausgelegt,48 während Heinz Duchhardt für die dem Prager Fenstersturz unmittelbar vorausgehenden Jahre und Ereignisse von einer „Etappe in der internationalen Politik“ spricht, die „neue Akteure mit überregionalem Anspruch“ habe in Erscheinung treten lassen.49 Brian Sandberg geht in seinem Werk sogar so weit, dass er die Internationalität des Konflikts in einen globalen Rahmen einbettet.50 Umfassend angelegte Interpretationen weisen den Weg vom Kleinen ins Große, von Böhmen oder vom Veltlin nach Europa. Andererseits wird man sich fragen müssen, inwiefern es der europäische Referenzrahmen nicht seinerseits mit sich brachte, größere Konflikte im Kleinen auszutragen.51 So zu argumentieren, unterstellt nicht, dass Großmächte sich externe Aktionsfelder gesucht und Konflikte absichtsvoll ausgelagert hätten. Die sog. Stellvertreterkriege, die in der Zeit des Kalten Krieges in Afghanistan, Mittelamerika oder Zentralafrika geführt wurden, hatten ihre je eigene, zeitgebundene Handlungslogik und sind von den Kriegen des 17. Jahrhunderts zu unterscheiden.52

Henri de Rohan war kein theoretischer Praktiker, sondern ein praktischer Theoretiker. Handeln und Denken, Praxisbezug und schriftliche Darlegung ergänzten sich sukzessive. Dies birgt die große forschungspraktische Chance, Rohans Konzeptionen mit dem ereignishistorischen und mentalitätsgeschichtlichen Kontext zu vergleichen und anhand dessen zu den diversen Forschungsfeldern vorzustoßen. Es wird zu zeigen sein, dass Henri de Rohan seine Zugehörigkeit zur französischen Nobilität und seine enge Verwandtschaft mit Heinrich IV. öffentlichkeitswirksam und unter Rekurrenz auf persönliche Bindungen einsetzte. Es wird zu zeigen sein, dass der Individualist Rohan weit weniger autonom agierte, als wiederholt deutlich gemacht wurde;53 vielmehr prägten persönliche Bindungen, Abhängigkeiten und ein auffallendes Nebeneinander von aktivem Widerstand und Befehlsgehorsam seinen Werdegang. Rohan in all seiner Widersprüchlichkeit akteurszentriert und doch nicht singulär zu betrachten, bewirkt einen Zugriff, der Rohan so ganzheitlich wie möglich zu erfassen sucht, und zwar als einen „Huguenot Warrior“. War er ein Hugenotte, der Krieg führte, oder führte er Krieg, weil er ein Hugenotte war? Wo liegen in dieser eingängigen Wortverbindung die indirekt angesprochenen Bereiche Staat und Herrschaft, Adel und Monarchie, Frankreich und Europa? Am Ende, so steht zu hoffen, bleibt ein Bild, das Henri de Rohan und seine zentralen politischen Thesen in ihrer Vielfalt abbildet.

2.2.3 Quellenlage

Je nach Umfang und Gehalt des Quellenmaterials ist man verleitet, einer bestimmten Sichtweise anheimzufallen, gegebenenfalls sogar vereinnahmt zu werden. Sich um einen herausgehobenen „Point of view“ zu bemühen, ist für die wissenschaftliche Praxis eine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig ist die vorliegende Monografie erkennbar von Rohan her gedacht, indem sie zu einem Gutteil auf seinen überlieferten Schriftzeugnissen basiert. Originalquellen zu erschließen, ohne dabei einer Apologetik des verklärenden Nacherzählens zu verfallen, ist ein heikles Unterfangen. Dennoch unternimmt die Studie diesen Versuch, weil allein die Summe handschriftlicher Textzeugnisse beachtlich ist. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können, liegen den folgenden Ausführungen rund 300 handschriftliche Quellen zu Grunde, die aus diversen französischen und Schweizer Archiven zusammengetragen wurden und sich in vielen Fällen als aussagekräftiger erweisen, als es zu Beginn des Forschungsvorhabens erhofft werden konnte. Wer bei einem kursorischen Blick in Findbücher und Bibliografien zu der Einschätzung gelangt, es habe mit den publizierten Texten Rohans sein Bewenden und die handschriftlichen Zeugnisse seien nur schmückendes Beiwerk, wird bei ausführlicheren Recherchen eines Besseren belehrt. Aus diesem Grunde wird angestrebt, eine Synthese aus den für jedermann ersichtlichen Publikationen, ob in wissenschaftlich-kritischer Form oder in Gestalt zeitgenössischer (und digital verfügbarer) Druckerzeugnisse, mit den zahlreichen Archivalien anzustreben. Damit betritt die vorliegende Studie Neuland, weil sich die Rohan-Forschung bislang entweder auf Einzelaspekte konzentrierte oder – im Falle biografisch angelegter Arbeiten – mit einem weniger quellengestützten Zugriff arbeitete.

Henri de Rohan wird in seine Funktion als Publizist stets mit dem Traktat De l’intérêt de princes et des Etats de la chrétienté in Verbindung gebracht. Er ist die Schrift Rohans, die uns heute in einer sorgfältig edierten und ausführlich kommentierten Fassung vorliegt; zugleich unternimmt die Edition den Versuch, Rohans Text in die geistesgeschichtlichen Strömungen der Zeit einzubetten.54 Dieser ideenhistorische Ansatz operiert mit einem hermeneutisch sehr breit angelegten Verständnis, weil allein die Länge des von Christian Lazzeri verfassten Kommentars jene des eigentlichen Texts deutlich überragt.55 Dies ist sehr verdienstvoll, birgt aber editionsphilologische Probleme. Der mehrstufige Prozess der Texterschließung, der ja immer um textimmanente Anteile des Lesens und Interpretierens bemüht sein muss, wird in diesem Zusammenhang eher zweitrangig betrachtet und zu Gunsten einer üppigen Fallstudie über die wissenschaftliche Frage, was das Interesse von Fürsten und Staaten in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs bedeutet, aufgelöst. Das bringt einen beträchtlichen Erkenntnisgewinn mit sich, ist in manchen Punkten aber auch problembehaftet. Lassen sich Konfession und Interesse tatsächlich getrennt betrachten? Textimmanenz ist mitnichten absolut zu setzen, doch schließt die in der Forschung häufig vertretene Tendenz, Rohan stromlinienförmig in kriegs- und mentalitätsgeschichtliche Zusammenhänge einfließen zu lassen, ein fundamentales hermeneutisches Kriterium aus: die Kontextgebundenheit, die auf Rohan selbst zurückführt und die im Moment des Interpretierens sorgfältig erschlossen sein sollte. Bei einem Akteur, dessen Haltungen oftmals widersprüchlich, manchmal anstößig und gelegentlich inkonsequent erscheinen, ist der umfassende Zugriff auf den Kontext nicht Widerpart, sondern integraler Bestandteil einer Textdeutung, die gleichermaßen textbezogen und kontextgebunden ihre Ergebnisse erzielt.

Henri de Rohans Ansehen als Publizist begann sich erst nach seinem Tode zu entfalten, was auch der späten Veröffentlichung des Textes geschuldet ist. Gleichzeitig sind die vorausgegangenen Jahre geprägt von weiteren Schriften, die auf der Basis teils allegorisch anmutender Erfahrungsberichte bei Lesenden auf Interesse stoßen. Dies gilt in erster Linie für seine Memoiren, die in Gestalt packender Schilderungen von Reisen durch Europa und Begegnungen mit diversen Akteuren der Zeit berichten.56 Im Alter von 20 Jahren unternahm Henri de Rohan gemeinsam mit seinem Bruder eine „grande tournée“, die sie an die Höfe Europas führte und ihnen Kenntnisse der diversen höfischen Machtzentren und politischen Milieus vermittelte. Wer davon ausgeht, dass Rohan seine ausführlichen Reiseberichte um politische Einschätzungen, mehr oder minder deutlich artikulierte politische Meinungen angereichert hätte, wird freilich enttäuscht: Die frühen Reisetagebücher Rohans sind noch keine abstrahierenden Erörterungen mit politischer Kommentarfunktion. Dessen unbeschadet, ist ihr Quellenwert unbestritten, weil die detailverliebten Berichte Rohans auf sein Verständnis für Strukturen und Charakteristika des jeweiligen Umfelds schließen lassen und zugleich Basis für später erfolgende Erörterungen und Berichte sind. Dies ändert sich in jenen Memoiren, die an die vergleichsweise unbeschwerten Jugendjahre anschließen und die beiden Dekaden beschreiben, in denen die Hugenotten erneut um Anerkennung rangen und die beendet geglaubten Religions- und Bürgerkriege noch einmal aufflammten. Vornehme Zurückhaltung des Autors ist auf diesen Seiten nicht zu erwarten: Rohans Memoiren separieren klar erkennbar zwischen Freund und Feind und lassen kaum Zweifel daran, wer Verantwortung für die verworrenen Geschehnisse trägt.57

Eine veritable Fundgrube stellen diejenigen Abhandlungen dar, die 1646 unter dem Titel Les discours politiques du duc de Rohan faits en divers temps sur les affaires qui se passoient erschienen.58 Ebendiese tagesaktuellen Abhandlungen politischer Geschehnisse taugen avant la lettre für das journalistische Feuilleton, wenngleich Rohan als Verfasser natürlich nicht subtil seine Meinung einstreut. Vielmehr karikiert und kritisiert er etwaige Gegner gehäuft mit spitzer Feder, wobei die Lenkung von Sympathie und Antipathie klar erkennbar ist: Rohan schreibt parteiisch und kritisiert mit Verve manche seiner Mitstreiter, Marie de’ Medici (1575-1642), die Päpste und insbesondere die spanische Monarchie. Eine umfassende Quellenanalyse verdeutlicht die Praxeologie dessen, was Rohan zu Papier brachte, zeichnet Bezugnahmen und Kontinuitätslinien nach, so dass sich Schreiben und Handeln zu Schwerpunkten verdichten und wechselseitige Referenzen erkennen lassen. Vergleichsweise kriegstheoretisch angelegt ist Rohans 1636 erstmals erschienene Schrift Le Parfaict Capitaine.59 Sie geht auf seine intensive Rezeption der Antike, vor allem deren Kampftechniken und Strategien zurück.

Eine umfassend angelegte Studie zu Henri de Rohan darf das reichhaltige Material, das in diversen Archiven hinterlegt ist, nicht außen vor lassen. Bei den zugänglichen Archivalien handelt es sich nicht ausschließlich, aber überwiegend um Briefe, die Rohan an unterschiedliche Korrespondenzpartner richtete. Dies sind in erster Linie Kardinal Richelieu, diverse Offiziere oder Militärführer und gelegentlich sogar Marie de’ Medici oder der Kapuziner François-Joseph Le Clerc du Tremblay, genannt Père Joseph (1577-1638). Hinzu kommen Briefe, die wiederum an Rohan gerichtet sind, sowie deskriptive oder gar narrativ ausgestaltete Berichte und Chroniken, die seine Person erwähnen und sein Handeln einkalkulieren. Die Auswahl der Archivalien ist selektiv und kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit beanspruchen. Sie stellt aber einen repräsentativen Querschnitt handschriftlicher Textquellen von und über Henri de Rohan dar.

Die mit Abstand meisten Quellen befinden sich im Archiv des französischen Außenministeriums (La Courneuve)60 und im Staatsarchiv des Kantons Graubünden (Chur).61 Abgesehen von der geografischen Entfernung, ist der Befund auch quellengeschichtlich bedeutsam: Er zeigt, dass Henri de Rohan, obgleich er sich nach 1629 kaum noch in Frankreich aufhielt, in außenpolitischen Belangen noch Bedeutung zugeschrieben wurde. Gleichzeitig scheint die in Graubünden von ihm lancierte Korrespondenz, die sich zu großen Teilen auf die Bündner Herren und lokale Militärs bezieht, ihren Einfluss auf den weiteren Gang der Bündner beziehungsweise Schweizer Geschichte entfaltet zu haben. Nicht anders ist zu erklären, dass auch das Kantonsarchiv in Zürich,62 das Staatsarchiv in Bern63 und die Berner Burgerbibliothek Teile der Korrespondenz Rohans vorzuweisen haben, was bisweilen äußerst erfreuliche Funde mit sich bringt: So werden in der Berner Burgerbibliothek Briefe aufbewahrt, die aus dem Frühjahr 1638 stammen64 und die m.E. von der Forschung bislang nicht zur Kenntnis genommen wurden. Der letzte dieser Briefe datiert wenige Tage vor Rohans Tod; mutmaßlich handelt es sich hierbei um die letzte auf Rohan zurückzuführende Quelle! Und vor dem Hintergrund dessen, dass Henri de Rohan sich präferiert in Genf aufhielt und dort auch seine letzte Ruhe fand, verwundert nicht, dass das Archiv der dortigen Universitätsbibliothek entsprechende Autografen bereithält,65 insbesondere in Gestalt der Korrespondenz mit dem Genfer Geistlichen Théodore Tronchin (1582-1657).

Zurück nach Frankreich! Natürlich ist das Archiv des Außenministeriums nicht allein wegen seiner zahlreichen Autografen der wichtigste Bezugspunkt, birgt es doch eine gigantische Summe von Kriegskorrespondenzen, Lageberichten und Chroniken. Allein der schieren Fülle des Materials wegen kann nur selektiv in die Studie Eingang finden, was in seiner Gesamtheit eine wissenschaftliche Würdigung verdient hätte. Dies gilt auch für die Bestände der Bibliothèque Nationale de France,66 die im Hinblick auf Henri de Rohan zum Zeitpunkt der Quelleneinsicht (Februar bis April 2018 und Oktober bis November 2018) nur punktuell digitalisiert waren. Weitere Korrespondenzen Rohans sind in den Archives Nationales de France (Paris)67, der Bibliothèque de l’Institut de France68 (Paris) und dem Archiv des französischen Heeresministeriums (Vincennes)69 archiviert. Einen Geheimtipp und zugleich eine veritable Fundgrube stellt zudem das eingangs genannte Archiv der Société de l’Histoire du Protestantisme Français (Paris) dar. Dort befinden sich einige Autografen Rohans aus den 1610er- und 1620er-Jahren, die von erheblicher Relevanz für Rohans Denkweise als Ganzes sind.70 Rohans Denken und Handeln ist, jeglicher Weiterentwicklung und Modifizierung zum Trotz, auch von Kontinuitäten gekennzeichnet, von denen das reformatorische Bekenntnis nur ein Aspekt ist. Die Arbeit mit diesen Beständen stellt diachrone Bezüge zu dem Schwerpunkt dieser Arbeit her, der klar auf den 1630er-Jahren liegt. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, weil nur einzelne Quellenzeugnisse aus der Zeit vor Rohans Exil in Venedig vorliegen. Die eindeutige Konzentration der Studie auf eine bestimmte Lebensphase ihres zentralen Akteurs ist dabei kein Ausschlusskriterium, nicht auch ausgewählte Quellen aus anderen Lebensabschnitten in den Blick zu nehmen. Umso mehr kann auf diese Weise ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt werden, der es gestattet, Kontinuitäten und Brüche eines Lebens deutlich zu machen und anhand einer bestimmten Zeitspanne paradigmatisch zu verdichten. Aus diesem Grunde ist der Zugriff auf die Quellen einer, der die Zeit vor dem Edikt von Alès peripher behandelt und der Überlieferungslage der vorausgegangenen drei Jahrzehnte nicht eigens nachgeht.

Freilich gilt, dass ein vollständiges Erfassen der Quellen in demjenigen Moment unmöglich wird, in dem ein Leben nicht nur von zahlreichen Ortswechseln durchsetzt ist, sondern auch in kriegerischen Phasen vonstattengeht. Die Disparatheit von Orten und Überlieferungswegen mag mit dafür verantwortlich sein, dass der quellenbasierte Zugriff seitheriger Studien zu Henri de Rohan in vielen Fällen nur flüchtig und mit einer gering ausgeprägten Systematik der Recherche ausgeübt wurde. Abgesehen davon, dass viele Einzelstudien Rohans Traktat De l’intérêt des princes et des Etats de la chrétienté eben weniger „werkbiografisch“ zu verorten suchen, erfolgt der Zugriff auf das Œuvre und seine markante Thesenbildung oftmals interessengeleitet. Gleichzeitig strebt ja auch die vorliegende Studie nicht an, eine Biografie Henri de Rohans nach klassischem Muster zu sein. Der Zugriff auf Henri de Rohans Verständnis von Krieg und Frieden, von Politik und Religion, von Konfrontation und Friedensordnung ist deshalb einer, der Kontextbezüge herstellt, Zusammenhänge zwischen Einzelquellen und Quellengattungen formuliert und dabei umfassender und ganzheitlicher mit dem zur Verfügung stehenden Material umgeht, als es bislang der Fall war.

Der Dissertation mag zum Nachteil ausgelegt werden, dass sie ihren Quellenwert in erster Linie aus Rohans Texten und Korrespondenz selbst bezieht und in vergleichsweise geringem Maße einen Vergleich mit geistesgeschichtlichen Strömungen dieser Zeit anstrebt. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Die Fülle an vorliegenden Quellen zwingt dazu, von einigen Funden, die gewinnbringend in den Argumentationsgang der Arbeit einzufügen wären, Abstand zu nehmen. Dies gilt, wie erwähnt, nicht allein für die Korrespondenz Rohans, sondern auch für die zahlreichen Chroniken und teils retrospektiv entstandenen Berichte, die sich neben der Beschreibung von Schlachten auch Fragen der Rechtsordnung, der außenpolitischen Kooperation und dem Charakter von Vertragsschlüssen widmen. Wer diesen reichhaltigen Fundus gründlich bearbeitet, wird zahlreiche mögliche Anknüpfungspunkte finden, zugleich aber darauf achten müssen, Einbettungen in den Kontext nicht auf eine überfrachtete Metaebene zu verlagern. Es wäre ein zu ambitioniertes Vorhaben, versuchte man die Leitfrage nach Rohans Verständnis von Krieg in vormoderner Zeit von möglichen Impulsgebern abhängig zu machen. Henri de Rohan darf ein gerüttelt Maß an Intelligenz und Sachverstand zugetraut werden, was es ihm gestattete, zu einem Eigenwert zu kommen, der sich nicht in die ein oder andere Forschungsrichtung auflöst.

2.3 Biografische Skizze

Henri de Rohans Leben gewinnt seinen Reiz dadurch, dass es neben seinem Ereignisreichtum viele Wege der Interpretation bereithält. Dass sich Rohan seine Meriten auf dem Schlachtfeld verdiente, dass er an seiner Zugehörigkeit zum Hochadel stets festhielt, dass er als prononcierter Verfechter der Eigenständigkeit der Hugenotten in Erscheinung trat – all dies ist unbestritten und mehrfach zum Gegenstand von Erzählungen und Analysen erhoben worden. In Anlehnung an diese Denkansätze werden für das weitere Verständnis einschlägige biografische Momente benannt und in ihre Zusammenhänge eingeordnet.

Henri de Rohan wurde 1579 in eine der etabliertesten und einflussreichsten Familien des französischen Hochadels hineingeboren. Die reformierte Konfession prägte die Familie Rohan bis ins 18. Jahrhundert; erst danach sind Nachfahren Henri de Rohans – allerdings aus einer anderen Linie – als Fürstbischöfe von Strasbourg wieder Repräsentanten der katholischen Religion. Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert zählte die Familie Rohan zu den Exponenten des Calvinismus innerhalb des französischen Hochadels. Ihren Einfluss sicherte sie sich auch durch die enge Verwandtschaft mit dem Haus Bourbon, was zu der bemerkenswerten Konstellation führt, dass der deutlich ältere Heinrich von Navarra, später Heinrich IV., ein Cousin zweiten Grades von Henri de Rohan war. Für die Bindung der Rohan an den Königshof und insbesondere an den König selbst war diese verwandtschaftliche Beziehung ausschlaggebend. Sie verflüchtigte sich auch nicht durch den Bekenntniswechsel des Königs; vielmehr hielt sich Henri de Rohan seit seinem 17. Lebensjahr zunehmend bei Hofe auf. Den Friedensschluss von Nantes erlebte er aus nächster Nähe.71 Rohan wusste sein Verhältnis zu Heinrich IV. wirkmächtig zu inszenieren und narrativ auszukleiden. Nicht zuletzt war es Heinrich IV., der die Heirat Rohans mit Marguerite de Béthune (1595 (?)-1660), Tochter des Maximilien de Béthune, Duc de Sully (1559/1560-1641), einfädelte.

Henri de Rohan hatte am 13. Februar 1605 auf Vermittlung des Königs hin Marguerite de Béthune geheiratet, die Tochter des Duc de Sully.72 Mit Rohans Heirat hatte sich gleichsam eine Eheschließung zwischen zwei überaus angesehenen Familien des französischen Hochadels, die ihren politischen Einfluss frühzeitig zur Geltung brachten, vollzogen. Das Verhältnis zwischen Rohan und seinem Schwiegervater beruhte u.a. auf derselben konfessionellen Zugehörigkeit und wurde in entsprechenden politischen Zielsetzungen bekräftigt, die auch finanzieller Natur waren.73 Immerhin markierte die Ermordung Heinrichs IV. am 14. Mai 1610 sowohl für den Duc de Sully als auch den Duc de Rohan einen weitgehenden Ausschluss vom „Inner circle“ des höfischen Geschehens und der politischen Entscheidungsfindung. Beide brachten der amtierenden Regentin Marie de’ Medici Missbilligung entgegen: Der Duc de Sully hatte unter Heinrich IV. als Surintendant des Finances amtiert und in der Funktion des Sachwalters der höfischen Kassen die Kontrolle der Ausgaben für Krieg und Alltagsleben kontrolliert; dadurch hatte er in der höfischen Hierarchie einen der höchsten Ränge besetzt.74 Nicht zuletzt aufgrund der in eklatantem Maße belasteten Finanzen hatte sich das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen dem Duc de Sully und der Regentin weiter eingetrübt.75 Die Demission des Ministers im Jahre 1611 war jedoch eine im 17. Jahrhundert einmalige Konsequenz eines Prozesses politischer Entfremdung.76 Nicht zuletzt das pejorative Selbstzeugnis des Duc de Sully legt nahe, dass jener innerhalb des reformierten Lagers als ein zu Unrecht geschasster Vorkämpfer für Gerechtigkeit galt, und er unternahm auch wenig, um diese Sichtweise zu berichtigen.77 Dass die enge Bindung des rebellierenden Rohan an seinen Schwiegervater zu einer Konstante im Kontext der Verwerfungen der 1610er- und 1620er-Jahre wurde, verlieh dieser konflikthaften Zeit ein bizarres Grundmuster, denn Sully hatte, aller Ablehnung der Regentin und ihres Umfelds zum Trotz, eine abwägende Haltung gegenüber Krieg und Frieden.78 Kriegführung war in seinen Augen eine vordringliche Aufgabe heranreifender Prinzen und eine sichtbare Verteidigung ständischer Ehre, kulminierend in der Führungsrolle des König als oberstem, von Gott eingesetztem Kriegsherren.79 Vor diesem Hintergrund wusste er zwischen dem König und Rohan zu vermitteln: Als im Jahre 1604 ein Gesandter in Rohans Namen (und ohne dessen Wissen) mit dem englischen König Jakob I. über eine Heirat Rohans verhandelt und dadurch Heinrich IV. gegen sich aufgebracht hatte,80 tadelte Sully seinen Schwiegersohn: Er hielt ihm unter Rekurs auf Heinrich IV. ein taktisches Fehlverhalten vor,81 und Rohan, so Sully, reagierte hierauf zunächst uneinsichtig, später dann furchtsam, weil um seine Reputation bei Hofe 
bedacht.82

Henri de Rohan wiederum besaß ein Interesse daran, den Duc de Sully in das Gewand eines politischen Opfers, gar Märtyrers zu kleiden. Er fügte sich in seine Inszenierung von Krieg und Frieden: Rohan hatte sich von Kindesbeinen an für die Geschichte der Kriegführung begeistert. Sein großes Interesse an Caesars (100-44 v. Chr.) Bellum Gallicum war dabei weniger Resultat philologischer Vorlieben als vielmehr der Wissbegierde bezüglich der Diachronie von Militärtaktik und Schlachtenformationen geschuldet.83 Die gewiss nicht gering zu veranschlagende Bildung, die Rohan häuslicherseits erfuhr, wird indes durch die Fülle an kriegspraktischen Erfahrungen übertroffen. Das Jahr 1610 ragt diesbezüglich hervor: Da die Erbfolgekrise um die Herzogtümer Jülich, Kleve und Berg eine internationale Konfliktlage zuspitzte und zu eskalieren drohte, beorderte der französische Monarch seinen Cousin mit einem Truppenkontingent von rund 6.000 Schweizer Söldnern an den Niederrhein. Bekanntlich unterblieb die militärische Auseinandersetzung, doch stellen allein die Vorbereitungen Rohans Engagement unter Beweis und lassen den „Huguenot Warrior“ als einen Militärführer, der Verantwortung übernimmt, in Erscheinung treten. Rohans Kenntnisse der (militär-)politischen Lage Europas waren keineswegs nur dem Krieg als Handlungszusammenhang geschuldet: Gemeinsam mit seinem Bruder Benjamin, Duc de Soubise (1583-1642), unternahm er im Jahre 1600 eine ausgedehnte, mehrmonatige Rundreise durch Europa, die ihn an diverse Höfe und in diverse Städte führte – von Jakob VI./I. (1566-1625) wird noch die Rede sein. Darüber hinaus verdient sein Aufenthalt in Heidelberg, dem Sitz des Kurfürsten von der Pfalz und zugleich ein Aushängeschild der Reformierten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, Erwähnung, ebenso seine Zwischenstationen an den Höfen von Wien und Dresden. Nach Spanien reiste er nicht. Diese große Unternehmung war tatsächlich nicht nur auf die internationale Vernetzung angelegt, sondern hinterließ bei Rohan auch vielfältige Eindrücke einer Bildungs- und Studienreise, die ihren Niederschlag in einem ausführlichen Reisebericht fanden. Rohan hatte also, bevor er sich in die inneren Angelegenheiten Frankreichs einschaltete, nicht nur erste Fertigkeiten im Umgang mit Truppen erworben, sondern auch Kenntnis der Vielfalt Europas am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges erhalten.

Details

Seiten
378
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631904213
ISBN (ePUB)
9783631904220
ISBN (Hardcover)
9783631889794
DOI
10.3726/b20957
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (September)
Schlagworte
Konfessionalisierung Reformierte Lehre „Balance of Powers“ Unabhängigkeit des Veltlins Französischer Hochadel Richelieu Monarchia Universalis Spanische Habsburger Interesse und Staatsräson Bündner Herrschaft
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 378 S.

Biographische Angaben

Timo Andreas Lehnert (Autor:in)

Timo Andreas Lehnert (geb. 1988) studierte Geschichte und Germanistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Nach dem Ersten Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien wurde er 2021 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz promoviert.

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Titel: Henri de Rohan (1579-1638) und die internationalen Beziehungen in Europa
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