Distressed M&A in Deutschland und Italien
Rechtsvergleichende Betrachtung der aktuellen Rechtslage und Ausblick auf die Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie der EU zu präventiven Sanierungsmaßnahmen
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Vorwort und Danksagung
- Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis
- I. Einleitung
- A. Zielsetzung dieser Arbeit
- B. Erläuterung des Begriffs M&A/Mergers and Acquisitions
- C. Distressed M&A: Erklärung und Definition des Begriffs der „Krise“
- 1. Allgemein
- 2. (Insolvenz-)rechtliche Krise
- 3. Betriebswirtschaftliche Krise
- 4. Fachliteratur
- 5. Eigener Ansatz
- 6. Verwendung in der Praxis
- D. Abgrenzung zu „konventionellem“ M&A
- E. Besonderheiten bei einem distressed M&A
- F. Insolvenzursachen und aktuelle Insolvenzlage in Deutschland, Italien und Europa
- 1. Allgemeine Ursachen von Insolvenzen
- 2. Insolvenzsituation in Deutschland
- 3. Insolvenzsituation in Italien
- 4. Insolvenzsituation in Europa
- G. Problem der mangelnden Akzeptanz/andauernden Makelbehaftung der Insolvenz
- H. Gestaltungsoptionen für eine distressed M&A-Transaktion und grundsätzliche Unterscheidungen
- 1. Asset Deal
- 2. Share Deal
- 3. Debt-equity-swap
- II. Distressed M&A in Deutschland
- A. Einführung in das deutsche Insolvenzrecht
- 1. Begriff der Insolvenz
- 2. Zweck des Insolvenzverfahrens
- 3. Prinzip der Gläubigergleichbehandlung (sogenanntes par conditio creditorum)
- 4. Phasen des Insolvenzverfahrens und die üblichen Beteiligten
- B. Distressed M&A vor der Insolvenzeröffnung
- 1. Kauf des Schuldnerunternehmens im Wege eines Share Deals
- 2. Kauf des Schuldnerunternehmens im Wege eines Asset Deals
- 3. Debt-equity-swap
- C. Nach Insolvenzeröffnung
- 1. Kauf des Schuldnerunternehmens im Wege eines Share Deals
- 2. Kauf des Schuldnerunternehmens im Wege eines Asset Deals (sog. „übertragende Sanierung“)
- III. Distressed M&A in Italien
- A. Einführung in das italienische Insolvenzrecht
- 1. Begriff der Insolvenz
- 2. Zweck des Insolvenzverfahrens
- 3. Prinzip der Gläubigergleichbehandlung
- 4. Ablauf des Insolvenzverfahrens und die üblichen Beteiligten
- B. Distressed M&A vor der Insolvenzeröffnung
- 1. Kauf des Schuldnerunternehmens im Wege eines Share Deals
- 2. Kauf des Schuldnerunternehmens im Wege eines Asset Deals
- C. Unternehmenssanierung außerhalb des Liquidationsverfahrens
- 1. Einführung
- 2. Frühwarnsystem und betreute Krisenbewältigung (procedure di allerta e di composizione assistita delle crisi)
- 3. Der bestätigte Sanierungsplan (Piano attestato (di risanamento))
- 4. Vereinbarung über die Umschuldung (accordo di ristrutturazione)
- 5. Konkursabwendender Vergleich (concordato preventivo)
- 6. Debt-equity-swap
- 7. Concordato nella liquidazione giudiziale
- D. Distressed M&A nach Eröffnung Insolvenzverfahren
- 1. Asset Deal nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens
- 2. Share Deal nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens
- 3. Interims- bzw. vorbereitende Maßnahmen für die Verwertung/Versilberung
- IV. Fazit und weitere Entwicklung
- A. Abschließender Vergleich und Bewertung der beiden Rechtssysteme
- B. Das präventive Sanierungsverfahren: EU-Richtlinie 2019/1023 und deren Umsetzung
- 1. Einführung und Gesetzgebungsverfahren
- 2. Regelungsinhalt
- 3. Auswirkungen auf die nationale Gesetzgebung
- V. Literaturverzeichnis
- Index
Abkürzungsverzeichnis
a. F. |
alte Fassung |
AEUV |
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
AIDEA |
Accademia Italiana di Economia Aziendale |
AktG |
Aktiengesetz |
AnfG |
Anfechtungsgesetz |
AO |
Abgabenordnung |
BAG |
Bundesarbeitsgericht |
BetrVG |
Betriebsverfassungsgesetz |
BFH |
Bundesfinanzhof |
BGB |
Bürgerliches Gesetzbuch |
BMF |
Bundesfinanzministerium |
BQG |
Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft |
c.c. |
Codice Civile |
C.C.I.I. |
Codice della crisi d’impresa e dell’insolvenza |
c.p.c. |
Codice di procedura civile |
CIPI |
Comitato di ministri per il coordinamento della politica industriale |
CNDCEC |
Consiglio nazionale dei Dottori Commercialisti e degli Esperti Contabili |
CoC |
Change-of-control |
D.L. |
Decreto-legge |
D.Lgs. |
Decreto legislativo |
DPR |
Decreto del Presidente della Repubblica |
DSGVO |
Datenschutz-Grundverordnung |
EBITDA |
Earnings Before Interest, Taxes, Depreciation and Amortization |
EStG |
Einkommensteuergesetz |
ESUG |
Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen |
EU |
Europäische Union |
EuG |
Gericht der Europäischen Union |
EuGH |
Europäischer Gerichtshof |
EUInsVO |
Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Insolvenzverfahren |
GG |
Grundgesetz, Grundgesetz |
GmbH |
Gesellschaft mit beschänkter Haftung, Gesellschaft mit beschränkter Haftung |
GmbHG |
Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung |
GrEStG |
Grunderwerbsteuergesetz |
HGB |
Handelsgesetzbuch |
IAS |
International Accounting Standards |
IDW |
Institut der Wirtschaftsprüfer, Institut der Wirtschaftsprüfer |
InsO |
Insolvenzordnung |
InsVerfVereinfG |
Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens |
IRAP |
Imposta regionale sulle attività produttive |
IRES |
Imposta sul reddito delle società |
IRPEF |
Imposta sul reddito delle persone fisiche |
IVA |
Imposta sul valore aggiunto |
KMU |
Kleine und mittlere Unternehmen |
KO |
Konkursordnung |
KSchG |
Kündigungsschutzgesetz |
KStG |
Körperschaftsteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz |
L. |
Legge |
L.F. |
Legge fallimentare |
M&A |
Mergers & Acquisitions |
MarkenG |
Markengesetz |
OCRI |
Organismo di composizione della crisi d’impresa |
OHG |
Offene Handelsgesellschaft |
OIC |
Organismo Italiano di Contabilità |
RL |
Richtlinie |
s.r.l. |
Società a responsabilità limitata |
SanInsFoG |
Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts |
SchVG |
Schuldverschreibungsgesetz |
SGB III |
Drittes Buch Sozialgesetzbuch |
SozplKonkG |
Gesetz über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren |
SPV |
Special purpose vehicle |
StaRUG |
Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen |
StGB |
Strafgesetzbuch |
TUF |
Testo unico delle disposizioni in materia di intermediazione finanziaria |
TUIR |
Testo Unico delle Imposte sui Redditi |
UmwStG |
Umwandlungssteuergesetz |
UStG |
Umsatzsteuergesetz |
VVG |
Versicherungsvertragsgesetz |
ZIS |
Zentrum für Insolvenz und Sanierung der Universität Mannheim |
I. Einleitung
A. Zielsetzung dieser Arbeit
Das Ziel dieser Arbeit ist, eine analytische Gegenüberstellung der Regelungen des deutschen und italienischen Rechts in Bezug auf Fälle des sogenannten distressed M&A1, also des Erwerbs von Unternehmen aus der Krise oder Insolvenz, vorzunehmen. Der Fokus liegt bei diesen Transaktionen zumeist auf den Chancen und Risiken des Käufers beziehungsweise des vom Käufer zu erwerbenden Unternehmens. Dementsprechend soll auch in dieser Arbeit vorrangig untersucht werden, welche Vor- und Nachteile der Erwerb abhängig von Zeitpunkt und Transaktionsform für den potenziellen Käufer haben kann.
Dabei sollen die beiden Rechtsordnungen separat betrachtet und ihre Besonderheiten auf dem gegenständlichen Rechtsgebiet herausgearbeitet werden. Einzelne, besonders relevante Problemfelder werden dabei schwerpunktmäßig und ausführlicher dargestellt. Im Vordergrund stehen dabei, neben der verfahrensrechtlichen Einkleidung in den beiden Rechtssystemen, die materiell-rechtlichen Regelungsinhalte und hierbei die Unterschiede vor und nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Ferner sollen im Rahmen der vorzunehmenden vergleichenden Betrachtung die jeweiligen Stärken und Schwächen der unterschiedlichen Regelungsansätze aufgezeigt werden.
Zunächst sollen jedoch im Rahmen dieser Einführung die Begriffe M&A und distressed M&A und deren Besonderheiten näher beleuchtet werden.2 Es folgt ein Überblick über die Insolvenzursachen und aktuellen Zahlen zu Unternehmensinsolvenzen.3 Ferner wird das Problem der negativen Wahrnehmung einer Insolvenz angesprochen.4 Anschließend werden die Grundzüge der behandelten Transaktionsformen mitsamt deren allgemeinen Vor- und Nachteilen kurz dargestellt.5
Abschließend ist zum besseren Verständnis darauf hinzuweisen, dass die Ausführungen sich in der Regel auf die jeweils am weitesten verbreiteten Gesellschaftsformen der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH)6 beziehungsweise der società a responsabilità limitata (s.r.l.)7 beziehen, soweit keine anderweitigen Angaben erfolgen.
Redaktionsschluss dieser Arbeit ist der 31. März 2021. Daher werden – mit Ausnahme eines kurzen Ausblicks auf den Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts8 – die danach beschlossenen bzw. in Kraft getretenen Reformbemühungen in Deutschland und Italien nicht behandelt. Des Weiteren werden Verordnungen und Gesetzesänderungen, die allein oder hauptsächlich der Bewältigung der COVID-19-Pandemie dienen, nicht bzw. nicht maßgeblich in die Betrachtung der beiden Rechtssysteme aufgenommen.
B. Erläuterung des Begriffs M&A/Mergers and Acquisitions
Unter Mergers & Acquisitions (M&A) ist ein weiter Sammelbegriff für Vorgänge im Zusammenhang mit der Übertragung und Belastung von Eigentumsrechten an Unternehmen9 zu verstehen. In erster Linie zählen hierzu Unternehmenskäufe, Fusionen und Betriebsübergänge.10 Unter M&A im weiteren Sinne fallen darüber hinaus auch strategische Allianzen und Kooperationen (z. B. Joint Ventures).11
Dabei unterscheiden sich Mergers (zu Deutsch: Verschmelzungen), also Fusionen, von Acquisitions, d. h. Erwerbsvorgängen, dadurch, dass bei erstgenannter Methode die Vermögensgegenstände der beteiligten Unternehmen zusammengelegt werden. Verschmelzungen können wiederum unterteilt werden in die Verschmelzung durch Aufnahme und Verschmelzung durch Neugründung.12
Für die vorliegende Abhandlung relevant ist jedoch in erster Linie die Fallgruppe der Erwerbsvorgänge, also der Acquisitions. Diese bestehen in dem Übergang der Eigentums- und damit Leitungs- und Kontrollrechte an dem zu erwerbenden Unternehmen. Realisiert wird dies anhand eines Erwerbs der Anteile an dem Zielunternehmen (Share Deal) oder der (Gesamtheit der) Vermögensgegenstände des Zielunternehmens (Asset Deal).
Mergers oder gar strategische Kooperationen dagegen spielen in Fällen von Unternehmensübernahmen in einem Krisen- oder Insolvenzszenario in der Praxis eine sehr untergeordnete Rolle,13 weshalb sie in dieser Abhandlung nicht vertieft thematisiert werden.
C. Distressed M&A: Erklärung und Definition des Begriffs der „Krise“
Eine einheitliche, präzise Definition der „Krise“ oder des englischen Begriffs distressed im Zusammenhang mit Unternehmensübernahmen ist weit weniger offensichtlich, als dessen Verwendung im juristischen Sprachgebrauch es vermuten lassen könnte. In diesem Abschnitt werden verschiedene Ansätze für die Definition einer Krise dargestellt und auf ihre Übereinstimmung mit einer distressed M&A-Transaktion untersucht.
1. Allgemein
Grundsätzlich kann unter einem Unternehmen in distress ein solches verstanden werden, welches aufgrund von Liquiditätsknappheit Schwierigkeiten hat, seine Verbindlichkeiten zu bedienen. Das Unternehmen befindet sich also in einer finanziellen Schieflage, dem financial distress14. So umschreibt beispielsweise das „Legal Knowledge Portal“ distress in prägnanter Art und Weise wie folgt:
„‘Distress’ generally means that the company is having difficulty dealing with its liabilities.“15
2. (Insolvenz-)rechtliche Krise
Die Krise oder die Beschreibung eines finanziellen Krisenzustands ist insbesondere in der insolvenzrechtlichen Terminologie zu finden. Beispielhaft stellt das italienische Insolvenzrecht für die Zahlungsunfähigkeit (insolvenza) auf Nichterfüllung oder andere Umstände ab, welche offenbaren, dass der Schuldner nicht mehr in der Lage ist, die eigenen Verbindlichkeiten ordnungsgemäß zu erfüllen.16 Im europäischen, speziell im deutschen Insolvenzrecht kommen zu diesem Punkt der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit die drohende Zahlungsunfähigkeit und die bilanzielle Überschuldungsbetrachtung17 hinzu. Distressed M&A-Transaktionen spielen sich jedoch auch außerhalb insolvenzrechtlicher Verfahren oder zeitlich vor dem Eintreten von Insolvenzverfahrenseröffnungsgründen ab. Deshalb sind diese Definitionen nicht vollständig geeignet, um den Begriff distressed M&A einzugrenzen. Krisen, welche die wirtschaftliche Existenz eines Unternehmens gefährden und daher eine distressed M&A-Transaktion auslösen können, aber nicht die Einleitung eines Insolvenzverfahrens rechtfertigen, fallen nicht unter den Insolvenzbegriff.18
Im italienischen Recht ist die Bestätigung des Vorliegens eines Krisenzustands zum Teil gesetzlich vorgesehen. Dies kann durch das sogenannte Ministerialkomitee zur Koordinierung der Industriepolitik (Comitato di ministri per il coordinamento della politica industriale, kurz CIPI) geschehen.19 Das CIPI stellt auf Vorschlag des Arbeitsministeriums das Vorliegen eines besonderen Falls einer betrieblichen Krise mit erhöhter sozialer Relevanz im Hinblick auf die lokale Beschäftigungssituation und die produktive Situation des Sektors fest. In einem Gesetzesentwurf im Jahre 2008 war des Weiteren die Erklärung des Krisenstadiums durch das Wirtschaftsministerium auf Antrag des Unternehmens (zum Zweck der steuerlichen Entlastung für Investitionen in kriselnde Unternehmen) vorgesehen.20 Voraussetzungen für diese Feststellung waren dort allerdings nicht geregelt.
Seit dem 14. Februar 2019 gibt es in Italien ein neues Insolvenzgesetz (C.C.I.I.),21 das als Zugangsvoraussetzung zu bestimmten Sanierungsmaßnahmen unter anderem eine Definition des Krisenzustands enthält.22 Der italienische Gesetzgeber versteht den Krisenzustand demnach als „Wahrscheinlichkeit zukünftiger Zahlungsunfähigkeit“ (probabilità di futura insolvenza). In der Umsetzung des Ermächtigungsgesetzes23 wurde der Begriff der Krise detaillierter herausgearbeitet und definiert sich als jedes ökonomisch-finanzielle Ungleichgewicht,24 das die Insolvenz des Schuldners wahrscheinlich macht.25 Bei Unternehmen nennt das C.C.I.I. den für die ordnungsgemäße Tilgung der geplanten Verbindlichkeiten unzureichenden künftigen Liquidationszufluss.26 Ein Krisenindikator27 ist beispielsweise das (unter Berücksichtigung des Unternehmensgegenstandes, des Zeitraums des Bestehens sowie ggf. geeigneter Indikatoren für die Nachhaltigkeit des Geschäfts) Ungleichgewicht im Einkommens-, Vermögens- oder Finanzierungsbereich.28 Auch wiederholte und signifikante Fälle von Zahlungsverzug gehören zu den Indikatoren einer Krise.29 Zwar ist in den vorgenannten Definitionen und Kriterien die – auch bezweckte – Betonung des vor die Insolvenz gelagerten Charakters des Krisenzustands oder dessen Indikatoren zu erkennen.30 Zur Erfassung von distressed M&A-Transaktionen dürfte insbesondere der Begriff der Krise noch etwas zu eng sein. Auch ein Zustand, in dem eine Zahlungsunfähigkeit noch nicht wahrscheinlich ist, kann als Fall einer distressed M&A-Transaktion wahrgenommen werden. Zudem ist nicht zwingend davon auszugehen, dass sich bereits Vermögens- oder Einkommensungleichgewichte oder wiederholt vorkommende Fälle von Zahlungsverzug erkennen lassen.
Außerhalb der Insolvenzordnung gibt es im deutschen Recht mehrere Tatbestände, die für die Identifizierung einer Krise von Bedeutung sind. Beispiele sind die Unterbilanz i. S. d. § 30 Abs. 1 GmbHG, „Risiken“ in §§ 289 Abs. 1, 315 Abs. 1, 317 Abs. 2 HGB31 oder die (fort-)bestandsgefährdenden Tatsachen gemäß § 321 Abs. 1 S. 3 HGB32 oder § 91 Abs. 2 AktG33.
Zudem hatte die Rechtslehre und die Rechtsprechung in Deutschland für die Legaldefinition der Krise einer GmbH i. S. d. § 32a GmbHG a. F.34 das rechtliche Kriterium der Kreditunwürdigkeit herausgearbeitet. Diese sollte dann vorliegen, wenn eine Gesellschaft von einem Dritten keinen zur Fortführung der Gesellschaft notwendigen Kredit zu marktüblichen Bedingungen erhalten würde und ohne Kapitalzufuhr (der Gesellschafter) liquidiert werden müsste.35
Diese Tatbestände sind jedoch einzeln genommen zu eng und zu spezifisch, um alle Fälle einer distressed M&A-Transaktion zu erfassen. In ihrer Gesamtschau hätten diese Tatbestände vermutlich einen kaum existenten Anwendungsbereich. Die Kreditunwürdigkeit wäre zudem ein nur schwer festzulegender Zustand, sodass hier erhebliche Rechtsunsicherheit bestünde36 und im Zweifelsfall ein Nachweis erforderlich wäre. Aufgrund der damit verbundenen Beweisschwierigkeiten ist dieses Kriterium – trotz von der Rechtsprechung anerkannter Indizien – für die hier vorzunehmende Abgrenzung nicht geeignet.
3. Betriebswirtschaftliche Krise
Grundsätzlich versteht man unter einer Krise im betriebswirtschaftlichen Sinne einen Zustand, der die Existenz eines Unternehmens bedroht.37 Eine Krise wird dabei nach ihrem typischen Verlauf in die folgenden (Grund-)Stadien unterteilt:38
• Strategische Krise
• Erfolgskrise
• Liquiditätskrise
Der IDW S 639 nimmt eine etwas detailliertere Unterteilung vor und unterscheidet zwischen den folgenden fünf bzw. sechs Krisenstadien:40
• Stakeholder-Krise
• strategische Krise
• Produkt- und Absatzkrise
• Erfolgs- bzw. Ergebniskrise
• Liquiditätskrise
• (Insolvenz)
Zur genaueren Abgrenzung können Krisen – neben dem Krisenstadium – auch nach den folgenden Kategorien abgegrenzt werden:41
• Krisenursprung42
• Exogene Ursachen
• Endogene Ursachen
• Krisenart
• Existenzbedrohende Krise
• Existenzvernichtende Krise
Schon allein aufgrund der weiten Fassung der betriebswirtschaftlichen Definition der Krise ist diese für sich genommen wenig geeignet, um den Begriff der Transaktionen von Unternehmen in distress einzugrenzen. Nicht jede Existenzbedrohung, insbesondere im Anfangsstadium, rechtfertigt die Annahme, es handele sich um die Übertragung eines Betriebes in bzw. aufgrund des financial distress. Zudem sind nicht alle Unternehmenskrisen unmittelbar existenzgefährdend und treten in der Regel weit vor dem Vorliegen insolvenzrechtlicher Tatbestände ein.43
4. Fachliteratur
In der deutschsprachigen Fachliteratur sind beispielsweise nach Weigert unter dem Begriff distressed M&A Übernahmen von Unternehmen zu verstehen, die sich in „einer nachhaltigen Ergebniskrise, Liquiditätskrise oder der Insolvenz befinden“44. Auch wenn dieser Ansatz der Zielrichtung dieser Abhandlung schon ziemlich nahe kommt, ist er noch nicht ganz passend. Probleme ergeben sich insbesondere im Hinblick auf die genannten Krisenstadien. Für eine distressed M&A-Transaktion dürfte in Einzelfällen bereits eine entsprechend ernstzunehmende Absatzkrise oder gar strategische Krise ausreichen, also vorgelagerte Krisenstadien. Das Erfordernis der Nachhaltigkeit ist zum einen nur schwer einzugrenzen, zum anderen sind auch nur kurzfristige Krisen geeignet, um eine Unternehmensübertragung in eine distressed M&A-Landschaft einzubetten.
In der italienischsprachigen Literatur wird der englische Terminus distressed M&A eher zurückhaltend verwendet. Hier sind vielmehr die Begriffe Krise (crisi) und Insolvenz (insolvenza) zu finden. Dabei wird die Krise bspw. als Oberbegriff für ein Missverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben, d. h. ein Operieren unterhalb der Wirtschaftlichkeit45 verwendet. Auch ein Vermögenszustand, der in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht ein Insolvenzrisiko darstellt,46 gilt als Krise. Eine solche Definition entspricht weitestgehend dem insolvenzrechtlichen Verständnis einer Krise und ist für das vorliegende Thema etwas zu eng. Wie bereits dargestellt, bedarf es für die Annahme einer distressed M&A-Transaktion nicht zwingend eines Insolvenzrisikos oder fehlender Wirtschaftlichkeit.
5. Eigener Ansatz
Nach Auffassung des Autors wäre eine mögliche, für die vorliegende Arbeit zutreffende Definition des Begriffs distressed M&A die folgende:
„Die Gesamtheit von Erwerbsvorgängen von Geschäftsanteilen an oder Vermögensgegenständen von Unternehmen oder Betrieben, die sich vor dem Hintergrund liquider oder finanzieller Schwierigkeiten des Zielunternehmens abspielen und von diesen ganz oder vordergründig motiviert sind.“
Diese Definition unterscheidet sich von den vorgenannten insbesondere darin, dass die Krisensituation als Auslöser bzw. (Mit-)Grund für die konkrete Transaktion in die Beschreibung aufgenommen wird. Sie konvergiert in etwa mit der fortgeschrittenen Krise, wie sie bei Gottwald beschrieben wird.47 Zwar ist die Definition der Unternehmenskrise („Zustand […], in der (sic!) es der Unternehmensleitung nicht mehr gelingt, durch geeignete Entscheidungen im Investitions- und Finanzbereich den Unternehmensgesamtwert zu steigern oder auf dem einmal erreichten Niveau zu halten“) noch zeitlich zu weit nach vorne gelegt. Das Kriterium der Notwendigkeit von corrective actions (d. h. Maßnahmen, die ohne die Krise nicht getroffen worden wären), welche wiederum den financial distress belegt, ist weitaus treffender.
Ein distressed M&A-Vorgang ist mit anderen Worten immer dann gegeben, wenn der Verkauf von der Krise derart motiviert war, dass er ohne sie nicht oder nicht in der Form stattgefunden hätte.
6. Verwendung in der Praxis
Das vorgefundene Ergebnis wird von der Verwendung in der Praxis bestätigt. Dort wird der Begriff vorwiegend genutzt, um Szenarien des Verkaufs von Unternehmen vor dem Hintergrund einer finanziellen Krisensituation zu erfassen.48 Dabei kann die finanzielle Krise, die den Verkäufer zur Veräußerung bewegt oder gar zwingt, vorinsolvenzrechtlich sein oder bereits zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens geführt haben.49
Details
- Seiten
- 414
- Erscheinungsjahr
- 2023
- ISBN (PDF)
- 9783631908389
- ISBN (ePUB)
- 9783631908396
- ISBN (Paperback)
- 9783631899274
- DOI
- 10.3726/b21171
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2023 (November)
- Schlagworte
- Insolvenz Rechtsvergleichung Share Deal Asset Deal Sanierung
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 414 S., 2 farb. Abb.